Friedrich Mildenberger, Die einfache Gottesrede, das Evangelium und das Gesetz: „Ein Gesetz, das nur im Kopf oder im Herzen wäre, ließe uns mit unserem guten Willen allein und letztlich ungeschoren. Weil uns Gottes Reich entgegenkommt, entbindet es das Tun des Guten. Darum ist gerade auch hier eine Revision der traditionellen Gesetzeslehre angebracht.“

Das war einer der letzten Vorträge Friedrich Mildenbergers vor seiner Emeritierung 1994, in dem er sich mit einer lutherischen Gesetzestheologie und insbesondere mit Werner Elert auseinandersetzte:

Die einfache Gottesrede, das Evangelium und das Gesetz

Von Friedrich Mildenberger

Eine persönliche Einleitung:

Was ich zunächst sagen muß, will ich sofort wieder mit einem Vorbehalt versehen: Ich will mich nicht wie seinerzeit Paulus zum Narren machen lassen, obwohl ich auch nicht weniger bin als die Erlanger Übertheologen.[1] Von diesen schreibt Karlmann Beyschlag, es liege der Erlanger Theologie im ganzen ein einheitlicher Archetyp zugrunde, der ihren Weg von An­fang an begleite – als erster in der Reihe wird Adolf von Harleß genannt, während Beyschlag sich selbst als einen Erlanger Theologen nach dem Ende der Erlanger Theologie bezeichnet: „Es ist das fundamentale Gleichgewicht zwischen gegenwärtiger Glaubensgewißheit und kirchlicher Glaubensüberlieferung, persönlicher Ergriffenheit und überpersönlicher Autorität, das, was im eigentlichen Sinn unter christlicher Frömmigkeit zu verstehen ist.“[2] So kann ich von mir und meinem Theolo­gie-Treiben nicht reden. In meinem Vorstandszimmer hängen die Bilder meiner Vor­gänger an der Wand, und mehrere haben zu ihrem Namenszug ein Bibel­wort gesetzt. Gottfried Thomasius schrieb: „So halten wir nun dafür, daß der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke allein durch den Glauben.“ (Röm 3,28). Franz Hermann Reinhold Frank nannte 1.Kor 3,22f: „Alles ist euer, ihr aber seid Christi.“ Ludwig Ihmels setzte unter sein Bild 1.Kor 2,2: „Denn ich hielt nicht dafür, daß ich etwas wüßte unter euch als allein Jesus Christus, den Gekreuzigten.“ Walter Künneth schließ­lich unterzeichnete sein Bild mit 1.Kor 3,11: „Einen anderen Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.“ Sollte mein Bild die Gale­rie vervollständigen, will ich es mit Pred 7,16 zeichnen: „Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest.“ Damit deute ich die Unver­fügbarkeit jener Erfahrung an, mit der die „Erlanger Theologie“ zu arbeiten vorgab.

Diese unumgängliche Abgrenzung ist allerdings nur ein Moment des Umgangs mit jener Tradition, in die ich vor 25 Jahren gerufen wurde. Daß mir diese Tradition an einer ganzen Reihe von Punkten Mühe macht, will ich nicht verhehlen. Aber das ist wohl immer so: Der Segen der Väter ist nie allein zu haben; wir sind dazu genötigt, auch Verirrungen und Schuld aufzunehmen und weiterzutragen. Es ist die Kirchlichkeit dieser Theologie, die ich als den Segen der Erlanger Tradition aufnehmen und festhal­ten will, auch wenn mir das konkrete Kirchentum, auf das sich diese Theologie be­zieht, die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, aus Gründen, die ich hier nicht nennen will, letztlich immer fremd geblieben ist. Über mein ambivalentes Verhältnis zur Erlanger theologischen Tradition will ich hier Rechenschaft geben, wobei wieder die unmittelbaren Vorgänger auf meinem Lehrstuhl, Walter Künneth und Werner Elert, die Gesprächspartner sind. Sicher ist das eine Stilisierung, die biographisch kaum zu trifft, wenn ich jetzt bestimmende Grundzüge meiner theologischen Entwick­lung in den letzten 25 Jahren als eine Auseinandersetzung mit Künneth und Elert darstelle. Denn an­dere Gesprächspartner waren hier sicher von viel größerem Gewicht und Einfluß. Ich nenne ausdrücklich Karl Barth und Friedrich Schleiermacher – um von Martin Luther und Immanuel Kant einmal zu schweigen. Doch das ändert ja nichts an dem Gewicht der Tradition, in die ich gerufen wurde, und die ich dann auf meine Art fortzuführen hatte.

1. Die einfache Gottesrede als Gegenstand der Theologie

Mit dem Stichwort der „einfachen Gottesrede“ bezeichne ich einen Endpunkt der Entwick­lung, zu der ich in meiner Erlanger Zeit genötigt wurde. Als Student war ich ja seinerzeit von Friedrich Gogarten und Ernst Fuchs besonders beeindruckt. In den fünfziger Jahren spielte dann auch Gerhard Ebeling eine große Rolle. Im Hintergrund stand natürlich Rudolf Bult­mann mit seinem Programm der „Existentialen Interpreta­tion“. Erst über der Arbeit am Alten Testament und in der Begegnung mit Hermann Diem lernte ich die Gewichte im Bereich der Dialektischen Theologie anders zu verteilen: Ich erfaßte den Ansatz Karl Barths in seiner Zeitgemäßheit. Freilich habe ich dabei – wie ja auch mein Lehrer Hermann Diem – Bultmann nicht einfach über Bord geworfen. Es war insbesondere das Pathos der Wissenschaftlichkeit, das mich an Bultmanns Programm beeindruckte. Dabei ging es mir je länger desto weniger um Fragen des Weltbildes und die damit verbundene „Entmythologisierung“. Hier sind Kor­rekturen an Bultmanns Entwurf sicher unumgänglich. Was Bultmann vor allem einschärfte, war die Frage nach einer möglichen Allgemeinheit theologischer Denk­vollzüge, wie wir sie als Studenten mit der Unterscheidung von „existentiell“ und „existential“ eingeübt hatten. „Existentiell“ bedeutet die persönliche Betroffenheit der je individuellen Existenz, „existen­tial“ die allgemein-anthropologisch ausweisbare Möglich­keit einer solchen Betroffenheit. Angesichts dieser Fragestellung wollte mir die Be­hauptung, der persönliche Glaube, also eine existentielle Betroffenheit, sei Vorausset­zung für jede theologische Arbeit, je länger desto weniger einleuchten. Damit geriet ich nicht nur in Distanz gegenüber „evangelikalen“ Positio­nen;[3] auch bestimmte Mo­mente der Barthschen Position ließen sich von hier aus nicht nach­vollziehen. Aber auch der methodische Dualismus zwischen einer historisch-distanzierenden Exegese und der konfessorisch-identifizierenden Sprache der Dogmatik, wie ihn Ebeling ver­trat,[4] mußte von dieser Voraussetzung aus in Frage gestellt werden: Exegese und Dogmatik sollten gerade in methodischer Hinsicht zusammenfinden. Es dauerte frei­lich einige Zeit, bis ich das auch so zu formulieren begann.[5]

