Wolfgang Hubers Lexikonartikel „Öffentlichkeit und Kirche“ von 2002: „Vielmehr ist die Botschaft von der Recht­fertigung des Sünders und damit die Orientierung an Glaube, Hoffnung und Liebe im Horizont der Gottesherrschaft der entscheidende Maßstab auch für die öf­fentliche Wirksamkeit der Kirche.“

Öffentlichkeit und Kirche

Von Wolfgang Huber

1. Begriff der Öffentlichkeit

„Ö.“ist in der deutschen Sprache ein Kunstwort des späten 18. Jh.s. Es gehört zu den Neu­bildungen dieser Schwel­lenzeit, die auf die politisch-gesellschaftlichen Ver­schiebungen der Neuzeit reagieren. In dieser Zeit tritt die bürgerliche Gesellschaft als eigenständige Größe zwischen die Sphären des Staates auf der einen, des Hauses auf der anderen Seite.

Die Bipolarität von Staat und Haus, von polis und oikos, von praxis im politischen Gemein­wesen und poiesis in der wirtschaftlich-familiären Einheit des Hauses bestimmte die Lebens­wirklichkeit wie die Theoriebil­dung seit den Stadtstaaten der griechischen Antike. Ihr ent­spricht ein Sprachgebrauch, der zwischen dem Poli­tischen und dem Öffentlichen nicht unter­scheidet. Auch die römische Antike differenziert nicht zwischen diesen beiden Perspektiven, wie die Rede von der res publica, der Republik, zeigt.

Die christliche K., die in ihren Anfängen weithin auf die Sphäre des Hauses beschränkt war, musste sich im Lauf der ersten christlichen Jahrhunderte mühsam den Weg zur Anerkennung ihres politisch-öffentlichen An­spruchs bahnen. Die daraus entstehenden Konflikte wurden in der Lehre von den zwei Schwertern in ein durchaus realistisches Bild gebracht. Dass die Ver­ant­wortung der K. sich weiterhin auf das Haus genauso be­zog wie auf den Staat, kam in den Konzeptionen zum Ausdruck, die eine dreifache Gliederung des Gemein­wesens enthielten. Unter ihnen ist die Lehre von den drei Ständen – politia, oeconomia, ecclesia – die auch für den Protestantismus folgenreichste geworden.

Im Übergang zur Neuzeit ergibt sich eine doppelte Verschiebung: Einerseits emanzipiert sich die Wirt­schaft vom Haus und wird zu einer eigenständigen ge­sellschaftlichen Größe; der Begriff der National-Ökonomie kommt auf. Andererseits weitet der Staat seine Funktionen so aus, dass er das Funktionieren dieser von Grund auf veränderten Ökonomie sicherzustellen ver­mag; der moderne, die legitime Gewaltausübung mo­nopolisierende Staat entsteht. Das Resultat dieser Ver­schiebungen ist etwas, das es in vergleichbarer Form zuvor nicht gab: die Gesellschaft.

H. Arendt hat diese Entstehung der Gesellschaft als eine Zerstörung des öffentlichen Raums beschrie­ben. Nach ihrer Auffassung ist der Begriff des Öffentli­chen durch seinen Gegensatz zum Privaten konstituiert. Diese Entgegensetzung aber hat ihre geschichtliche Ba­sis im Gegenüber von polis und oikos. Die polis ist der Raum eines gemeinsamen Handelns auf der Basis der Gleichheit. Der oikos ist derjenige Bereich, in dem sich die Ungleichheit der Men­schen entfalten kann. In­dem die Gesellschaft als eine eigenständige Größe ent­steht und im öffentlichen Bereich den Vorrang bean­sprucht, lösen sich die Bedingungen gemeinsamen Han­delns auf; an seine Stelle tritt bloßes „Sich-verhalten“. Da die modernen Massengesell­schaften keinen Raum mehr für praxis im emphatischen Sinn des Wortes las­sen, zerfällt der öffentliche Raum.

Eine Einseitigkeit dieser Überlegung lässt sich schon daran verdeutlichen, dass „öffentlich“ keineswegs nur ein Gegenbegriff zu „privat“, sondern ebenso zu „ge­heim“ ist. An diesem Aspekt orientieren sich die Ent­wicklungen, an denen J. Habermas den „Strukturwan­del der Ö.“ beschrieben hat. Dieser Strukturwandel voll­zieht sich vor allem im Zeitalter der Aufklä­rung. Ent­scheidend ist, dass sich ein eigenständiger Begriff der Ö. überhaupt erst angesichts der Differenzierung von Staat und Gesellschaft bildet. Vier Bedeutungsstränge von „Ö.“ tre­ten im Lauf der Begriffsgeschichte in den Vordergrund.

