Von Wolfgang Huber
1. Begriff der Öffentlichkeit
„Ö.“ist in der deutschen Sprache ein Kunstwort des späten 18. Jh.s. Es gehört zu den Neubildungen dieser Schwellenzeit, die auf die politisch-gesellschaftlichen Verschiebungen der Neuzeit reagieren. In dieser Zeit tritt die bürgerliche Gesellschaft als eigenständige Größe zwischen die Sphären des Staates auf der einen, des Hauses auf der anderen Seite.
Die Bipolarität von Staat und Haus, von polis und oikos, von praxis im politischen Gemeinwesen und poiesis in der wirtschaftlich-familiären Einheit des Hauses bestimmte die Lebenswirklichkeit wie die Theoriebildung seit den Stadtstaaten der griechischen Antike. Ihr entspricht ein Sprachgebrauch, der zwischen dem Politischen und dem Öffentlichen nicht unterscheidet. Auch die römische Antike differenziert nicht zwischen diesen beiden Perspektiven, wie die Rede von der res publica, der Republik, zeigt.
Die christliche K., die in ihren Anfängen weithin auf die Sphäre des Hauses beschränkt war, musste sich im Lauf der ersten christlichen Jahrhunderte mühsam den Weg zur Anerkennung ihres politisch-öffentlichen Anspruchs bahnen. Die daraus entstehenden Konflikte wurden in der Lehre von den zwei Schwertern in ein durchaus realistisches Bild gebracht. Dass die Verantwortung der K. sich weiterhin auf das Haus genauso bezog wie auf den Staat, kam in den Konzeptionen zum Ausdruck, die eine dreifache Gliederung des Gemeinwesens enthielten. Unter ihnen ist die Lehre von den drei Ständen – politia, oeconomia, ecclesia – die auch für den Protestantismus folgenreichste geworden.
Im Übergang zur Neuzeit ergibt sich eine doppelte Verschiebung: Einerseits emanzipiert sich die Wirtschaft vom Haus und wird zu einer eigenständigen gesellschaftlichen Größe; der Begriff der National-Ökonomie kommt auf. Andererseits weitet der Staat seine Funktionen so aus, dass er das Funktionieren dieser von Grund auf veränderten Ökonomie sicherzustellen vermag; der moderne, die legitime Gewaltausübung monopolisierende Staat entsteht. Das Resultat dieser Verschiebungen ist etwas, das es in vergleichbarer Form zuvor nicht gab: die Gesellschaft.
H. Arendt hat diese Entstehung der Gesellschaft als eine Zerstörung des öffentlichen Raums beschrieben. Nach ihrer Auffassung ist der Begriff des Öffentlichen durch seinen Gegensatz zum Privaten konstituiert. Diese Entgegensetzung aber hat ihre geschichtliche Basis im Gegenüber von polis und oikos. Die polis ist der Raum eines gemeinsamen Handelns auf der Basis der Gleichheit. Der oikos ist derjenige Bereich, in dem sich die Ungleichheit der Menschen entfalten kann. Indem die Gesellschaft als eine eigenständige Größe entsteht und im öffentlichen Bereich den Vorrang beansprucht, lösen sich die Bedingungen gemeinsamen Handelns auf; an seine Stelle tritt bloßes „Sich-verhalten“. Da die modernen Massengesellschaften keinen Raum mehr für praxis im emphatischen Sinn des Wortes lassen, zerfällt der öffentliche Raum.
Eine Einseitigkeit dieser Überlegung lässt sich schon daran verdeutlichen, dass „öffentlich“ keineswegs nur ein Gegenbegriff zu „privat“, sondern ebenso zu „geheim“ ist. An diesem Aspekt orientieren sich die Entwicklungen, an denen J. Habermas den „Strukturwandel der Ö.“ beschrieben hat. Dieser Strukturwandel vollzieht sich vor allem im Zeitalter der Aufklärung. Entscheidend ist, dass sich ein eigenständiger Begriff der Ö. überhaupt erst angesichts der Differenzierung von Staat und Gesellschaft bildet. Vier Bedeutungsstränge von „Ö.“ treten im Lauf der Begriffsgeschichte in den Vordergrund.