Die Frage nach dem Gegenstand der wissenschaftlichen Theologie war dabei freilich offen. Sie konnte ja nicht beantwortet werden mit dem Hinweis auf den Gegenstand des persönli­chen Glaubens oder auch auf die Erfahrung des rechtfertigenden Handelns Gottes am Men­schen, etwa im Sinne des berühmten Diktums von Johann Christian Konrad von Hofmann: „Freie, nämlich in Gott freie Wissenschaft ist die Theologie nur dann, wenn eben das, was den Christen zum Christen macht, sein in ihm selbständiges Verhältnis zu Gott, in wissenschaftli­cher Selbsterkenntnis den Theologen zum Theolo­gen macht, wenn ich der Christ mir dem Theologen eigenster Stoff meiner Wissen­schaft bin.“[6] Meine Versuche, hier über die Annah­me eines transsubjektiven oder intersubjektiven Glaubensbewußtseins der Kirche weiterzu­kommen, brauche ich hier nicht zu schildern. Weitergeholfen hat mir hier die Begegnung mit der sprachanalyti­schen Philosophie, die mich lehrte, das Sprechen selbst in seiner Eingebun­denheit in bestimmte Lebensvorgänge zum Gegenstand zu machen.

Die hier angedeutete Entwicklung von Fragestellung und Methode der Theologie, der Dogma­tik vorwiegend, aber doch zugleich auch immer der anderen Disziplinen, kann ich nachträg­lich auch begreifen als eine intensive Auseinandersetzung mit meinem Lehrstuhlvorgänger Walter Künneth. Er war ja nicht nur literarisch präsent; die evan­gelikalen Studenten, die er nach Erlangen zog, waren als Gesprächspartner immer mit dabei, auch wenn sie in meinen Lehrveranstaltungen zunehmend weniger in Erschei­nung traten. Aufmerksam geworden war ich auf Künneth zunächst durch Ebelings „Hinweis auf ein Pamphlet“[7], eine für Ebeling über­raschend polemische Auseinander­setzung mit Künneths Buch „Glauben an Jesus? Die Begeg­nung der Christologie mit der modernen Existenz“.[8] Sicher waren damals meine Sympathien eher bei Ebeling oder Bultmann. Aber zu einem polemischen Kernsatz Ebelings habe ich schon beim ersten Lesen eine Randglosse gemacht. Ebeling wirft Künneth vor: „Mit der Her­leitung historischer Tatsachenurteile aus Glaubensaussagen ist die Verbindlichkeit gewissen­haften Denkens preisgegeben, der Glaube in ein weltanschauliches Prinzip verfälscht und – welch überraschende Umkehrung der Fronten! – der Grund des Glaubens in Enthusiasmus aufgelöst.“[9] Dazu habe ich notiert: „Hier macht sich Ebeling selbst etwas vor!“ Denn, wie ich diese Glosse interpretieren will: er nimmt nicht wahr, daß sich Glaubensgewißheit nicht auf historische Wahrscheinlichkeit gründen kann, daß also der Glaubensgrund nicht historisch zu erfassen ist. Ich kann nun einmal nicht sagen: „Ich glaube gewiß, daß Jesus Christus für meine Sünden mit hoher historischer Wahr­scheinlichkeit gekreuzigt worden ist.“ Mindestens soweit hat also Künneth recht.

Den unsäglichen Tatsachenbegriff, mit dem so oder so Schindluder getrieben wird, lasse ich jetzt beiseite. Ich frage vielmehr nach jenem bei Künneth gehäuft auftreten­den evangelikalen Sprachgestus, der Wirklichkeitsbehauptungen und eine den Gegner religiös disqualifizierende Polemik verbindet. Zu den biblischen Zeugnissen von der Auferweckung Jesu etwa sagt er so: „Sie alle haben in ihren mannigfachen Formulie­rungen ein und denselben zentralen Inhalt, nämlich die Wirklichkeit des tatsächlichen Geschehenseins der Auferweckung des gekreuzig­ten und gestorbenen Jesus von Naza­reth … Die Auferweckung Jesu ist Gottes souveräne, majestätische Allmachtstat.“[10]Hier wird Behauptung auf Behauptung getürmt, um so das Ge­wicht dessen zu betonen, was der Theologe vorbringt. Dabei wird dessen Situation grundle­gend verkannt: Dieser Theologe mit seinem dogmatischen Sprechen oder Schreiben ist doch nicht die Zusammenfassung und so die Quintessenz der vielfältigen und vielstimmigen Be­zeugung der Auferweckung in Doxologie, Bekenntnis, Zuspruch, Trost der einfachen Gottes­rede. Er soll und er kann deren Bewahrheitung nicht leisten. Wenn er darin trotzdem seine Aufgabe sieht, dann ergibt das in einem die Überheblichkeit und die Belanglosigkeit theolo­gischen Redens: Überheblichkeit, sofern hier die versichernden Behauptungen des Theologen für eine Wahrheit einstehen wollen, die sich dort und dann ereignet, wo und wann es Gott gefällt.[11] Und Belanglosigkeit, weil dieses Reden dabei die konfessorische Geste zeigt, ob­wohl nicht die Zeit zum Bekennen ist.[12] Um die Belanglosigkeit dieser konfessorischen Geste zu verdecken, braucht es dann wieder die schrille Pole­mik. So behauptet Künneth, der pro­grammatische Vortrag Bultmanns über „Neues Testament und Mythologie“ von 1941 müsse „als entscheidender Anstoß zur Entste­hung der Fundamentalkrise in Theologie und Kirche erkannt werden“ und sieht in der Aufnahme dieses Programms durch Bultmanns Schüler einen „antibiblischen Umbruch“ in Theologie und Kirche.[13] Daß solche Überheblichkeit und Belanglosigkeit theologi­schen Redens nur eine Eigenart evangelikaler Theologie sei, will ich damit nicht behaupten. In meiner Bemerkung zu Ebelings Polemik gegen Künneth habe ich schon darauf hingewiesen, wie nahe sich die Kontrahenten hier kommen.