1.1. Im 18. Jh. gewinnt zunächst, vor der Einführung des Substantivs „Ö.“, das Adjektiv „öffentlich“ an Boden. Es wird dabei vorrangig synonym mit „staatlich“ ver­wendet. Diesem Wortgebrauch entspricht es, dass das Staatsrecht in Deutschland seit dem ausgehenden 18. Jh. als „öffentliches Recht“ bezeichnet wird.

1.2 Doch ebenfalls bereits im 18. Jh. bahnt sich ein Sprachgebrauch an, der als öffentlich das­jenige be­zeichnet, was dem Interesse aller Mitglieder einer So­zietät entspricht und den Nutzen aller Einzelnen zu fördern vermag. Dieser Ö.sbegriff ist nicht an der Ho­heitsgewalt des Staa­tes, sondern an der Gesellschaft als dem System der Bedürfnisse der einzelnen Gesell­schafts­mitglieder orientiert. Infolgedessen werden ge­rade diejenigen »»Institutionen als öffentlich angese­hen, in denen sich die Bedürfnisse der Gesellschafts­mitglieder organisieren und arti­kulieren: Unternehmen und Verbände, Parteien und Medien. Ö. konstitu­iert sich durch den­jenigen Austausch, der durch die Be­dürfnisse und Interessen der Gesellschaftsglieder ge­steuert wird. Der Markt, auf dem Güter ausgetauscht werden, gewinnt eine Führungsrolle für diesen Aspekt der Ö.

1.3 Doch zugleich wird geltend gemacht, dass Ö. mehr ist als die Summe privater Interessen. Das Öffentliche hat einen konstitutiven Bezug auf das Allgemeine, also allen Gemeinsame. Die gemeinsamen Verhältnisse, Rechte und Pflichten, Bedürfnisse und Interessen einer Ge­sellschaft gelten als öffentlich.

1.4 Diese aufs Allgemeine gerichtete Ö. ist auf eine öf­fentliche Meinung angewiesen. Auf dieser Ebene meint Ö. gestaltete Publizität. Das ist weit mehr als der Be­reich der Massenme­dien und der medialen Kom­munikation im technischen Sinn. Ö. in diesem Sinn um­fasst vielmehr den Gesamtbereich kultureller Kommu­nikation, durch welche Menschen sich einen Begriff des Allgemeinen bilden und sich über ihren je besonderen Ort in diesem Allgemeinen verständigen.

Die systematische Struktur dieser Unterscheidung zwischen vier Aspekten von Ö. lässt sich durch einen Vergleich mit T. Parsons Theorie des sozialen Han­delns verdeutlichen. Par­sons sieht das Sozialsystem in vier Subsysteme gegliedert: Das kultur- und vertrau­ensbilden­de System (fiduciary system) nimmt die Funk­tion der Strukturerhaltung wahr; das Wirt­schaftssystem (economy) erfüllt die adaptive Funktion; das politisch-rechtliche System (poli­ty) dient der Zielerreichung; das System der sozialen Gemeinschaft (societal communi­ty) bewerkstelligt die Integration. Diese vier Subsyste­me erweisen sich als vier Referenzbereiche von Ö. in dem gerade beschriebenen Sinn.

2. Plurale Öffentlichkeiten

In allen vier Referenzbereichen ist die neuzeitliche Entwicklung durch Pluralisierungsschübe gekennzeichnet. Pluralität wird in all diesen vier Berei­chen in spezifischer Weise gestaltet.

2.1 Der demokratische Rechtsstaat zielt darauf, die Ent­faltung von Pluralität möglich zu machen. Sein frei­heitlicher Charakter zeigt sich gerade daran, dass er das Zusammenleben der Verschiedenen sichert. Dem dient der staatliche Schutz der Grundrechte, die in eins mit der Gleichheit vor dem Gesetz auch die freie Entfaltung der Persönlichkeit gewährleisten sollen. Der Sinn der Rechtsordnung besteht darin, genau dasjenige Maß an für alle Verbindlichem festzulegen, das die Pluralität lebbar macht. Deshalb ist die Rechtsordnung zugleich dazu verpflichtet, sich mit denjenigen Freiheitsein­schränkungen zu begnügen, die um der Freiheit selbst willen notwendig sind.