1.1. Im 18. Jh. gewinnt zunächst, vor der Einführung des Substantivs „Ö.“, das Adjektiv „öffentlich“ an Boden. Es wird dabei vorrangig synonym mit „staatlich“ verwendet. Diesem Wortgebrauch entspricht es, dass das Staatsrecht in Deutschland seit dem ausgehenden 18. Jh. als „öffentliches Recht“ bezeichnet wird.
1.2 Doch ebenfalls bereits im 18. Jh. bahnt sich ein Sprachgebrauch an, der als öffentlich dasjenige bezeichnet, was dem Interesse aller Mitglieder einer Sozietät entspricht und den Nutzen aller Einzelnen zu fördern vermag. Dieser Ö.sbegriff ist nicht an der Hoheitsgewalt des Staates, sondern an der Gesellschaft als dem System der Bedürfnisse der einzelnen Gesellschaftsmitglieder orientiert. Infolgedessen werden gerade diejenigen »»Institutionen als öffentlich angesehen, in denen sich die Bedürfnisse der Gesellschaftsmitglieder organisieren und artikulieren: Unternehmen und Verbände, Parteien und Medien. Ö. konstituiert sich durch denjenigen Austausch, der durch die Bedürfnisse und Interessen der Gesellschaftsglieder gesteuert wird. Der Markt, auf dem Güter ausgetauscht werden, gewinnt eine Führungsrolle für diesen Aspekt der Ö.
1.3 Doch zugleich wird geltend gemacht, dass Ö. mehr ist als die Summe privater Interessen. Das Öffentliche hat einen konstitutiven Bezug auf das Allgemeine, also allen Gemeinsame. Die gemeinsamen Verhältnisse, Rechte und Pflichten, Bedürfnisse und Interessen einer Gesellschaft gelten als öffentlich.
1.4 Diese aufs Allgemeine gerichtete Ö. ist auf eine öffentliche Meinung angewiesen. Auf dieser Ebene meint Ö. gestaltete Publizität. Das ist weit mehr als der Bereich der Massenmedien und der medialen Kommunikation im technischen Sinn. Ö. in diesem Sinn umfasst vielmehr den Gesamtbereich kultureller Kommunikation, durch welche Menschen sich einen Begriff des Allgemeinen bilden und sich über ihren je besonderen Ort in diesem Allgemeinen verständigen.
Die systematische Struktur dieser Unterscheidung zwischen vier Aspekten von Ö. lässt sich durch einen Vergleich mit T. Parsons Theorie des sozialen Handelns verdeutlichen. Parsons sieht das Sozialsystem in vier Subsysteme gegliedert: Das kultur- und vertrauensbildende System (fiduciary system) nimmt die Funktion der Strukturerhaltung wahr; das Wirtschaftssystem (economy) erfüllt die adaptive Funktion; das politisch-rechtliche System (polity) dient der Zielerreichung; das System der sozialen Gemeinschaft (societal community) bewerkstelligt die Integration. Diese vier Subsysteme erweisen sich als vier Referenzbereiche von Ö. in dem gerade beschriebenen Sinn.
2. Plurale Öffentlichkeiten
In allen vier Referenzbereichen ist die neuzeitliche Entwicklung durch Pluralisierungsschübe gekennzeichnet. Pluralität wird in all diesen vier Bereichen in spezifischer Weise gestaltet.
2.1 Der demokratische Rechtsstaat zielt darauf, die Entfaltung von Pluralität möglich zu machen. Sein freiheitlicher Charakter zeigt sich gerade daran, dass er das Zusammenleben der Verschiedenen sichert. Dem dient der staatliche Schutz der Grundrechte, die in eins mit der Gleichheit vor dem Gesetz auch die freie Entfaltung der Persönlichkeit gewährleisten sollen. Der Sinn der Rechtsordnung besteht darin, genau dasjenige Maß an für alle Verbindlichem festzulegen, das die Pluralität lebbar macht. Deshalb ist die Rechtsordnung zugleich dazu verpflichtet, sich mit denjenigen Freiheitseinschränkungen zu begnügen, die um der Freiheit selbst willen notwendig sind.