Solche Überheblichkeit und Belanglosigkeit theologischen Redens ist natürlich nicht beab­sichtigt. Sie stellt sich aber dort unvermeidlich ein, wo sich die Theologie über den Ort und die Art ihres Redens nicht genaue Rechenschaft gibt. Die von mir einge­führte Unterscheidung von wissenschaftlicher Theologie und einfacher Gottesrede deutet an, wie ich selbst hier wei­terzukommen suche. Dabei nenne ich als Kriterium der einfachen Gottesrede ihre Einpassung in die Situation, das bestimmte Wo? und Wann?, die „Zeit“, wie ich abgekürzt sage. Wenn überhaupt, dann trifft der Anspruch von Menschen, Gottes Wort zu sagen, in solcher Kon­kretion der Zeit zu. Die Theolo­gie kann darüber freilich wieder nur abstrakt reden.[14]

2. Das Gesetz und die Zeit des Evangeliums

Selbstverständlich hat es die einfache Gottesrede und die Frage nach dieser einfachen Gottes­rede schon längst gegeben, ehe ich sie in dieser Weise benannt habe. Das sage ich hier nur der Deutlichkeit halber. Darum hat es auch die Frage nach der Zeit immer schon gegeben, in der das Evangelium Glauben findet, um einmal traditionell zu formulieren. Ich verweise dazu auf Melanchthons Apologie der Confessio Augusta­na, die jenes Wo? und Wann?, die Zeit, in der der heilige Geist den Glauben wirkt, in einer ganz bestimmten Weise füllt. Melanchthon hebt die evangelische Lehrform ab gegen die Gegner, die behaupten, der Mensch könne in sich Liebesakte gegen Gott hervorrufen, auf die Gott dann mit der Sündenvergebung antworte. Es sei für die otiosi, Leute in einer entlasteten Situation, leicht, solche Träume von der Liebe aus­zusinnen, weil sie nicht wahrnähmen, was Zorn und Gericht (iudicium) Gottes seien. Aber im Kampf des Gewissens und im Handgemenge (in acie) erfahre das Gewissen die Eitelkeit jener philosophischen Spekulationen. „Paulus sagt: Das Gesetz wirkt Zorn. Er sagt nicht, daß die Menschen durch das Gesetz die Vergebung der Sünden verdienen. Das Gesetz nämlich klagt immer die Gewissen an und erschüttert sie.“[15] In diesem Kampf des Gewissens könne allein das Evangelium Trost geben, das im Glau­ben ergriffen wird. Darum kann Melanchthon ja schon in CA XX von der reformatori­schen Rechtfertigungslehre oder -predigt sagen: „Tota haec doctrina ad illud certamen perterrefactae conscientiae referenda est, nec sine illo certa­mine intelligi potest.[16]

Hier scheint sich eine Möglichkeit aufzutun, jene Zeit des Evangeliums gerade über das Ge­setz zu erfassen. Dabei ist nun das Melanchthonische „Lex semper accusat“ ein für das Geset­zesverständnis Werner Elerts charakteristisches Signal. Daß die herme­neutischen Bemühun­gen Gerhard Ebelings in dieser Frage ähnlich aussehen, auch wenn seine inhaltliche Füllung des Gesetzes nicht ganz so düster ausfällt wie die Elerts, erwähne ich nur um anzudeuten, daß ich mich hier mit meiner eigenen theolo­gischen Herkunft auseinanderzusetzen habe. Die Zeit des Evangeliums hat ihr eigenes Hier und Jetzt, über das die theologische Interpretation nicht unmittelbar verfügt. Aber diese Zeit des Evangeliums steht, so lautet hier die hermeneutische These, in einer dialektischen Spannung zur Zeit des Gesetzes.[17] Elert kann diese Spannung so weit treiben, daß er Gesetz und Evangelium als zwei einander widersprechende Worte Gottes bezeichnet. Sie gelten beide unzweifelhaft, „obwohl die Geltung des einen die des anderen aufhebt und umgekehrt“.[18]

Nicht nur an dieser Stelle überzeichnet Elert bestimmte problematische Punkte der traditionel­len lutherischen Lehre vom Gesetz. Gerade in solcher Überzeichnung kann einsichtig werden, warum ich hier der Tradition je länger desto weniger folgen konnte und mir neue Wege su­chen mußte, um zu einem zeitgemäßen Verständnis der Schrift anzuleiten. Ich nenne drei Punkte dieser Gesetzeslehre und mache zugleich deren Bedeutung für das Verständnis des Evangeliums deutlich; es gehört ja zu den Nötigun­gen des theologischen Denkens, denen wir uns nicht entziehen können, daß entweder von einem vorausgesetzten Gesetzesverständnis das Verständnis des Evangeliums mitbestimmt ist, oder daß umgekehrt das Verständnis des Evan­geliums über das Ver­ständnis des Gesetzes mitentscheidet. In unserer lutherischen Tradition dominiert dabei eindeutig das Gesetz.

a) Zunächst ist auf die Reichweite des Gesetzes zu achten. Dieses Gesetz Gottes betrifft alle Menschen. Es gilt allen, ganz unabhängig davon, ob sie es kennen oder nicht kennen. Elert verzichtet hier auf die traditionelle Theorie von der lex naturalis, dem in das Gewissen jedes Menschen geschriebenen Gottesgesetzes, die darin eine der universalen Geltung des Gesetzes entsprechende universale Proklamation behauptete.[19]Das Gesetz gelte auch, weil Gott es durch Menschen verkündigen ließ. „Allein es gilt, wie gesagt, auch allen, denen es nicht aus­drücklich verkündigt wurde. Das Wesentliche am Gesetz ist also nicht, daß es ausgesprochen, sondern daß es verhängt wurde. Das Gesetz ist ein Verhängnis, dem niemand entrinnen kann, weder der Wissende, noch der Unwissende.“[20] Wissend ist freilich der Theologe, der Welt von diesem Gesetz her und auf es hin zu interpretieren vermag, eine Welt, die dem Menschen fordernd und ihn nötigend entgegenkommt: Er soll und er muß. Er soll sich selbst und seine „natürli­che“ Mittelpunktstellung in dieser Welt aufgeben. Und er muß sterben. Das gilt umfas­send und für jeden Menschen. Wir würden in den Zwang zur Selbstbehauptung hinein­geboren und könnten so gar nicht anders als schuldig zu werden. Es könne uns deshalb vor dem Gott nur grauen, „der uns, indem er uns ins Leben ruft, zugleich die Waffe in die Hand drückt, so daß wir gegen ihn kämpfen müssen, der uns dann niederzwingt, weil wir gegen ihn kämpfen, und der uns dann obendrein noch zuruft: ‘Es ist deine Schuld!’“.[21] So erreicht Gott – das ist nach Elerts Interpretation der Deus absconditus – jeden Menschen mit seinem Ge­setz. Denn sie müssen ja alle sterben. Dagegen kann das Evangelium, das diesem Gesetz widerspricht, nicht alle Menschen erreichen. Denn im Unterschied zu dem ausnahmslos über alle verhängten Gesetz fordert es die Ent­scheidung. Das freilich so, daß auch diese Entschei­dung als ein Getroffen-werden interpretiert werden muß.[22] Dem Universalismus des verhäng­ten Gesetzes korrespon­diert also der Partikularismus des erwählenden Evangeliums.