Eine bewusste und konsequente Weiterführung dieser Gestaltungsform von Pluralität auf der Ebene staatli­chen Lebens würde heute auf eine Stärkung der Grund­rechtsorientierung des Staates, auf eine Dezentralisie­rung staatlicher Machtausübung im Interesse der Mit­wirkungs­möglichkeiten der Betroffenen und auf eine Erweiterung der partizipatorischen Momente des politi­schen Prozesses zielen. Schon auf die­ser staatlichen Ebene gilt heute, dass Ö. nicht mehr auf den Bereich eines Nationalstaates begrenzt werden kann, sondern diesen übergreift. Ö. ist tendenziell Weltö.

2.2 Die Ö. der Wirtschaftsgesellschaft wird durch den Eigensinn und den Wettkampf konkur­rierender Interes­sen bestimmt. Dieser Wettkampf bezieht sich zum ei­nen auf die gegenläufi­gen Interessen von Kapital und Arbeit und äußert sich in den dadurch ausgelösten Vertei­lungskämpfen. Er bezieht sich zum andern auf die Konkurrenz von Anbietern um die Kaufbe­reitschaft von Konsumenten. Auch in diesem Fall ist der Bezugshorizont dieser Entwicklun­gen die Weltgesellschaft im Ganzen; das wird mit dem Begriff der Globalisierung bezeichnet.

Eine bewusste und konsequente Gestaltung von Plu­ralität im Bereich des Marktgeschehens müsste auf ei­ne weiterreichende Demokratisierung von Unterneh­mensmacht und damit eine demokratieverträgliche Ge­staltung der Wirtschaft zielen. Sie hätte zudem zur Vor­aussetzung, dass der Marktmechanismus nicht die un­umschränkte Führungsrolle in der Konstitution von Ö. erhält, sondern durch politisch gesetzte Rahmenbedin­gungen ebenso begrenzt wird wie durch die Selbstän­digkeit zivilgesellschaftlicher Assoziationen und die Eigenständigkeit kul­tureller Kom­munikation. Eine unumschränkte Führungsrolle der Wirtschaft für die Konsti­tution von Gesellschaft im Ganzen hat nämlich eine ungehemmte Individualisie­rung der Lebensformen und eine Aufzehrung derjeni­gen Solidarität zur Folge, die das notwendige Ge­gengewicht zur Individualisierung des menschlichen Selbstverständnisses darstellt.

2.3 Unter anderem im Zusammenhang mit der Wende in Mittel- und Osteuropa wurde die Eigenständigkeit der Zivilgesellschaft im Gegenüber zu den An­sprüchen des Staates neu wahrgenommen. Eine diskur­sive, auf den freien Austausch von Argumenten ausge­richtete Ö. kann, so zeigte sich, nur entstehen, wenn sich freie, staats-unabhängige Vereinigungen bilden und ihre Unabhängigkeit vom Staat auch gegen Anfeindun­gen und Repression selbstbewusst durchhalten.

Auch aus anderen Gründen ist die Wiederentdeckung der Zivilgesellschaft für die Konstitu­tion von Ö. wich­tig. Die Aufgabe, die Herrschaftsansprüche des Mark­tes zu begrenzen, erfordert nicht nur eine klare politi­sche Rahmensetzung, sondern zugleich eine öffentliche Diskussion darüber, worin die universalistischen, an den gemeinsamen Interessen aller orien­tierten Prinzipien bestehen, die der Selbstdurchsetzung der wirtschaftli­chen Interessen grenz­ziehend entgegentreten müssen.

Hinzu kommt die Einsicht, dass sich die Urteilsfähig­keit und damit auch die Fähigkeit der Einzelnen zur Teilnahme an der Ö. in aller Regel in überschaubaren Gruppierungen bildet, die sich auf eine gemeinsame In­terpretation der Wirklichkeit verständigen, die ihre Auf­merksam­keit auf bestimmte Aufgaben in dieser Wirk­lichkeit konzentrieren und gerade so zu einer reicheren und gehaltvolleren Wahrnehmung der allen gemeinsa­men öffentlichen Aufgaben beitragen. In Interpretati­onsgemeinschaften bilden sich unsere Auffassungen von Würde, unsere Gedanken über ein gutes und gelingendes Leben, unsere Verpflichtungen zur Anerken­nung der anderen und zum Respekt vor den Fremden.