Eine bewusste und konsequente Weiterführung dieser Gestaltungsform von Pluralität auf der Ebene staatlichen Lebens würde heute auf eine Stärkung der Grundrechtsorientierung des Staates, auf eine Dezentralisierung staatlicher Machtausübung im Interesse der Mitwirkungsmöglichkeiten der Betroffenen und auf eine Erweiterung der partizipatorischen Momente des politischen Prozesses zielen. Schon auf dieser staatlichen Ebene gilt heute, dass Ö. nicht mehr auf den Bereich eines Nationalstaates begrenzt werden kann, sondern diesen übergreift. Ö. ist tendenziell Weltö.
2.2 Die Ö. der Wirtschaftsgesellschaft wird durch den Eigensinn und den Wettkampf konkurrierender Interessen bestimmt. Dieser Wettkampf bezieht sich zum einen auf die gegenläufigen Interessen von Kapital und Arbeit und äußert sich in den dadurch ausgelösten Verteilungskämpfen. Er bezieht sich zum andern auf die Konkurrenz von Anbietern um die Kaufbereitschaft von Konsumenten. Auch in diesem Fall ist der Bezugshorizont dieser Entwicklungen die Weltgesellschaft im Ganzen; das wird mit dem Begriff der Globalisierung bezeichnet.
Eine bewusste und konsequente Gestaltung von Pluralität im Bereich des Marktgeschehens müsste auf eine weiterreichende Demokratisierung von Unternehmensmacht und damit eine demokratieverträgliche Gestaltung der Wirtschaft zielen. Sie hätte zudem zur Voraussetzung, dass der Marktmechanismus nicht die unumschränkte Führungsrolle in der Konstitution von Ö. erhält, sondern durch politisch gesetzte Rahmenbedingungen ebenso begrenzt wird wie durch die Selbständigkeit zivilgesellschaftlicher Assoziationen und die Eigenständigkeit kultureller Kommunikation. Eine unumschränkte Führungsrolle der Wirtschaft für die Konstitution von Gesellschaft im Ganzen hat nämlich eine ungehemmte Individualisierung der Lebensformen und eine Aufzehrung derjenigen Solidarität zur Folge, die das notwendige Gegengewicht zur Individualisierung des menschlichen Selbstverständnisses darstellt.
2.3 Unter anderem im Zusammenhang mit der Wende in Mittel- und Osteuropa wurde die Eigenständigkeit der Zivilgesellschaft im Gegenüber zu den Ansprüchen des Staates neu wahrgenommen. Eine diskursive, auf den freien Austausch von Argumenten ausgerichtete Ö. kann, so zeigte sich, nur entstehen, wenn sich freie, staats-unabhängige Vereinigungen bilden und ihre Unabhängigkeit vom Staat auch gegen Anfeindungen und Repression selbstbewusst durchhalten.
Auch aus anderen Gründen ist die Wiederentdeckung der Zivilgesellschaft für die Konstitution von Ö. wichtig. Die Aufgabe, die Herrschaftsansprüche des Marktes zu begrenzen, erfordert nicht nur eine klare politische Rahmensetzung, sondern zugleich eine öffentliche Diskussion darüber, worin die universalistischen, an den gemeinsamen Interessen aller orientierten Prinzipien bestehen, die der Selbstdurchsetzung der wirtschaftlichen Interessen grenzziehend entgegentreten müssen.
Hinzu kommt die Einsicht, dass sich die Urteilsfähigkeit und damit auch die Fähigkeit der Einzelnen zur Teilnahme an der Ö. in aller Regel in überschaubaren Gruppierungen bildet, die sich auf eine gemeinsame Interpretation der Wirklichkeit verständigen, die ihre Aufmerksamkeit auf bestimmte Aufgaben in dieser Wirklichkeit konzentrieren und gerade so zu einer reicheren und gehaltvolleren Wahrnehmung der allen gemeinsamen öffentlichen Aufgaben beitragen. In Interpretationsgemeinschaften bilden sich unsere Auffassungen von Würde, unsere Gedanken über ein gutes und gelingendes Leben, unsere Verpflichtungen zur Anerkennung der anderen und zum Respekt vor den Fremden.
