Sie und wir. Zum Jahrestag der Kristallnacht (November 1939)
Von Martin Buber
Was vor einem Jahr in Deutschland geschah, wird im Gedächtnis der Geschichte als eins der grauenhaftesten Beispiele für den Verrat eines Staates bewahrt werden. Den Begriff „Verrat“ gebraucht man im Bereich der Beziehungen zwischen dem Staat und seinen Bürgern nur im Sinne des Verrats von unten nach oben: man spricht von verräterischen Bürgern, von ihrem Verrat am Staat. Aber der schlimmste Verrat dieser Art kann nicht so unheilsschwanger sein wie der, den der Staat an einem Teil seiner Bürger begeht. Wenn irgendein Staat, wie es jetzt Deutschland mit seinen Juden tat, eine seiner Minderheiten, diejenige, die am meisten auffällt, aus dem Bereich seines Schutzes und seiner Verantwortung stößt und sie langsam oder schnell vernichtet, ohne daß sie sich an ihm vergangen hätte, so erschüttert er damit die Fundamente seines eigenen Bestands. Denn ein Staat kann nicht bestehen, wenn ihm seine Bürger nicht vertrauen, daß er ihnen ebenso die Treue wahrt wie sie ihm. Wenn die Deutschen sich auch gestern oder heute beruhigt haben: das alles sind ja nur Juden, die man gequält und getötet hat, deren Heiligtümer geschändet und zerstört wurden, die Juden, die erst vor wenigen Generationen die Gleichberechtigung erhielten, — so nagt doch der Wurm am Herzen aller, die nicht zur Sippe der Gewalttäter und ihrer Brotgeber gehören, und sie müssen darauf gefaßt sein, daß nach dieser nationalen Minderheit eine andere Minderheit an die Reihe kommen wird — eine religiöse oder soziale; und wenn es so weit kommt, dann nagt der Wurm am Herzen des Staates selbst. Dieses Regime muß zerfallen, und zerfällt es nicht bald, kann man das Ungeheuer nicht schnellstens bewältigen, breitet sich dies Mißtrauen aus, so wird der Bevölkerung die Lust vergehen, dem Staat zu dienen.
Ich sprach absichtlich vom deutschen Staat, das heißt von der Organisation, die sich das deutsche Volk errichtet hat oder der es beistimmt, oder von den Machthabern, die es erstellt hat oder duldet, und nicht vom deutschen Volk selber. Was vor einem Jahr in Deutschland geschah, war nicht ein Ausbruch der Volksleidenschaft, eines volkstümlichen Judenhasses, ebensowenig wie in irgendeiner Handlung, die in jenen sieben Jahren an uns begangen wurde. Es war ein Befehl von oben und wurde genau, mit der Genauigkeit einer zuverlässigen Maschine ausgeführt. Während der Vorbereitung der Nürnberger Gesetze zogen zwei Wochen lang jeden Morgen um sechs Uhr an den Fenstern meines Hauses in Heppenheim Schulkinder vorbei und sangen das schöne Lied: „Wenn erst das Judenblut vom Messer spritzt“; damit war der gegebene Befehl erfüllt. Am Morgen darauf erwarteten wir vergeblich den Aufzug. Was elementarer Judenhaß ist, ein Ausbruch aus den Tiefen der Triebe, — das sah ich in Polen, in Deutschland habe ich es nicht gesehen. Daß der Apparat programmgemäß gegen die Juden arbeitet, das ist kein besonderes Problem; so war es bereits in den anderen Fällen. Vielleicht ist es eine alte Gewohnheit des deutschen Volkes, den Machthabern zu gehorchen, denn da sie das Staatsruder halten, ist ja der Beweis dafür erbracht, daß sie von der Geschichte bestätigt sind, daß sie von Gott gesandt sind; es fällt anscheinend dem deutschen Menschen schwer, zwischen Gott und dem Erfolg zu unterscheiden und sich einen Gott vorzustellen, der nicht mit den starken Bataillonen geht, sondern „bei dem Zermalmten und Geisterniederten“ (Jes 57,15) wohnt. Sogar bei einigen wahrhaften Geistesmenschen in Deutschland hatte ich den Eindruck, daß sie durch die ihnen natürliche Vereinsamung und ihre Unfähigkeit zum öffentlichen Handeln an jeden zu glauben geneigt sind, der das politische Geschäft mit Gewalt ergreift und mit hemmungsloser Härte betreibt. Aber in der jüdischen Sache ist dem noch etwas beigetan, das ein besonderes Problem darstellt und für uns ungemein lehrreich ist: es ist dies die innere Haltung auch vieler von denen, die ihren Beziehungen zu Juden treu geblieben sind und verfolgten und leidenden Juden halfen. Wenn man mit ihnen ins Gespräch kommt, sieht man, daß sie zwar in vielen Fällen ein gutes menschliches Gefühl des Mitleids mit denen haben, die als vogelfrei erklärt wurden, aber es mangelt ihnen auch nicht an Verständnis für die Motive der Verfolger. Gewiß bedauern sie die grobe Form des Ausstoßens, die sie gern mildern würden, aber in ihrem Innern sind sie mit der Grundtendenz einverstanden. Diese wichtige Tatsache dürfen wir nicht mit der Erklärung abtun, das deutsche Volk sei von einer Krankheit befallen, und mit seiner Gesundung werde alles wieder ins Geleise kommen. Dies ist eine einfältige Illusion und die Art eines unreifen Verstandes, eine historische Wirklichkeit zu beurteilen. Freilich leidet das deutsche Volk an einer schweren Krankheit; seine jetzigen Feinde sind mit an dieser Krankheit schuld, aber mit seiner Gesundung wird durchaus nicht alles wieder ins Geleise kommen; und eine Ursache unter andern ist auch die, daß schon früher, ehe das Volk erkrankte, die Dinge nicht im Geleise liefen. Hier müssen wir die ernste Problematik erkennen, auf die auch heute hinzuweisen ich mich verpflichtet fühle, eben weil ich weiß und von Mal zu Mal sage, daß ein großer und echter Bund zwischen dem deutschen und dem jüdischen Geist bestanden hat, ein Bund, der seine Bestätigung durch echte Fruchtbarkeit erhielt; nur wenn wir die Problematik betrachten, die diesem Bund eigen war, wenn wir sie betrachten, ohne uns zu schonen, werden wir aus diesem Kapitel jüdischer Geschichte, das nun abgeschlossen ist, lernen, was es aus ihm zu lernen gibt.