Der Raum des Öffentlichen, in dem die allen gemein­samen Aufgaben artikuliert werden und um ihre Lösung gestritten wird, bildet sich also durch die Interaktion zwischen einer Vielzahl von Gemeinschaften. In die­sem Sinn ist die Ö. eine „community of communities“ (R.E. Bernstein), ein „Handlungsraum von Hand­lungsräumen“ (M. Walzer), eine „Ö. von Ö.en“. Diese Einsicht wird vor allem von denjenigen kommunitaristischen Theoretikern vertreten, die das liberale Projekt universalistischer Grundrechte mit der Einsicht verknüpfen, dass sich das Identitätsbe­wusstsein von Menschen wie ihre Vorstellung vom gu­ten Leben nicht in isolierter Individualität, sondern in der Zugehörigkeit zu einer Mehrzahl von Interpretati­ons­gemeinschaften bildet.

2.4 Es gibt Gestaltungsformen der Zivilgesellschaft, die auf einer weitgehenden kulturellen Homogenität aufru­hen, sich also im Rahmen einer kulturell monozentri­schen Situation ent­falten. Sie repräsentieren eine gemäßigte Form des Pluralismus. Dieser gemäßigte Pluralismus ist zum einen durch die Erosionsprozesse gefährdet, die mit den Individualisierungsschüben der Gegenwart verbunden sind. Er ist zum andern aber vor allem durch die radikalere Form der kulturellen Plura­lität moderner Gesellschaften herausgefordert. Beide Entwicklungen nötigen dazu, der kulturellen Kommu­nikation als eigenständigem Referenzbereich von Ö. be­sondere Aufmerksamkeit zuzuwenden.

3. Öffentliche Kirche

Dass die K. Jesu Christi eine öffent­liche Größe ist, dass sie in der Ö. wirkt und einen Auf­trag hat, ist offenkundig, seit es sie gibt. Dieser Ö.sauftrag ist in der biblischen Tradition breit ver­ankert; man kann zum Beleg an das öffentliche Wirken der Prophe­ten ebenso denken wie an wichtige Beschreibungen der K., die in der Ö. der Welt von der in Christus gesche­henen Ver­söhnung Zeugnis ablegt (2. Kor 5,19f.). In eindrucksvoller Bündelung bringt der neutesta­mentliche Missionsauftrag den öffentlichen Charakter kirchli­chen Handelns zum Ausdruck (Mt 28,18-20).

Mission und Ausbreitung des Christentums sind dem­zufolge in der denkbar umfassendsten Ö. verankert. Sie erhalten ihren Ort in einer Ö., die den Kosmos im Ganzen als Herrschaftsraum Jesu Christi umgreift und alle Zeit bis ans Ende der Welt umfasst. Diese Himmel und Erde umspannende, die Zeit bis an die Grenze der Ewigkeit erfüllende Ö. bildet den Horizont für alles Le­ben der K., für ihre Verkündigung und ihre Lehre, für ihren Gottesdienst und ihr soziales Handeln. Das ist der für sie verbindliche Ö.shorizont.

Gleichwohl bleibt es der K. nicht erspart, an besonde­ren Orten heimisch und ihrer jeweiligen Zeit gerecht zu werden. Doch richtet sie sich auf diese Weise in be­grenzten sozialen Umwel­ten ein, so kann diese Anpas­sung an vorgegebene Ö.en doch immer nur von relati­ver und vorläufiger Bedeutung sein; gegenüber der sä­kularen Ö. von Gesellschaft und Staat kennt die K. ge­rade keine unumschränkte, sondern immer nur eine be­grenzte, zur kritischen Prüfung verpflichtende Loya­lität.