Der Raum des Öffentlichen, in dem die allen gemeinsamen Aufgaben artikuliert werden und um ihre Lösung gestritten wird, bildet sich also durch die Interaktion zwischen einer Vielzahl von Gemeinschaften. In diesem Sinn ist die Ö. eine „community of communities“ (R.E. Bernstein), ein „Handlungsraum von Handlungsräumen“ (M. Walzer), eine „Ö. von Ö.en“. Diese Einsicht wird vor allem von denjenigen kommunitaristischen Theoretikern vertreten, die das liberale Projekt universalistischer Grundrechte mit der Einsicht verknüpfen, dass sich das Identitätsbewusstsein von Menschen wie ihre Vorstellung vom guten Leben nicht in isolierter Individualität, sondern in der Zugehörigkeit zu einer Mehrzahl von Interpretationsgemeinschaften bildet.
2.4 Es gibt Gestaltungsformen der Zivilgesellschaft, die auf einer weitgehenden kulturellen Homogenität aufruhen, sich also im Rahmen einer kulturell monozentrischen Situation entfalten. Sie repräsentieren eine gemäßigte Form des Pluralismus. Dieser gemäßigte Pluralismus ist zum einen durch die Erosionsprozesse gefährdet, die mit den Individualisierungsschüben der Gegenwart verbunden sind. Er ist zum andern aber vor allem durch die radikalere Form der kulturellen Pluralität moderner Gesellschaften herausgefordert. Beide Entwicklungen nötigen dazu, der kulturellen Kommunikation als eigenständigem Referenzbereich von Ö. besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden.
3. Öffentliche Kirche
Dass die K. Jesu Christi eine öffentliche Größe ist, dass sie in der Ö. wirkt und einen Auftrag hat, ist offenkundig, seit es sie gibt. Dieser Ö.sauftrag ist in der biblischen Tradition breit verankert; man kann zum Beleg an das öffentliche Wirken der Propheten ebenso denken wie an wichtige Beschreibungen der K., die in der Ö. der Welt von der in Christus geschehenen Versöhnung Zeugnis ablegt (2. Kor 5,19f.). In eindrucksvoller Bündelung bringt der neutestamentliche Missionsauftrag den öffentlichen Charakter kirchlichen Handelns zum Ausdruck (Mt 28,18-20).
Mission und Ausbreitung des Christentums sind demzufolge in der denkbar umfassendsten Ö. verankert. Sie erhalten ihren Ort in einer Ö., die den Kosmos im Ganzen als Herrschaftsraum Jesu Christi umgreift und alle Zeit bis ans Ende der Welt umfasst. Diese Himmel und Erde umspannende, die Zeit bis an die Grenze der Ewigkeit erfüllende Ö. bildet den Horizont für alles Leben der K., für ihre Verkündigung und ihre Lehre, für ihren Gottesdienst und ihr soziales Handeln. Das ist der für sie verbindliche Ö.shorizont.
Gleichwohl bleibt es der K. nicht erspart, an besonderen Orten heimisch und ihrer jeweiligen Zeit gerecht zu werden. Doch richtet sie sich auf diese Weise in begrenzten sozialen Umwelten ein, so kann diese Anpassung an vorgegebene Ö.en doch immer nur von relativer und vorläufiger Bedeutung sein; gegenüber der säkularen Ö. von Gesellschaft und Staat kennt die K. gerade keine unumschränkte, sondern immer nur eine begrenzte, zur kritischen Prüfung verpflichtende Loyalität.
