Hannah Arendt über die Natalität bzw. das Geborensein: „Dass man in der Welt Vertrauen haben und dass man für die Welt hoffen darf, ist vielleicht nirgends knapper und schöner ausgedrückt als in den Worten, mit denen die Weihnachtsoratorien „die frohe Botschaft“ verkünden: „Uns ist ein Kind geboren.““

Über das Geborensein (Natalität)

Von Hannah Arendt

Das Wunder, das den Lauf der Welt und den Gang menschlicher Dinge immer wieder unterbricht und von dem Verderben rettet, das als Keim in ihm sitzt und als „Gesetz“ seine Bewegung bestimmt, ist schließlich die Tatsache der Natalität, das Geborensein, welches die ontologische Voraussetzung dafür ist, daß es so etwas wie Handeln überhaupt geben kann. (Daher liegt die spezifisch politisch-philosophische Bedeutung der Geschichte Jesu, deren religiöse Signifikanz natürlich die Auferstehung von den Toten betrifft, in dem Gewicht, das seiner Geburt und Gebürtlichkeit beigelegt wird, so daß etwa Johann Peter Hebel auch den Christus, der als Auferstandener „vom Himmel herabschaut und unsere Wege beobachtet“, noch den „Geborenen“ nennen kann, und zwar deswegen, weil er nur als ein „Geborener lebt“.) Das „Wunder“ besteht darin, daß überhaupt Menschen geboren werden, und mit ihnen der Neuanfang, den sie handelnd verwirklichen können kraft ihres Geborenseins. Nur wo diese Seite des Handelns voll erfahren ist, kann es so etwas geben wie „Glaube und Hoffnung“, also jene beiden wesentlichen Merkmale menschlicher Existenz, von denen die Griechen kaum etwas wußten, bei denen Treu und Glauben sehr selten und für den Gang ihrer politischen Angelegenheiten ohne Belang waren und die Hoffnung das Übel aus der Büchse der Pandora, welche die Menschen verblendet. Daß man in der Welt Vertrauen haben und daß man für die Welt hoffen darf, ist vielleicht nirgends knapper und schöner ausgedrückt als in den Worten, mit denen die Weihnachtsoratorien „die frohe Botschaft“ verkünden: „Uns ist ein Kind geboren.“

An der Natalität sind alle Tätigkeiten gleicherweise orientiert, da sie immer auch die Aufgabe haben, für die Zukunft zu sorgen, bzw. dafür, daß das Leben und die Welt dem ständigen Zufluß von Neuankömmlingen, die als Fremdlinge in sie hineingeboren werden, gewachsen und auf ihn vorbereitet bleibt. Dabei ist aber das Handeln an die Grundbedingung der Natalität enger gebunden als Arbeiten und Herstellen. Der Neubeginn, der mit jeder Geburt in die Welt kommt, kann sich in der Welt nur darum zur Geltung bringen, weil dem Neuankömmling die Fähigkeit zukommt, selbst einen neuen Anfang zu machen, d. h. zu handeln. Im Sinne von Initiative ein initium setzen – steckt ein Element von Handeln in allen menschlichen Tätigkeiten, was nichts anderes besagt, als daß diese Tätigkeiten eben von Wesen geübt werden, die durch Geburt zur Welt gekommen sind und unter der Bedingung der Natalität stehen. Und da Handeln ferner die politische Tätigkeit par excellence ist, könnte es wohl sein, daß Natalität für politisches Denken ein so entscheidendes, Kategorien-bildendes Faktum darstellt, wie Sterblichkeit seit eh und je und im Abendland zumindest seit Plato der Tatbestand war, an dem metaphysisch-philosophisches Denken sich entzündete.

Quelle: Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München-Zürich: Piper, NA 1981, S. 243 und S. 18f.

Hier der Text als pdf.

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