Das biblische Verständnis vom öffentlichen Auftrag der K. kann der Natur der Sache nach das neuzeitliche aufgeklärte Verständnis von Ö. noch nicht im Blick ha­ben. Die Herausbildung von Ö. im neuzeitlichen Sinn kann jedoch zur Verdeutlichung des Ö.sauftrags der K. kritisch rezipiert werden. Sie verstärkt die Einsicht, dass die Verkündigung der K. den Charakter öffentlicher Kommunikation hat. Sie veranlasst zu der Einsicht, dass kirchliches Handeln nicht auf den innerkirchlichen Be­reich beschränkt sein kann. Dabei kann ihr Ö.sauftrag nicht einfach an vorgefundenen gesellschaftlichen Be­dürfnissen oder an funktionalen Imperativen des sozia­len Systems seinen Maßstab haben; damit würde der christliche Glaube auf zivilreli­giöse Funktionen be­schränkt. Vielmehr ist die Botschaft von der Recht­fertigung des Sünders und damit die Orientierung an Glaube, Hoffnung und Liebe im Horizont der Gott­esherrschaft der entscheidende Maßstab auch für die öf­fentliche Wirksamkeit der K. Gerade in diesem Hori­zont aber erweisen sich das Eintreten für die Wahrheit, der Einsatz für die bessere Gerechtigkeit und die Kul­tur der Barmherzigkeit als wichtige Leitlinien ihres öffentlichen Handelns.

4. Protestantismus und Öffentlichkeit

Die lange Symbiose zwi­schen K. und Staat unter dem Dach des landesherrli­chen K.nregi­ments hatte für den deutschen Protestan­tismus eine Doppelwirkung. Zum einen hatte die Rolle der Landesherren als oberster Bischöfe der evangeli­schen K.n zur Folge, dass eine eigenständige Funktion der K.n gegenüber der Ö. sich nur in verhaltenen For­men ausbilden konnte. Zum andern aber bewirkte diese staatlich-kirchliche Symbiose, dass auch noch nach ihrem Ende der komplexe Ö.sbezug der K. zumeist nur in dem vereinfachenden Gegenüber von K. und Staat wahrgenommen wurde.

Das zeigt sich beispielhaft an der Barmer Theolo­gischen Erklärung von 1934. Sie konkreti­siert die öf­fentliche Verantwortung der Christen und der K. in ihrer fünften These ausschließ­lich an den Problemen staatlicher Existenz und am Gegenüber von Staat und K. Obwohl die zweite Barmer These ausdrücklich sagt, dass Jesus Christus als Gottes Zuspruch der Verge­bung aller unserer Sünden auch Gottes Anspruch auf unser ganzes Leben ist, wurde auch in der Wirkungsge­schichte der Barmer Thesen dieser Anspruch auf „unser ganzes Leben“ zu­meist nur auf die Probleme staatlicher Existenz und der damit gegebenen politischen Verant­wortung bezogen. Die Probleme einer Gesell­schaftsethik, insbesondere die Probleme der Wirtschaftsethik haben deshalb im deutschen Protestantis­mus nach 1945 nicht die notwendige Aufmerksamkeit gefunden.

Die Konzentration auf das Gegenüber von K. und Staat zeigte sich besonders markant, als im Westen Deutschlands nach 1945 nicht nur die Folgerungen aus dem bereits 1918 eingetrete­nen Ende des landesherrli­chen Summepiskopats, sondern zugleich die Konse­quenzen aus den Erfahrungen der Nazi-Diktatur zu verarbeiten waren. Das Resultat der 1945 fälligen Neu­orientierung zeigte sich vor allem in zwei Formeln von einprägsamer Kürze. Die eine sprach von der nach der K.nfeindlichkeit des Nazi-Re­gimes neu errungenen „Partnerschaft zwischen Staat und K.“. Die andere bestand in der nun erst neu ge­prägten und schnell durchgesetzten Rede vom „Ö.sauftrag“ und vom „Ö.sanspruch“ der K. Inzwischen hat sich jedoch die Ein­sicht weithin durchgesetzt, dass der Ö.sauftrag der K. nicht nur im Gegenüber zum Staat, son­dern zugleich im Blick auf die Gesellschaft geklärt werden muss.

5. Kirche in pluralen Öffentlichkeiten

Geschichtlich existieren die K.n selbst im Plural. Ihre öffentliche Rolle in Deutschland ist wesentlich durch ihre Mehrzahl geprägt. Sie ist hi­storisch dadurch bestimmt, dass zwei große K.n übe­rall, wo sie zugleich präsent waren und anerkannt wur­den, mit dem Anspruch auf Parität auftraten; und sie ist dadurch gekennzeichnet, dass die kleineren Glaubens­gemein­schaften christlicher wie nichtchristlicher Art, auch soweit ihnen die Rechte von Körperschaf­ten des öffentlichen Rechts zuerkannt wurden, nur einen gerin­geren Anspruch auf öffentliche Wirksamkeit erheben konnten als die katholische und die evangelische K.