Das biblische Verständnis vom öffentlichen Auftrag der K. kann der Natur der Sache nach das neuzeitliche aufgeklärte Verständnis von Ö. noch nicht im Blick haben. Die Herausbildung von Ö. im neuzeitlichen Sinn kann jedoch zur Verdeutlichung des Ö.sauftrags der K. kritisch rezipiert werden. Sie verstärkt die Einsicht, dass die Verkündigung der K. den Charakter öffentlicher Kommunikation hat. Sie veranlasst zu der Einsicht, dass kirchliches Handeln nicht auf den innerkirchlichen Bereich beschränkt sein kann. Dabei kann ihr Ö.sauftrag nicht einfach an vorgefundenen gesellschaftlichen Bedürfnissen oder an funktionalen Imperativen des sozialen Systems seinen Maßstab haben; damit würde der christliche Glaube auf zivilreligiöse Funktionen beschränkt. Vielmehr ist die Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders und damit die Orientierung an Glaube, Hoffnung und Liebe im Horizont der Gottesherrschaft der entscheidende Maßstab auch für die öffentliche Wirksamkeit der K. Gerade in diesem Horizont aber erweisen sich das Eintreten für die Wahrheit, der Einsatz für die bessere Gerechtigkeit und die Kultur der Barmherzigkeit als wichtige Leitlinien ihres öffentlichen Handelns.
4. Protestantismus und Öffentlichkeit
Die lange Symbiose zwischen K. und Staat unter dem Dach des landesherrlichen K.nregiments hatte für den deutschen Protestantismus eine Doppelwirkung. Zum einen hatte die Rolle der Landesherren als oberster Bischöfe der evangelischen K.n zur Folge, dass eine eigenständige Funktion der K.n gegenüber der Ö. sich nur in verhaltenen Formen ausbilden konnte. Zum andern aber bewirkte diese staatlich-kirchliche Symbiose, dass auch noch nach ihrem Ende der komplexe Ö.sbezug der K. zumeist nur in dem vereinfachenden Gegenüber von K. und Staat wahrgenommen wurde.
Das zeigt sich beispielhaft an der Barmer Theologischen Erklärung von 1934. Sie konkretisiert die öffentliche Verantwortung der Christen und der K. in ihrer fünften These ausschließlich an den Problemen staatlicher Existenz und am Gegenüber von Staat und K. Obwohl die zweite Barmer These ausdrücklich sagt, dass Jesus Christus als Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden auch Gottes Anspruch auf unser ganzes Leben ist, wurde auch in der Wirkungsgeschichte der Barmer Thesen dieser Anspruch auf „unser ganzes Leben“ zumeist nur auf die Probleme staatlicher Existenz und der damit gegebenen politischen Verantwortung bezogen. Die Probleme einer Gesellschaftsethik, insbesondere die Probleme der Wirtschaftsethik haben deshalb im deutschen Protestantismus nach 1945 nicht die notwendige Aufmerksamkeit gefunden.
Die Konzentration auf das Gegenüber von K. und Staat zeigte sich besonders markant, als im Westen Deutschlands nach 1945 nicht nur die Folgerungen aus dem bereits 1918 eingetretenen Ende des landesherrlichen Summepiskopats, sondern zugleich die Konsequenzen aus den Erfahrungen der Nazi-Diktatur zu verarbeiten waren. Das Resultat der 1945 fälligen Neuorientierung zeigte sich vor allem in zwei Formeln von einprägsamer Kürze. Die eine sprach von der nach der K.nfeindlichkeit des Nazi-Regimes neu errungenen „Partnerschaft zwischen Staat und K.“. Die andere bestand in der nun erst neu geprägten und schnell durchgesetzten Rede vom „Ö.sauftrag“ und vom „Ö.sanspruch“ der K. Inzwischen hat sich jedoch die Einsicht weithin durchgesetzt, dass der Ö.sauftrag der K. nicht nur im Gegenüber zum Staat, sondern zugleich im Blick auf die Gesellschaft geklärt werden muss.
5. Kirche in pluralen Öffentlichkeiten
Geschichtlich existieren die K.n selbst im Plural. Ihre öffentliche Rolle in Deutschland ist wesentlich durch ihre Mehrzahl geprägt. Sie ist historisch dadurch bestimmt, dass zwei große K.n überall, wo sie zugleich präsent waren und anerkannt wurden, mit dem Anspruch auf Parität auftraten; und sie ist dadurch gekennzeichnet, dass die kleineren Glaubensgemeinschaften christlicher wie nichtchristlicher Art, auch soweit ihnen die Rechte von Körperschaften des öffentlichen Rechts zuerkannt wurden, nur einen geringeren Anspruch auf öffentliche Wirksamkeit erheben konnten als die katholische und die evangelische K.