Aus Unverstand pflegt man bei uns den Antisemitismus nach der Emanzipation als einfache Fortsetzung zu sehen, als Rückkehr zum Antisemitismus vor der Emanzipation, der hauptsächlich auf religiösen Gefühlen beruhte. Aber der frühere war das Ergebnis der Fremdheit und der spätere das Ergebnis des Kontakts; dort haßte man, wie Pinsker sagt, gleichsam ein Gespenst, das erschreckend und unverständlich war, hier aber haßte man einen lebendigen Menschen, den man bereits einigermaßen kannte. Zwar überwand man noch nicht das Empfinden eines Gespensts in der verhaßten Erscheinung, aber das Gespenst hatte ja einen Körper erhalten. Ich sage: „haßte“; aber in Wirklichkeit traf ich in Deutschland nur selten Menschen, die Juden haßten. Dagegen traf ich oft solche, denen die Juden verdächtig erschienen.
Was war es, das auf sie in solcher Weise wirkte?
Ich möchte meine Worte darüber nur auf ein Gebiet beschränken, das das Gerippe im Leben des Volkes ist, das Gebiet der Wirtschaft. Aber was in bezug auf dieses wahr ist, ist mit gewissen Änderungen auch für die anderen, höheren Lebensgebiete wahr. Bekanntlich rührt die Problematik des jüdischen Verhältnisses zur Wirtschaft der herrschenden Völker daher, daß ihre Beteiligung meist nicht beim Fundament des Hauses beginnt, sondern im zweiten Stockwerk. Dagegen haben sie keinen Anteil oder nur einen sehr geringen an der Urproduktion, an der mühevollen Erlangung der Rohstoffe, der Schwerarbeit am Boden, sowohl Landwirtschaft wie Bergwerk. In der handwerklichen Bearbeitung der Rohstoffe bevorzugen sie zumeist die leichten Berufe, die im Sitzen ausgeübt werden, und in der industriellen Bearbeitung stellen sie Techniker, Ingenieure und Direktoren und halten sich von der schweren Arbeit an der Maschine fern. Wie ich mit großer Sorge hörte, hat sich daran auch in der sowjetrussischen Wirtschaft nicht viel geändert. Nun ist es aber ein Grundzug im Leben aller modernen Völker, ein unausgesprochener und rechtmäßiger Grundzug, daß das Wachstum und die Fruchtbarkeit des Lebens nur durch ein ständiges großes Volksopfer durch die unermüdliche Hingabe der Volkskräfte an die Gewinnung und Bearbeitung der Rohstoffe erreicht werden kann. Die Söhne dieser Arbeiterschichten, die in die geistigen Berufe aufsteigen, sind in gewissem Maß ein sich stets erneuerndes Sinnbild dieses Vorgangs. Wenn nun ein Teil der Bevölkerung, der fast überall durch seinen körperlichen Typus und seine eigentümlichen Bewegungen auffällt, an diesem Volksopfer nicht teilnimmt — mögen die Ursachen dafür auch in der Vorgeschichte wurzeln —, aber an den Früchten dieses Opfers, am geistigen Leben und am geistigen Werk des Volks einen vollen und sogar ihren Prozentsatz an der Allgemeinbevölkerung übersteigenden Anteil fordern; wenn sie sich scharenmäßig den Söhnen der Opferträger anschließen und sie sogar von ihrem Platz verdrängen, dann ist der Boden für den neuen Antisemitismus bereitet. Er bricht aus, wenn eine Wirtschaftskrise dazu Anlaß gibt, wenn der Lohn des Volksopfers sich sehr vermindert, wenn der Aufstieg der Söhne behindert wird, und besonders, wenn durch Arbeitslosigkeit breiten Teilen des Volkes etwas viel Schwereres auferlegt wird, als jenes Opfer — nämlich ein zweckloses, hoffnungsloses Leben. Die Juden, die sich in den oberen Geschossen hervortun, tatsächlich oder augenscheinlich von all dem nicht betroffen wurden, fallen dann noch mehr auf als bisher, und im Herzen der Betroffenen wandelt sich der Eindruck in tiefe Verbitterung, die mit Sprengstoff zu vergleichen ist; nun fällt in ihn als Zündfunke die politische Losung.