Neben diese äußere tritt eine innere Pluralität der K.n. Im Prozess der Modernisierung hatten auch die K.n an der Pluralisierung gesellschaftlicher Lebenslagen und Orientierungen Anteil. Mit charakteristischen Ein­schränkungen gilt beispielsweise, dass die Pluralität der in der Gesellschaft vorhandenen ethisch-politischen Orientierungen sich auch in den großen K.n wiederfin­den. Darüber lagern sich dann häufig kirchenspezifi­sche Konflikte. Pluralitäten dieser Art können jedoch für die K. keine letzte Gültigkeit haben; sie bilden Zwi­schenstadien im Streit um die Wahrheit, Etappen auf der Suche nach gemeinsam erkannter und anerkannter Wahrheit. Ein K.nverständnis, das den kirchlichen Plu­ralismus unabhängig von der Suche nach einer für alle verpflichtenden Wahrheit beschreiben würde, gäbe da­mit den Wahrheits­bezug des christlichen Glaubens und der kirchlichen Existenz preis. Dieser Wahrheitsbezug nötigt dazu, der Pluralität in der K. nur eine begrenzte und vorläufige Bedeutung zuzuerken­nen. Umso dring­licher ist die Frage, über welche Kriterien zum Umgang mit (innerkirchlicher wie gesellschaftlicher) Pluralität die K. verfügt.

Die Deutung der Wirklichkeit im Licht der Gottesbe­ziehung, die wechselseitige Anerkennung der Men­schen, die Hinwendung zu den Schwachen und die be­wusste Wahrnehmung mensch­lichen Lebens inmitten der Schöpfung sind Grundmerkmale für die Existenz des Volkes Israel wie der christlichen K. Im christlichen Glauben tritt die Erneuerung des Gottesverhältnisses durch die Rechtfertigung in Christus allein aus Gnade und allein im Glauben hinzu. Aus die­sen Grundmerk­malen ergeben sich Akzente für die Existenz einer öf­fentlichen K., die im Blick auf die Referenzbereiche pluraler Ö. (in umgekehrter Reihenfolge) skizziert wer­den sollen.

5.1 Nicht nur die Glieder der K„ sondern alle Menschen sind darauf angewiesen, „in der Wahrheit zu leben“ (V. Havel). Deshalb widerspricht die K. der Tendenz zur kommunikati­ven Enthaltsamkeit über Wahrheitsfragen, die den gesellschaftlichen Dialog von allen Wahr­heits­ansprüchen entlasten soll. Vielmehr will sie zu einer Form kultureller Kommunikation beitragen, in der Menschen sich wechselseitig Wahrheitsfähigkeit unter­stellen, gemeinsam nach der Wahrheit suchen, unter­schiedliche Wahrheitsansprüche austragen und sich da­bei in ihrer Würde achten. Im Blick auf alle Men­schen tritt die K. für eine unbedingte Achtung ihrer Menschenwürde ein; denn für alle Menschen gilt, dass der Mensch mehr ist, als er selbst aus sich macht.

Die Möglichkeit, „in der Wahrheit zu leben“, hängt entscheidend davon ab, dass der Staat als Rechtsstaat die Freiheit der Wahrheitssuche – also die Freiheit des Gewissens, des Glaubens und der Religion – achtet und dar­auf verzichtet, bestimmte Formen der Wahrheitser­kenntnis staatlich zu privilegieren und andere mit den Mitteln staatlicher Gewalt auszuschließen. Die Bereit­schaft der K., zur bewussten Gestaltung von Pluralität beizutragen, verbindet sich des­halb mit einer entschie­denen Stärkung derjenigen Institutionen des freiheitli­chen Staates, ohne die das Zusammenleben der Ver­schiedenen nicht gelingen kann. Das hat die Demokra­tiedenk­schrift der EKD von 1985 zu Recht herausge­stellt.