Neben diese äußere tritt eine innere Pluralität der K.n. Im Prozess der Modernisierung hatten auch die K.n an der Pluralisierung gesellschaftlicher Lebenslagen und Orientierungen Anteil. Mit charakteristischen Einschränkungen gilt beispielsweise, dass die Pluralität der in der Gesellschaft vorhandenen ethisch-politischen Orientierungen sich auch in den großen K.n wiederfinden. Darüber lagern sich dann häufig kirchenspezifische Konflikte. Pluralitäten dieser Art können jedoch für die K. keine letzte Gültigkeit haben; sie bilden Zwischenstadien im Streit um die Wahrheit, Etappen auf der Suche nach gemeinsam erkannter und anerkannter Wahrheit. Ein K.nverständnis, das den kirchlichen Pluralismus unabhängig von der Suche nach einer für alle verpflichtenden Wahrheit beschreiben würde, gäbe damit den Wahrheitsbezug des christlichen Glaubens und der kirchlichen Existenz preis. Dieser Wahrheitsbezug nötigt dazu, der Pluralität in der K. nur eine begrenzte und vorläufige Bedeutung zuzuerkennen. Umso dringlicher ist die Frage, über welche Kriterien zum Umgang mit (innerkirchlicher wie gesellschaftlicher) Pluralität die K. verfügt.
Die Deutung der Wirklichkeit im Licht der Gottesbeziehung, die wechselseitige Anerkennung der Menschen, die Hinwendung zu den Schwachen und die bewusste Wahrnehmung menschlichen Lebens inmitten der Schöpfung sind Grundmerkmale für die Existenz des Volkes Israel wie der christlichen K. Im christlichen Glauben tritt die Erneuerung des Gottesverhältnisses durch die Rechtfertigung in Christus allein aus Gnade und allein im Glauben hinzu. Aus diesen Grundmerkmalen ergeben sich Akzente für die Existenz einer öffentlichen K., die im Blick auf die Referenzbereiche pluraler Ö. (in umgekehrter Reihenfolge) skizziert werden sollen.
5.1 Nicht nur die Glieder der K„ sondern alle Menschen sind darauf angewiesen, „in der Wahrheit zu leben“ (V. Havel). Deshalb widerspricht die K. der Tendenz zur kommunikativen Enthaltsamkeit über Wahrheitsfragen, die den gesellschaftlichen Dialog von allen Wahrheitsansprüchen entlasten soll. Vielmehr will sie zu einer Form kultureller Kommunikation beitragen, in der Menschen sich wechselseitig Wahrheitsfähigkeit unterstellen, gemeinsam nach der Wahrheit suchen, unterschiedliche Wahrheitsansprüche austragen und sich dabei in ihrer Würde achten. Im Blick auf alle Menschen tritt die K. für eine unbedingte Achtung ihrer Menschenwürde ein; denn für alle Menschen gilt, dass der Mensch mehr ist, als er selbst aus sich macht.
Die Möglichkeit, „in der Wahrheit zu leben“, hängt entscheidend davon ab, dass der Staat als Rechtsstaat die Freiheit der Wahrheitssuche – also die Freiheit des Gewissens, des Glaubens und der Religion – achtet und darauf verzichtet, bestimmte Formen der Wahrheitserkenntnis staatlich zu privilegieren und andere mit den Mitteln staatlicher Gewalt auszuschließen. Die Bereitschaft der K., zur bewussten Gestaltung von Pluralität beizutragen, verbindet sich deshalb mit einer entschiedenen Stärkung derjenigen Institutionen des freiheitlichen Staates, ohne die das Zusammenleben der Verschiedenen nicht gelingen kann. Das hat die Demokratiedenkschrift der EKD von 1985 zu Recht herausgestellt.