b) Durch das Gesetz vollzieht sich Gottes Gericht. Gegen Calvin – und damit ist natürlich auch Elerts Intimgegner Karl Barth gemeint – wendet Elert ein, der schwer­ste Irrtum seiner Gesetzesinterpretation sei der, daß das Gesetz von der Legislatur Gottes her verstanden werde. Gott erscheine dann als Gesetzgeber in Analogie zu einem menschlichen Gesetzgeber, der mit seinem Gesetz nur die Frage der Unterta­nen beantworten wolle, was sie tun sollten. Paulus dagegen verstehe das Gesetz von der Judikatur Gottes her. „Die Legislatur Gottes steht im Dienst seiner Judikatur, das heißt seines Richteramts.“[23] Aus Röm 5,14.16 erhebt Elert, das Vergeltungsgesetz habe bereits unabhängig von der sinaitischen Legislatur gegolten, weil ja der Tod seit Adam geherrscht habe. „Es galt in der Form des göttlichen Urteils, das heißt sei­ner Judikatur. Paulus versteht also bereits die vorsinaitischen Menschen und selbstverständ­lich alle andern als Menschen, die von Gott nicht nur beurteilt, sondern verurteilt werden.“[24]Was die lutherische Tradition als den usus elenchticus legis bezeichnete, den Gebrauch des Gesetzes durch Gott, in welchem er den Sünder seiner Sünde überführt, das wird hier von Elert aufgenommen, aber nun verabsolutiert. Sah die lutherische Tradition hier das gepredigte Gesetz, das den Sünder zum Evangelium hinführt,[25] so wird in der Überbetonung dieses usus legis seine unmittelbare Verbindung mit dem Evangelium gelöst.[26]

Hier muß ich eine Zwischenbemerkung einfügen, um das Verständnis dieser eigen­tümlichen Lehrform Elerts etwas zu erleichtern. Ich habe schon angeführt, daß er auf den Gedanken der im Gewissen jedes Menschen offenbaren lex naturae verzichtet.[27]Das hängt damit zusammen, daß er den Gedanken eines urständlichen Gesetzes, den auch die lutherische Tradition festge­halten hat, nicht aufnimmt.[28] Das ist sicher auch ein Anzeichen dafür, wie „modern“ Elert hier denkt. Aber zugleich bedeutet dieser Verzicht eine weitgehende Formalisierung des Gesetzes. Es ist die vom Sollen und Müssen her erschlossene Welt, in der Gottes Gesetz und so der in diesem Gesetz und durch dieses Gesetz wirksame Deus absconditus begegnet.

Weil das Gesetz Gottes hier primär als das verurteilende Gesetz erfaßt wird, darum muß das Evangelium als Widerspruch gegen diese Verurteilung erfaßt werden. Das nötigt dazu, das Christusgeschehen als die Ermöglichung dieses Widerspruchs zu interpretieren. Durch seine Geburt sei Christus der Naturordnung, also dem Gesetz des Müssens unterworfen. Aber weil er unter das Gesetz geboren worden sei – so nach Gal 4,4 – , sei er auch dem Gesetz des Sol­lens unterworfen.[29] Doch als der Sohn Got­tes stehe er zu Gott in einem Verhältnis, das den Willenswiderstreit mit ihm, das Sündigen, schlechterdings ausschließe.[30] Christus lasse sich also nicht von seinem Ethos her verstehen, sagt Elert. Damit grenzt er sich gegen die moder­nen, seit der Aufklä­rung wirksamen Bildungen der Prinzip- und der Urbildchristologie ab. Nicht in der Gestalt seiner Menschlichkeit also unterscheidet er sich von uns; vielmehr müsse er als der einzigartige Sohn Gottes von seiner Präexistenz und Menschwerdung her begriffen werden, also ontologisch. Entsprechend wird dann auch sein Werk gesehen: „Er ist, indem er sich dem letzten Widerstand persönlich stellt, der Stellvertreter Gottes gegen­über den Men­schen.“[31] Er ist aber „auch der Stellvertreter der Menschen gegenüber Gott“.[32] Dazu stellt Elert die Frage, warum Christus nicht frei geblieben sei von den Folgen unseres Widerspruchs gegen Gott, an dem er doch nicht durch eigene Tat beteiligt war. „Es gibt keine andere Ant­wort darauf, als daß er den Fluch getragen hat, der auf allen lastet, die in die menschlichen Ordnungen hineingeboren werden.“[33] So muß also das Christusgeschehen in seinem Kern als Sühnopfer verstanden werden. „Der Opfergang Christi als Sühne für unsere Missetat ist das Mysterium, aus dem unser Glaube stammt und lebt.“[34]

Die Interpretation des Gesetzes von der Judikatur Gottes her fordert also eine exklu­sive Christologie, die Christus sowohl ontologisch wie in seinem Werk, seinem Tun und Erleiden, gegen die Menschheit insgesamt abhebt. Daß Elert hier zu der Inkonsequenz gezwungen wird, von Christus zu behaupten, daß „er im Unterschied zu allen andern das Gesetz vollkommen erfüllte und vollkommen erlitt“,[35] deutet freilich an, daß es ihm doch nicht ganz gelungen ist, den Gedanken Christi als des gerade in seinem Handeln und Verhalten wahren Menschen, also ein ethisches Verständnis Christi, wie andererseits auch den Gedanken eines urständli­chen Gesetzes auszutreiben; denn das durch Christus vollkommen erfüllte Gesetz kann weder das Gesetz in seinem usus civilis sein – so wird es ja gerade nicht vollkommen erfüllt – , noch das Gesetz in sei­nem usus elenchticus – so hat er das Gesetz allenfalls erlitten. Ich vermerke diese Ungereimtheiten ausdrücklich. Deutet sich doch hier die Unhaltbarkeit des ganzen Kon­zepts an.

c) Schließlich ist hier auf die ethischen Folgen der Gesetzeslehre Elerts hinzuweisen. Dazu erinnere ich an den bekannten Sachverhalt, daß Elert einen tertius usus legis vehement ab­lehnt: Der Glaubende sei frei vom Gesetz. Das spiegelt sich in Elerts Ethik so wider, daß er zunächst von einem Ethos unter dem Gesetz und dann von einem Ethos unter der Gnade redet, die nicht vermittelt werden können.[36] Die Dialek­tik von Gesetz und Evangelium ist dabei in der Unterscheidung des usus civilis legis und des usus elenchticus aufgenommen: Gott richtet den Menschen nicht nur aufgrund des über ihn verhängten Gesetzes, sondern er erzwingt auch seinem Gesetz Befolgung und ist hier als der wirksam, der die Ordnung seiner Schöpfung gegen die Verkehrung durch die menschliche Sünde wahrt. Insbesondere ist in diesem Zusam­menhang dann die Ordnung des Staates von Gewicht.

