Ernst Wolfs Lexikonartikel „Öffentlichkeitsanspruch der Kirche“ von 1964: „Die Kirche geht grundsätzlich alle an, die ganze Welt, und insofern ist diese ihre ‚Öf­fentlich­keit‘ nichts anderes als die den Kosmos beanspru­chende ‚Öffentlichkeit‘ Christi.“

Öffentlichkeitsanspruch der Kirche

Von Ernst Wolf

1. Daß die Formulierung Öffentlichkeitsanspruch der K. ge­läufig geworden ist, hat das Ende des Staatskirchentums im dt. Protestantismus zur Voraussetzung (wäh­rend im Bereich des außerdt. Protestantismus, auch im skandinavischen Luthertum, die öffentl. Wirksam­keit der K. eine weit größere Selbstverständlichkeit gewesen ist). Es drückt sich daher in der Wendung Öffentlichkeitsanspruch zunächst ein relativ neues Selbstbewußtsein der K. aus. Mit dem Auf­bau prot. Landes-K. im 16. Jh. ist die öffentl. Wirksamkeit der K. sehr bald zu einer Funktion staatl. Inanspruch­nahme der K. für versch. staats-, soz.- und kulturpol. Aufgaben geworden, bes. im Zeitalter der Auf­klärung. Das Ende des landesherrl. Oberbischofs­amtes und verwand­ter Formen staatl. bestimmter Kleitung hat die K. in ein neues und freieres Verhält­nis zu den Vorgängen und Einrichtungen, Aufgaben und Nöten des öffentl. Lebens gerückt.

2. Der Öffentlichkeitsanspruch der K. hat aber auch einen tieferen, theol. zu erfassenden Grund: die christl. K. war von Anbeginn an ein „öffentl. Körper“ und nicht ein priv. Kultver­ein. Sie hat es im Röm. Reich z. B. vermieden, sich mit den Namen der griech. oder röm. Kult­genossenschaften zu benennen, die vereinsrechtl. Charakter trugen. Sie blieb „ecclesia“, d. h. Volksversammlung öffentl.-rechtl. Charakters, und zwar Volksversammlung des Volkes Gottes oder „Leib“ Chr., zu dem er das Haupt ist, und zwar welt­erfüllender Leib Chr. Daß die K. in neuzeitl. Staats­wesen vielfach rechtl. als Körperschaft öffentl. Rechts gefaßt wird, be­deutet u. a. auch eine gewisse An­erkennung dieser ihr wesensmäßig zukommenden „Öffent­lichkeit“. Die K. geht grundsätzlich alle an, die ganze Welt, und insofern ist diese ihre „Öf­fentlich­keit“ nichts anderes als die den Kosmos beanspru­chende „Öffentlichkeit“ Christi. Insofern bedeutet Öf­fentlichkeitsanspruch der K. der Sache nach das ent­schiedene Geltend­machen des Öffentlichkeitsauftrags der Christenheit überhaupt im Sinn des sog. Missions­befehls von Mt. 28, 18 ff. auf Grund der unbeschränk­ten Vollmacht Chr. „im Himmel und auf Erden“. Mit ihrem Öffentlichkeitsanspruch kann aber die K. nichts für sich, soll sie vielmehr alles für ihren Herrn bean­spruchen wollen. Ihre Verantwortung für die Welt ist entgegen häu­figen Zurückweisungen keine angemaßte, auch keine irgendwie herrscherliche (wie z. B. in der Zweischwertertheorie des ma. Papsttums), wohl aber eine ihr unveräußerl. auferlegte.

3. Nur mit gewissen Einschränkungen wird man erste Äußerungen des Öffentlichkeitsan­spruchs der K., von dem heute die Rede ist, im dt. Protestantismus in den Anfängen der Inne­ren Mission (Wichern) um die Mitte des 19. Jh.s erkennen; ebenso im Ev.-soz. und im Kirchl.-soz. Kongreß. Sie verselbständigten sich staatl. Zulassung oder Lenkung gegenüber nach dem ersten Weltkrieg und im Zusammenhang mit der durch die Stockholmer Konferenz (1925) begonnenen ökumenischen Inangriffnahme der Fragen des öffentlichen Daseins und der soz. Nöte. Die Aus­einandersetzung der K. mit dem Staat im Kirchen­kampf während des Dritten Reiches hat unter dem Titel des „Wächteramts“ der K. den Öffentlichkeits­anspruch der K. klar herauszustellen begonnen. Dabei wurde gegenüber z. T. nicht ganz unberechtigten Vor­würfen, daß es der K. um pol. Macht gehe, das ihr auferlegte Zeugnis für die Königsherr­schaft Chr, über die Welt betont. So in der Barmer Theol. Erklärung von 1934 (These 2, 5 u. 6). Demgemäß hat die Be­kennende K. zu den verschiedensten Fragen staatl. Handelns und soz.-, rassen- und kulturpol. Maßnah­men vom Wort Gottes her Stellung zu nehmen ver­sucht. Sie hat jedenfalls nicht geschwiegen. So z. B. schon seit 1933 wiederholt in der Frage der Vergöt­zung von Staat und Volkstum, in der Judenfrage mit versch. Erklärungen einzelner Gruppen und Syn­oden, 1934 in der Frage des Beamteneides mit einem Wort der Vorläufigen Leitung der DEK von bleiben­der Bedeutung, zusammenfassend in der Denkschrift der Vor­läufigen Leitung vom Mai 1936 und den da­mit zusammenhängenden Kundgebungen zur nationalsozialistischen Kirchen- und Gesamtpolitik und weiterhin zu einer großen Anzahl pol. Maßnahmen. Neben Denkschriften, Synodal- und Kanzelerklärungen stehen Briefe und Memoran­den der Vorläufigen Leitung, einzelner Bischöfe (vor allem später Bischof Wurm), Pfarrer und Laien zur Tätigkeit der Geheimen Staatspolizei, zur Einrichtung von Konzentra­tionslagern, zur Methode der sog. Wahlen, zur Tötung „lebensunwerten Lebens“ u.a.m. von mehr oder minder klarer Eindeutigkeit. Die Ge­betsanweisung der Vorläufigen Leitung aus Anlaß drohender Kriegsgefahr im September 1938 ist der Vorläufer der späteren kirchl. Frie­densmahnungen.