5.2 Wenn die wechselseitige Anerkennung der Menschen als Gleicher gelingen soll, müssen Prozesse der Verständigung darüber organisiert werden, worin die gemeinsamen Interessen der Gesellschaftsglieder bestehen und wie sie gefördert werden können. An diesen Überlegungen beteiligen sich auch die K.n; die Evangelische K. in Deutschland tut dies vor allem in ihren Denkschriften; mit ihnen leistet sie einen Beitrag zur zivilgesellschaftlichen Kommunikation. Ist diese Funktion von Denkschriften erst einmal erkannt, wird es auch möglich, ihr Profil und ihre Resonanz zu erhöhen. Das gemeinsame Wort der K.n zur wirtschaftlichen und sozialen Lage von 1997 ist dafür ein wichtiges Beispiel.
5.3 Prozesse zivilgesellschaftlicher Verständigung zielen darauf, Notwendigkeit und Grenzen marktförmig verfassten Wirtschaftens deutlicher wahrzunehmen, als dies bisher weithin geschieht. Das lässt sich an der Denkschrift der EKD „Gemeinwohl und Eigennutz“ von 1991 illustrieren. Die K. wird sich gerade im Blick auf die Ausübung wirtschaftlicher Macht der Aufgabe einer zugleich differenzierten und klaren Urteilsbildung nicht entziehen können.
5.4 Die K. ist in besonderer Weise im Bereich kultureller Kommunikation verankert und leistet von hier aus einen spezifischen Beitrag zur zivilgesellschaftlichen Verständigung. Doch sie bildet zugleich, gerade in der Bundesrepublik Deutschland, einen wirtschaftlichen Faktor. Und nicht nur durch das Phänomen sich überschneidender Mitgliedschaft, sondern auch durch ihre Beteiligung an sozialstaatlichen Aufgaben und insgesamt durch die ihr aufgegebene kritische Loyalität ist sie mit der Sphäre des Staates verbunden, dessen freiheitlichen und friedensorientierten Charakter sie aus spezifischen Gründen stützt und zu fordern sucht. Der Ö.sauftrag der K. hat insofern mit allen Referenzbereichen von Ö. zu tun.
6. Die Kirche als intermediäre Institution in der Zivilgesellschaft
In der Wendezeit des Jahres 1989 ist den K.n in verschiedenen europäischen Ländern eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe zugewachsen. In der Entwicklung seit 1989 hat die gesellschaftliche Rolle der K.n viel von ihrer Selbstverständlichkeit verloren. Auf beide Entwicklungen müssen die K.n dadurch reagieren, dass sie ihre öffentliche Aufgabe nicht nur im Gegenüber zum Staat, sondern als intermediäre Institution in der Zivilgesellschaft verstehen und wahrnehmen. Ausgehend vom Auftrag der K. zu Verkündigung und Seelsorge, zu Diakonie und Mission lassen sich dabei drei Schwerpunkte erkennen: Die K. hat eine genuine Bildungsaufgabe, die sich nicht auf die Bildungsprozesse in den Gemeinden und in kirchlichen Bildungseinrichtungen beschränkt, sondern das öffentliche Bildungswesen einbezieht. Sie hat eine politische Verantwortung, die sich in ihrem Eintreten für Gerechtigkeit und Menschenrechte, für Frieden und die Bewahrung der Natur konkretisiert. Sie trägt schließlich eine unaufgebbare Verantwortung dafür, dass in der Gesellschaft eine Kultur des Helfens Raum behält und weiterentwickelt wird.
Lit.: H. Arendt, Vita activa oder: Vom tätigen Leben, 1960 – J. Habermas, Strukturwandel der Ö. (1962), 19922 – W. Huber, K. und Ö. (1973), 19912 – M. Honecker, Sozialethik zwischen Tradition und Vernunft, 1977 – L. Hölscher, Ö. und Geheimnis, 1979 – E. Herms, Gesellschaft gestalten, 1991 – W. Vögele, Zivilreligion in der Bundesrepublik Deutschland, 1994 – E. Herms, K. für die Welt, 1995 – W. Huber, K. in der Zeitenwende. Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der K. (1998), 19993 – M. Honecker, Evangelische Christenheit in Politik, Gesellschaft und Staat, 1998.
Quelle: Martin Honecker u.a. (Hrsg), Evangelisches Soziallexikon. Neuausgabe, Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 2002, Sp. 1165-1173.