Nun habe ich schon auf die Formalisierung hingewiesen, die sich aus Elerts Interpre­tation des Gesetzes von Gottes Judikatur her ergibt: Gesetz ist ein Sollen, dem wir folgen müssen, wie es zugleich ein Müssen ist, das jeden Menschen aus der Mittel­punktstellung in seiner Welt[37] hinausstößt. Das zieht eine Formalisierung der Ordnun­gen nach sich, die gerade die Staats­lehre prägt. Ich verdeutliche das an der Studie über Paulus und Nero.[38] „Der gleiche Paulus, der 1.Kor. 13 das Hohelied der Liebe an­stimmt, der verkündigt Röm. 13 das Hohelied der Macht. Man kann den Apostel nicht halbieren. Man kann, wenn man ihm das eine hoch an­rechnet, nicht das andere unter­schlagen.“[39] So setzt Elert ein, um dann darauf hinzuweisen, daß es gerade der als Herrscher doch keineswegs vorbildliche Nero ist, dem so von Paulus die gottgegebene Ordnungsmacht zugeschrieben wird. Er hält dann die „apokalyptische Mächte­perspekti­ve“ gegen die „paulinische Ordnungsperspektive“. Die apokalyptische Mächteper­spekti­ve deute das geschichtliche Geschehen als den Kampf der widergöttlichen gegen die göttliche Macht. So aber lasse sich jedenfalls das Weltgeschehen nicht zureichend erfassen.[40] Darum entscheidet sich Elert konsequent für die paulinische Ordnungsper­spektive und damit für die Gehorsamsforderung der faktischen Staatsmacht gegenüber. Die Petrinische Klausel, daß wir Gott mehr gehorchen müssen als den Menschen, würden wir darum nur von Fall zu Fall anwenden, also daraus nicht ein grundsätzli­ches Widerstandsrecht gegen eine pervertierte Staatsmacht ableiten. Es gelte vielmehr immer, den Staat in der Paulinischen Sicht von Röm 13 zu sehen.[41]

Das bedeutet für das Verständnis des Evangeliums: Die Welt ist und bleibt unter dem Vorzei­chen des Gesetzes, also des Zwangs und zugleich der Verurteilung. Das Doppel­gebot der Liebe als Inbegriff des neuen Gehorsams, wie es das „Ethos unter der Gna­de“ kennzeichnet, ist in einem die Erfüllung des Gesetzes und seine Aufhebung, „weil alle Liebe ‘aus Gott’ ist und weil damit zwischen Gott und uns eine Ordnung aufge­richtet ist, die keine Zwangsord­nung ist“.[42] Freilich kann Elert nicht von einem blei­benden Übergang vom alten zum neuen Menschen reden; vielmehr ist hier ständig neu die Entscheidung gefordert. Glaube und Un­glaube divergierten im Kairos, indem der Glaube den Kairos bejahe, der Unglaube ihn aber zugunsten der nur chronologischen Lebensführung verneine. Zeit des Glaubens ist also wieder durch Entscheidung be­stimmt, die jeden Tag aufs neue getroffen werden muß. Der Christ sei verteilt auf zwei Zeiten, sagt Elert mit Luther. Zeit des Gesetzes sei es, wenn mich das Gesetz bearbei­te, plage, peinige, mich zur Erkenntnis der Sünde zwinge und sie dadurch noch ver­mehre. Zeit der Gnade sei es, wenn das Herz durch die Verheißung der geschenkten Barmher­zigkeit aufgerichtet werde. Dabei bestehe die Gefahr eines Libertinismus gewiß nicht für den begnadigten „neuen“ Menschen, denn dieser werde vom Geist Gottes regiert und könne daher nichts Verkehrtes tun. Sie bestehe nur dort, wo sich der „alte“ Mensch, die caro, an der Frei­heit beteiligen wolle. Darum gelte das Gesetz weiter, und zwar für den alten Menschen. Weil aber der neue tatsächlich immer mit dem alten Menschen in Personalunion lebe, könne es faktisch keinen von dem richten­den Gebrauch des Gesetzes für ihn unterschiedenen tertius usus legis geben.[43]

Gerade bei diesen Überlegungen zeigt es sich, wie die Interpretation des Gesetzes die Zeit des Evangeliums dominiert: Der Glaube kann sich immer nur gegen das Gesetz entscheiden, in­dem er die richtende Funktion des Gesetzes über das eigene alte Menschsein bejaht und sich zugleich an die Verheißung des Evangeliums hält, die als vom Geist Gottes regiertes Leben sich in der Liebe verwirklicht. Das aber geschieht gerade in einem durch das Gesetz geordne­ten Leben, etwa im Gehorsam gegen eine Obrigkeit, die faktisch die Macht hat und ausübt. Das zeigt noch einmal deutlich, wie hier Welt unter dem Gesetz steht. Sicher ist dann die Entscheidung für das Evangeli­um im Kairos möglich, der zugleich der Kairos für die Liebe ist. Aber das ist ein Geschehen in der individuellen Innerlichkeit, die selbst wieder an die durch das Gesetz interpretierte Welt gewiesen ist.

3. Das Evangelium und das Gesetz

Sicher ist das, was Elert als „Grundlinien der lutherischen Dogmatik“ und „Grundlini­en der lutherischen Ethik“[44] vorgelegt hat, nicht mit der traditionellen lutherischen Theologie zu identifizieren. Und ob Elert dieser lutherischen Tradition gegenüber den genuinen Luther neu zur Geltung gebracht hat, das ist erst recht fraglich. Doch zeigt seine modernisierende Inter­pretation der lutherischen Theologie[45] bestimmte im Ge­setzesverständnis dieser Theologie verankerte Merkmale, die zu einer Revision nöti­gen. Eine zutreffende Anleitung zum Ver­stehen der Schrift – der ganzen Bibel des Alten und des Neuen Testaments – läßt sich jeden­falls von diesem Gesetzesverständnis her nicht geben. Darum habe ich die Barthsche Formu­lierung „Evangelium und Gesetz“ übernommen, die deutlich macht, daß nicht das Evange­lium vom Gesetz domi­niert werden soll, sondern umgekehrt das Gesetz durch das Evange­lium. Ich denke, daß gerade damit dem Verstehen der Schrift besser zugedient werden kann als durch die Repristination der traditionellen lutherischen Hermeneutik der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium samt ihren modernisierenden Adaptionen.