Nach 1945 ist die Wahrnehmung des Öffentlichkeits­anspruchs der K. durch kirchl. „Worte“ der Synode der EKD, des Reichsbruderrats, der versch. K.leitungen fortgeführt worden, wie etwa mit der Stutt­garter Schulderklärung vom 19. 10. 1945, Aufforderungen zur Mitarbeit beim polit. Neubau (Darmstädter Wort des Reichsbruderrates), Er­klärungen und Schreiben an die Besatzungsmächte zur Frage der Spaltung Deutschlands und des Frie­densvertrags, der sog. Entnazifizierung, des Mitbe­stimmungsrechts, der Wiederbewaffnung, des La­stenaus­gleichs, aber auch des Menschen überhaupt, des Rechts, der Freiheit, des Antisemitismus und der kirchenpol. Maßnahmen in der DDR, zu­letzt zur Außenministerkonferenz im Jan. 1954 und zur Frage der Familie und Schule. Daneben führte die Aufgabe der Wahrnehmung des Öffentlich­keitsanspruchs zu einer Reihe von Einrichtungen wie z. B. Ev. Akademien, Kam­mern und Ausschüsse für öffentl. und soz. Angelegenheiten beim Rat der EKD und bei ver­sch. Kirchenleitungen, Hilfswerk der EKD, Kirchentag, Sozialakademien, Männer­werk, Einrichtungen zur Mitarbeit an Presse, Film und Rundfunk.

Der Ökumenische Rat der Kirchen hat ebenfalls in den letzten Jahren die durch intensive Studienarbeit vorbereitete und durch einzelne Aktionen bereits be­währte Übung des Öffent­lichkeitsanspruchs der K. durch den Aufbau bes. Arbeitsorgane erhebt, ver­stärkt: Abt. für Zwischenkirchl. Hilfe und Flücht­lingsdienst, Ausschuß der K. für internat. Angelegen­heiten, Ausschuß für europ. Zusammenarbeit. Da­neben geht die Arbeit der Studienabt. zur grund­sätzl. Klärung der aus dem Verhältnis von K. und Welt sich ergebenden Fragen weiter.

4. Im röm. Katholizismus der Gegenwart findet der Öffentlichkeitsanspruch einen z.T. selbst als neu empfundenen programmat. Ausdruck in den päpstl. Soz.rundschreiben von Leo XIII. (Rerum novarum, 1891) und Pius XI. (Quadragesimo anno, 1931) bis Johannes XXIII. (Mater et Magistra, 1961) und in anderen verwandten Äußerungen (Pfingstbotschaft Pius XII., 1941). Es fällt auf, daß dabei wiederholt das Recht der K. dazu nachdrücklich betont wird, die kath. Soz.lehre in dieser direkten Weise geltend zu machen.

Lit.: H. Thielicke, Kirche und Öffentlichkeit (1947). — E. Wolf, Die christl. Existenz in der Ges., Jg. K. H. 1-2 (1953). — H. Gollwitzer, Die Christi. Gemeinde in der pol. Welt (1954). — W. Jannasch, Dt. K.dokumente (1946). — W. A. Visser’t Hooft, Holländische K.do­ku­mente (1944). — Nor­wegische K.dokumente (1942). — Kirchl. Jb. für die EKD, hrsg. von J. Beckmann (1933-1944: 1948; 1945-1948: 1950; 1949: 1950. seitdem jährl.). — G. Heidt­mann, Hat die K. geschwiegen ? Das öffentl. Wort der Ev. K. in den Jahren 1945-1954 (1954). — H. Diem, K. und Entnazifizierung (1946). — Chr. Berg, Auftrag und Gestalt des Hilfswerks der EKD (1947). — H. Schmidt, Die Judenfrage und die christl. K. in Deutsch­land (1947). — K. Barth, Eine Schweizer Stimme 1938-1945 (1945). — H.-D. Wendland, Die K. in der modernen Ges. (1956). — E. Wolf, K. und Öffentlichkeit, in: Christl. Glaube und pol. Entscheidung, hrsg. v. d. Arbeits­gemeinschaft Soz.demokr. Akademiker (1957). — P. Jostock, Die soz. Rundschreiben (1961)3. — Utz-Groner, Aufbau und Entfaltung des gesellschaftl. Lebens. Soz. Summe Pius XII., 3 Bde. (1954-1961). — E. Welty (Hrsg.), Die Soz.enzyklika Papst Johannes XXIII. Herder Bücherei 110 (1962)2. — J. Hünermann, Die soz. Gerechtigkeit (zu Mater et Magistra, 1962).

Quelle: Friedrich Karrenberg (Hrsg.), Evangelisches Soziallexikon, Stuttgart: Kreuz-Verlag, 41963, Sp. 681-683.

Hier Wolfs Artikel als pdf.

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