5.2 Wenn die wechselseitige Anerkennung der Men­schen als Gleicher gelingen soll, müssen Prozesse der Verständigung darüber organisiert werden, worin die gemeinsamen Interessen der Gesellschaftsglieder beste­hen und wie sie gefördert werden können. An diesen Überlegun­gen beteiligen sich auch die K.n; die Evan­gelische K. in Deutschland tut dies vor allem in ihren Denkschriften; mit ihnen leistet sie einen Beitrag zur zivilgesellschaftlichen Kommuni­kation. Ist diese Funk­tion von Denkschriften erst einmal erkannt, wird es auch möglich, ihr Profil und ihre Resonanz zu erhöhen. Das gemeinsame Wort der K.n zur wirtschaftlichen und so­zialen Lage von 1997 ist dafür ein wichtiges Beispiel.

5.3 Prozesse zivilgesellschaftlicher Verständigung zie­len darauf, Notwendigkeit und Grenzen marktförmig verfassten Wirtschaftens deutlicher wahrzunehmen, als dies bisher weithin ge­schieht. Das lässt sich an der Denkschrift der EKD „Gemeinwohl und Eigennutz“ von 1991 illustrieren. Die K. wird sich gerade im Blick auf die Ausübung wirtschaftlicher Macht der Aufgabe einer zugleich differenzierten und klaren Urteilsbildung nicht entziehen können.

5.4 Die K. ist in besonderer Weise im Bereich kulturel­ler Kommunikation verankert und lei­stet von hier aus einen spezifischen Beitrag zur zivilgesellschaftlichen Verständigung. Doch sie bildet zugleich, gerade in der Bundesrepublik Deutschland, einen wirtschaftlichen Faktor. Und nicht nur durch das Phänomen sich über­schneidender Mitgliedschaft, sondern auch durch ihre Beteiligung an sozialstaatlichen Aufgaben und insge­samt durch die ihr aufgegebene kri­tische Loyalität ist sie mit der Sphäre des Staates verbunden, dessen frei­heitlichen und frie­densorientierten Charakter sie aus spezifischen Gründen stützt und zu fordern sucht. Der Ö.s­auftrag der K. hat insofern mit allen Referenzberei­chen von Ö. zu tun.

6. Die Kirche als intermediäre Institution in der Zivilge­sellschaft

In der Wendezeit des Jahres 1989 ist den K.n in verschiedenen europäischen Ländern eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe zugewachsen. In der Ent­wicklung seit 1989 hat die gesell­schaftliche Rolle der K.n viel von ihrer Selbstverständlichkeit verloren. Auf beide Entwick­lungen müssen die K.n dadurch reagie­ren, dass sie ihre öffentliche Aufgabe nicht nur im Ge­genüber zum Staat, sondern als intermediäre Institution in der Zivilgesellschaft verstehen und wahrnehmen. Ausgehend vom Auftrag der K. zu Verkündigung und Seelsorge, zu Diakonie und Mission lassen sich da­bei drei Schwerpunkte erkennen: Die K. hat eine ge­nuine Bil­dungsaufgabe, die sich nicht auf die Bildungsprozesse in den Gemeinden und in kirch­lichen Bildungseinrichtungen beschränkt, sondern das öffentliche Bildungswesen einbezieht. Sie hat eine po­litische Verantwortung, die sich in ihrem Eintreten für Gerechtigkeit und Menschen­rechte, für Frieden und die Bewahrung der Natur konkretisiert. Sie trägt schließlich eine un­aufgebbare Verantwortung dafür, dass in der Gesellschaft eine Kultur des Helfens Raum behält und weiterentwickelt wird.

Lit.: H. Arendt, Vita activa oder: Vom tätigen Leben, 1960 – J. Haber­mas, Strukturwandel der Ö. (1962), 19922 – W. Huber, K. und Ö. (1973), 19912 – M. Honecker, Sozialethik zwi­schen Tradition und Vernunft, 1977 – L. Hölscher, Ö. und Geheimnis, 1979 – E. Herms, Gesellschaft gestalten, 1991 – W. Vögele, Zivilreligion in der Bundesrepublik Deutschland, 1994 – E. Herms, K. für die Welt, 1995 – W. Huber, K. in der Zeitenwende. Gesellschaftli­cher Wandel und Erneuerung der K. (1998), 19993 – M. Honecker, Evan­gelische Christen­heit in Politik, Gesellschaft und Staat, 1998.

Quelle: Martin Honecker u.a. (Hrsg), Evangelisches Soziallexikon. Neuausgabe, Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 2002, Sp. 1165-1173.

Hier Hubers Artikel als pdf.

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