Ich brauche mich jetzt nicht lange bei dem aufzuhalten, was auf der Hand liegt: daß ich mich natürlich in meiner Darstellung im zweiten Teil schon an dem orientiert habe, was nun positiv zu sagen ist.[46] Das ist einmal die Frage nach der primären Kom­munikation Gottes mit der Welt im Evangelium und damit zusammenhängend die Frage nach dessen Reichweite. Es ist weiter die Frage nach Christologie und Soteriologie, die nicht durch einen vorausgesetzten usus elenchticus legis dominiert werden dürfen. Es ist schließlich die Frage nach einem Ver­ständnis des Gebietens Gottes, das sich gerade an der Ermöglichung des Gebotenen durch Gott selbst orientiert.

a) Bestimmt nicht das Gesetz, also die Beanspruchung des Menschen durch ein ihm von Gott auferlegtes Sollen, die ursprüngliche Kommunikation von Gott und Welt bzw. Gott und Mensch, dann ist hier auf die Erwählung zu verweisen. Das bedeutet als grundlegende Vorent­scheidung für die Anthropologie, daß der Mensch nicht primär von dem her bestimmt ist, was er tut, sondern von dem her, was ihm widerfährt. Ich kann diese Bestimmung des Mensch­seins von der ihm widerfahrenden Erwählung Gottes her hier nicht eingehend biblisch begrün­den. Ich erinnere vielmehr noch einmal an die durch das Gesetz in ihrer Struktur festgelegte lutherische Dogmatik. Diese nimmt bekanntlich die Ökonomie trinitätstheologisch auf, indem sie die principia salutis den Personen der Trinität appropriiert. Sie redet darum nacheinander von der benevolentia, der Güte oder dem Wohlwollen des Vaters gegenüber dem gefallenen Menschen, der wieder aufzurichten und zu begnaden ist. Sie redet weiter von der brüderlichen Erlösung von den Sünden und ihren Strafen durch Christus. Sie redet schließlich von der diese Erlösung durch die Gnadenmittel zueignenden Wirksamkeit des heiligen Geistes.[47] Dabei kann aber die universale Güte Gottes nur partiell zum Ziel kommen. Der Heilspartikularismus ist dabei pneumatologisch-ekklesiologisch festgemacht: Zwar ist der heilige Geist durch die Gnadenmittel unbeschränkt wirksam. Aber zugleich ist seine Wirksamkeit nach Gottes Ord­nung an den Gebrauch der Gna­denmittel gebunden. Der Imperativ: „Du sollst die Gnadenmit­tel gebrauchen!“ gehört in den durch die Amtskirche mit beherrschten sozialen Zusammen­hang hinein, was einmal mehr zeigt, wie in dieser lutherischen Lehrform das Gesetz domi­niert. Nur der ist zum Heil prädestiniert, von dem Gott voraussieht, daß er die Gnadenmittel bis zu seinem Ende gebrauchen wird. Dadurch wird er vom heiligen Geist bis zu diesem Ende auch im Glauben erhalten werden.

Eine so gesetzlich konditionierte Erwählungslehre kann natürlich in unserem Zusam­menhang nicht weiterhelfen. Vielmehr ist Erwählung im universalen Horizont der Christuswirklichkeit zu sehen. Gottes im Christusgeschehen wirksame und durch das Evangelium offenbarte Ge­rechtigkeit setzt sich gegen allen Widerstand durch. Ich kann und will in diesem Zusammen­hang nicht eine Lehre von der apokatástasis pántōn, der Wiederbringung der ganzen Schöp­fung, entwickeln. Vielmehr liegt mir an dem Hinweis, daß Gottes Ökonomie nicht ekklesio­logisch kanalisiert werden kann. Das be­deutet einmal, daß Erwählen und Übergehen Gottes nicht zeitlos gesehen werden dürfen, in jener reziproken Gestalt, wie sie etwa die bekannte Bestimmung Calvins nennt, daß die Erwählung keinen Bestand hätte, wenn ihr nicht die Ver­werfung entge­gengesetzt wäre. Vielmehr ist auch hier die Zeit mit zu bedenken. Das nötigt dazu, die Solidarität der Erwählten und der Verworfenen zu sehen.[48] Es bedeutet weiter, daß die Reichweite des Christusgeschehens und damit die Wirksamkeit des als Schöpfungs­mittler gepriesenen Christus nicht auf die christlichen Kirchen in ihrer faktischen Partikularität be­schränkt werden darf.[49] Das kann dann wieder zu einer größeren Offenheit, Toleranz und Dialogfähigkeit der Kirchen führen, die weder die Macht des Schöpfers noch des erhöhten Christus durch ihre Gesetzesinterpretation auf den Plan führen müssen.

b) Fällt ein theologisch oder anthropologisch ausgeführtes Gesetz von universaler Gültigkeit als Verstehensvoraussetzung des Christusgeschehens weg, dann gewinnt das Alte Testament wieder sein Gewicht im biblischen Kanon.[50] Es ist Zeugnis einer Gottesgeschichte, die nicht einfach auf das Christusgeschehen in seiner die Sünde sühnenden Wirkung reduziert werden kann. Diese Geschichte erstreckt sich von der Erwählung Abrahams bis zur eschatologischen Vollendung der Schöpfung im kom­menden Reich Gottes. Gewiß ist im Zusammenhang dieser Gottesgeschichte die Ein­maligkeit und Unüberholbarkeit des Christusgeschehens im Be­kenntnis zu der Aufer­weckung des Gekreuzigten festgemacht. Doch dieser auferweckte Jesus von Nazareth steht in seinem Kommen, in dem, was ihm widerfährt und was er tut, in seinem Leben, Leiden und Sterben nicht einfach der ganzen unter dem Gesetz verfaßten sündigen Menschenwelt gegenüber als der wesentliche Gottmensch in seiner vollkommenen und zu­gleich ungeschuldeten Gesetzeserfüllung. Er ist vielmehr zusammen mit anderen erwählten und gottgesandten Menschen, die dem kommenden Reich entgegenhoffen und entgegengehen, die von ihm reden und nach seiner Gerechtigkeit trachten.[51] Zu dem einen erwählten Knecht Gottes gehören die vielen anderen erwählten Mägde und Knechte Gottes mit dazu.

c) Das Verständnis des Gesetzes ist von der durch den Vorrang der Erwählung gefor­derten unumgänglichen Revision des traditionellen theologischen Denkens besonders betroffen. Mit dem vom universalen Gesetz her bestimmten Verständnis des Evangeli­ums ist in der lutheri­schen Tradition die Unterscheidung des usus legis unmittelbar verbunden. Mit dieser Geset­zeslehre aber hat das biblische Gesetz seinen Namen verloren: „Das Gesetz des Herrn.“[52] Es ist an die Allgemeinheit des natürlichen Sitten­gesetzes, bei Elert gar an die Allgemeinheit einer behaupteten Judikatur Gottes geket­tet und gewinnt nur in dieser Allgemeinheit seine Geltung. Es ist gerade diese Allge­meinheit, die die zeitgenössische ethische Diskussion bestimmt – weshalb dann ja auch die seltsame Frage nach einem „Proprium“ der christlichen Ethik diskutiert werden kann. Das zeigt zur Genüge, wie weit wir hier vom biblischen Reden entfernt sind. Anscheinend ist „die Stadt auf dem Berge“[53] abgerissen und irgendwo in die Niederun­gen verpflanzt, wo sie im allgemeinen Siedlungsbrei nicht mehr aufzufallen braucht.

Sicher kann ich auch hier nur eine Problemanzeige geben. Diese muß aber doch zweierlei nennen. Einmal ist die Verbindung von Erwählung und Gesetz zu beachten, die die Unter­schiedenheit der Erwählten von den Übergangenen gerade auch in dem, was ihnen geboten ist, wahrnimmt.[54] Die Erwählten sind an ihrem besonderen Han­deln und Verhalten, in dem sie Gott entsprechen, kenntlich. Das heißt, als Kritik an der traditionellen Lehre von den usus legis formuliert: Die Unterscheidung zwischen einem usus civilis legis und einem tertius usus oder usus in renatis ist unangebracht. Es kann nur ein Gesetz in seinem Anspruch an die Er­wählten geben und also gerade nicht den in der ethischen Tradition dominierenden usus civi­lis. Wie das von den Erwählten geforderte Handeln und Verhalten wieder mit einer allgemei­nen Sittlich­keit zu vermitteln ist, das kann hier nur als Frage genannt werden. Weiter sollte deut­lich werden, wie solche Forderung in ein Handeln und Verhalten einweist, das auf Gottes Entgegenkommen von Zeit zu Zeit zu antworten vermag. Ein Gesetz, das nur im Kopf oder im Herzen wäre, ließe uns mit unserem guten Willen allein und letztlich ungeschoren. Weil uns Gottes Reich entgegenkommt, entbindet es das Tun des Guten. Darum ist gerade auch hier eine Revision der traditionellen Gesetzeslehre angebracht.

Vorgetragen in Prackenfels am 15. Januar 1994.


[1] Vgl. 2.Kor 12,11.

[2] Die Erlanger Theologie, Erlangen 1993, 204.

[3] So sagte man seinerzeit noch nicht, als etwa der Egloffsteiner Pfarrer Otto Siegfried Freiherr von und zu Bibra unter meinen Mitstudenten Furore machte.

[4] Vgl. Theologie und Verkündigung, HUT 1, Tübingen 1962, 10-18.

[5] Zuerst in Thesen zum Verhältnis von Biblischer Theologie und Dogmatik für ein Seminar im SS 1976, in der Festgabe für Friedrich Lang 1978 veröffentlicht.

[6] Der Schriftbeweis 1, 2. A., Nördlingen 1857, 10.

[7] Theologie und Verkündigung, 128-141.

[8] Hamburg 1962.

[9] A.a.O., 139.

[10] Fundamente des Glaubens, Wuppertal 1975, 135.

[11] Vgl. CA V.

[12] Ich nenne dazu als einen anderen Vertreter eines derartigen Sprachgestus Reinhard Slenczka. Er schreibt etwa: „Bezogen auf den Gottesdienst geht es darum, festzuhalten, daß nicht durch den Lobpreis der Gemeinde Gottes­prädikationen auf Jesus Christus übertragen werden, sondern daß er mit dem Vater gepriesen und angebetet wird, weil er in gleicher Weise Gott ist“ (Kirchliche Entscheidung in theologischer Verantwortung, Göttingen 1991, 106). Ich frage hier: Was bringt eigentlich die Versicherung des Theologen zu dem Lobpreis der Gemeinde hin­zu? Doch allenfalls eine verbale Verdoppelung, die aber deshalb uninteressant ist, weil da abgesehen von der gottesdienstlichen Situation nur eben behauptet wird.

[13] A.a.O. 24f. In einem persönlichen Brief zu meinem 60.Geburtstag schrieb mir Künneth u.a.: „Wenn wir auch in unserem Wirken, was selbstverständlich ist, die theologischen Akzente unterschieden setzten, so entspricht das ja wohl der Vielgestaltigkeit des sõma Christoũ und der Mannigfaltigkeit der Lebensfüh­rungen unseres Herrn.“ Auch das ist in diesem Zusammenhang mit zu bedenken.

[14] Wie Zeit trinitarisch-theologisch reflektiert werden kann, dazu verweise ich auf meine Biblische Dogmatik, 1, 123-134.

[15] Paulus ait: Lex iram operatur. Non dicit, per legem mereri homines remissionem peccatorum. Lex enim semper accusat conscientias et perterrefacit. AC IV,39, BSLK S. 167.

[16] BSLK S. 78.

[17] Ebeling kann das so formulieren: Um des Evangeliums willen müsse das Gesetz zur Sprache kommen, wenn das Evangeliums selbst nicht als Gesetz mißverstanden werden solle. „Das Evangelium würde seinen Sinn ver­lieren, wenn es nicht auf das Gesetz ausgerichtet wäre. Um der Verständlichkeit der Predigt des Evangeliums willen – und das heißt zugleich: um der Konkretheit des Evangeliums willen – gehört das Gesetz in die Predigt des Evangeliums. Denn der homo peccator gehört in die Predigt des Evangeliums. Der peccator aber ist nach Luther die materia legis … Was diese ‚materia legis‘ heute konkret ist, wie also den gegenwärtigen Menschen das Gesetz eigentlich trifft, das wäre nun die brennendste Frage der theologischen Lehre vom Gesetz.“ (Wort und Glaube 1, Tübingen 1960, 293).

[18] Der christliche Glaube, 3. A., Hamburg 1956, 140.

[19] Vgl. Thomas v. Aquin, Sth 1-2 q.90 a.4 ad 1 „… quod promulgatio legis naturae est ex hoc ipso quod Deus eam mentibus hominum inseruit naturaliter cognoscendam …“, daß die Verkündigung des natürli¬chen Sitten­gesetzes darin besteht, daß Gott es dem Geist der Menschen eingepflanzt hat als natürlich zu Erkennendes.

[20] A.a.O., 131.

[21] A.a.O.,154f.

[22] Wie mit den fünf Gewehrpatronen in einem Ladestreifen sei das: Von außen her sähen sie ganz ähnlich aus, so daß man keinen Unterschied bemerke. „Und doch besteht er. Eine von ihnen ist vor allen andern ausgezeichnet. Es ist die, von der einer ins Herz getroffen wird. Da gibt es kein Wählen, Verglei­chen, Bewerten mehr. Er liegt am Boden. Und es gibt kein Aufstehen mehr. So und nicht anders verhält es sich mit dem Evangelium von Jesus Christus. Die andern Kugeln zischen vorbei und erschrecken nur das Ohr. Diese trifft.“ (A.a.O., 125).

[23] Gesetz und Evangelium, in: Zwischen Gnade und Ungnade, München 1948, 138.

[24] A.a.O., 139.

[25] Vgl. SD V,10ff; BSLK 954ff.

[26] Ähnliches geschieht übrigens auch bei G. Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens 3.Teil, Tübingen 1979, 284ff.

[27] Vgl. dazu Der christliche Glaube 19ff. Hier begründet Elert, warum er seine Dogmatik „Lutherisch“ nenne. Dazu verweist er auf die christlich begründete Herrschaft des Naturrechts im Mittelalter, aber auch im Calvinis­mus. Luther dagegen habe die Predigt des Gesetzes streng genommen auf einen einzigen Punkt reduziert. „Er hat der Obrigkeit, den Untertanen, dem Hausvater, seinen Kindern und Knechten, dem Kaufmann und dem Kriegs­mann eins eingehämmert: daß sie sich vor Gott zu rechtfertigen haben.“(21f). Sicher weiß Elert auch die Tradi­tion der lex naturalis aufzunehmen (vgl. Das christliche Ethos, 2. A. Hamburg 1961, 100-110). Aber diese gerät ihm ambivalent und muß zudem auf den Gedanken der Judikatur Gottes zugeschnitten werden, so daß die Tradi­tion in Elerts Interpretation kaum wiederzuer­kennen ist.

[28] Ich rede in meiner Biblischen Dogmatik davon als von der „metaphysischen Normalität“, vgl. Sachregi­ster.

[29] Vgl. Der christliche Glaube, 295.

[30] A.a.O., 299.

[31] A.a.O., 345.

[32] Ebd.

[33] Ebd.

[34] A.a.O., 348.

[35] A.a.O., 143.

[36] Daß sich hier in der Christologie Unzuträglichkeiten ergeben, wenn dann doch von der vollkommenen Geset­zeserfüllung Jesu gesprochen werden soll, darauf habe ich schon hingewiesen.

[37] Ich rede in meiner Biblischen Dogmatik von dem in die Welt hinausstehenden Lebenswillen – vgl. exempla­risch die Auslegung von Ps 73 in Bd. 2, 73-85 –, bewerte freilich völlig anders als Elert.

[38] Zwischen Gnade und Ungnade, 38-71.

[39] A.a.O., 39.

[40] Das ist 1946 gesagt als ein harter Widerspruch gegen die Kreuzzugsmentalität der Siegermächte des 2. Welt­kriegs.

[41] Im Blick auf die damals laufende Entnazifizierung sagt Elert dazu: Das sei uns früher als eine Selbst­verständ­lichkeit erschienen, „heute aber nicht mehr, denn ungezählte Christen in Deutschland, die ohnehin schon durch ihren Anteil an der allgemeinen Katastrophe eines irrsinnigen Cäsarismus Gottes Strafgericht erlebten, sind nachträglich noch durch menschliche Strafgerichte in ihrer privaten Existenz auf das härteste gestraft worden, weil sie sich gegen die Obrigkeit, die Gewalt über sie hatte, so verhiel­ten, wie es von dem Apostel Christi den Christen geboten war“ (a.a.O., 70).

[42] Das christliche Ethos, 367.

[43] A.a.O., 389ff.

[44] So die Untertitel von „Der christliche Glaube“ und „Das christliche Ethos“.

[45] Wie „modern“ Elert ist, zeigt sich daran, wie stark Ebeling in seiner Aufnahme Luthers mit ihm überein­stimmt. Ebelings Annäherung an Schleiermacher in Christologie und Soteriologie hat bei Elert freilich keine Parallele.

[46] Sicher lassen sich in diesem Zusammenhang nur einige Andeutungen machen. Doch liegt ja meine Biblische Dogmatik mit ihren drei Bänden vor, auf die ich zur weiteren Ausführung verweisen kann.

[47] Vgl. D. Hollaz, Examen theologicum acroamaticum, Stargard 1707, III,1, 1f.

[48] Exemplarisch ist dazu Röm 9-11 zu bedenken. Ich führe Röm 11,32 an: „Denn Gott hat alle einge­schlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.“

[49] Ich erinnere dazu an Barths Lichterlehre und an Karl Rahners Konzeption einer „suchenden Christolo­gie“ in den Religionen. Vgl. Biblische Dogmatik 3, 444-451.

[50] Charakteristischerweise muß ja das Alte Testament dort abgewertet werden, wo das universale Gesetz die pri­märe Gestalt der Kommunikation von Gott und Welt ist. Vgl. dazu mein kritisches Referat zu Althaus und Elert, Biblische Dogmatik 1, 250ff. Elert etwa schreibt: Das Alte Testament „ist auch Autori­tät für die christliche Kir­che. Aber seine Autorität ist der des Neuen Testamentes subordiniert, weil sie nur aus dieser abzuleiten ist“ (Der christliche Glaube, 189).

[51] Ich habe darum die Anthropologie als Christologie entwickelt, indem ich die Geschichten vom Reden, Tun und Erleiden des irdischen Jesus, nach den Stationen des ordo salutis zusammengeordnet, nacher­zählt habe. Vgl. Biblische Dogmatik 3, 120-181.

[52] Vgl. Ps 1,1 u.ö.

[53] Mt 5,14. Dazu vgl. G.von Rad, Die Stadt auf dem Berge, Ges.St. zum AT, ThB 8, München 1958, 214- 224.

[54] Vgl. 5.Mose 4,5-8; Mt 5,43-48.

Hier Mildenbergs Text als pdf.

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