Diejenigen, die den Funken in das Pulverfaß warfen, werden dem Gericht nicht entgehen. Aber wir erfüllen unsere Pflicht nicht, indem wir trauern und klagen. Wir müssen aus dem Geschehenen lernen und das Gelernte in die Tat umsetzen. Die gewaltige Sache, keiner andern in der Geschichte zu vergleichen, an die wir in Palästina gegangen sind, hat ja keinen anderen Sinn und wird keinen andern Bestand haben als den, daß wir uns nun endlich ein wirkliches eigenes Haus bauen, und so, wie man ein Haus baut, das lange dauern soll, das heißt: auf festen und starken Grundmauern. Und das Haus des Volks hat keine andere Grundmauer als die des Dienstes seiner breiten Schichten, die die Gesellschaft tragen, an der Erzeugung und Bearbeitung der Rohstoffe. Das geistige Leben müssen wir uns durch Opfer schwerer Arbeit am Boden und seinen Erzeugnissen erkaufen. Wir werden keine echte Kultur erreichen, wenn wir den Unterbau nur flüchtig erstellen, um schnell in die prächtigen Obergeschosse einzuziehen; täten wir es, so würde alles zusammenfallen. Jedes geistige Werk wird rechtmäßig nur aus der Fülle des Lebens geboren, die dem großen körperlichen Werk des Volks entspringt; alles andere ist künstlich und vergänglich. Wer von uns nicht am Arbeitsopfer teilnehmen kann, muß sich zu jeder Stunde und in jeder Lage unmittelbar als Genosse der Arbeitenden fühlen. Er muß wissen: diese Arbeit ist meine Angelegenheit, nur durch sie erhält mein Leben Grundlage und Sicherheit, ohne sie würde ich in der Luft hängen; ich habe keinen anderen wirklichen Boden unter den Füßen außer dem, den mein arbeitender Bruder mit seiner Mühe für mich erwirbt. Es ist sehr traurig zu sehen, daß sogar hier, in diesem Land, das wir unser Land nennen, sich die Verehrung der oberen Geschosse verbreitet, die nur einen flüchtigen Blick nach unten wirft, um dann mit Begeisterung ihr Auge nach oben zu lenken. Dies ist Galuth auf dem Boden Zions. Das, was man Volk nennen darf, wahres Volk, einheitliches Volk, kann nicht anders erreicht werden als dadurch, daß der Geist die Arbeit mit einem Kreis der Liebe umringt.
Gelingt uns diese Änderung der Perspektive, diese Umwertung der Werte, dieser einheitliche Aufbau des öffentlichen Lebens von unten nach oben, dann wird von hier auch auf die Diaspora und ihre Beziehung zu den herrschenden Völkern ein Einfluß ausgehen, dessen Stärke und Tiefe vorerst nicht abzusehen sind.
Noch wichtiger aber als diese ist eine andere Lehre, wiewohl sie im Grunde beide eins sind. Sie richtet sich gegen eine Irrlehre, die unter uns verbreitet ist und die man etwa so formulieren kann: der äußerste und totale nationale Egoismus, der in Deutschland herrscht, ist an und für sich richtig, es ist die richtige Politik einer Nation, und besonders in Zeiten der Krise; uns erscheint sie nur deshalb negativ, weil sie gegen uns gerichtet ist; der wichtigste Maßstab für uns ist der unseres nationalen Egoismus. Unter allen Greueln der Assimilation kenne ich keine Anschauung, in der sich Juden dermaßen erniedrigen wie in dieser, die sich anmaßt, ein Ergebnis des Zionismus zu sein. Jahrtausende lang bekannten wir uns zu der Lehre, daß die Welt auf Gerechtigkeit gegründet ist, auf Gerechtigkeit zwischen Mensch und Mensch, zwischen Volk und Volk; wir sagten uns und der Welt: das Geschichtsbild, das dem Frevler Sieg und Macht zuteilt, führt irre, denn innen ist sein Sieg Niederlage und seine Macht Schwäche. Und nun tritt uns in dieser Stunde das Zerrbild des Unrechts entgegen, die Fratze eiskalter Gemeinheit, der Grausamkeit, die wie eine Maschine funktioniert, ein Golem, auf dessen Stirn Satans Name geschrieben ist, er bemächtigt sich einer unserer Gemeinschaften nach der andern, schändet und zerstört eine unserer Gemeinschaften nach der andern. Und nach alledem wimmeln unter uns die Leute, die sagen: dieser Satansbote fugt uns zwar Unheil zu, aber Satan selbst hat recht, Satan ist der wahre Gott, es gibt keinen Gott außer ihm! Nach alledem wimmeln unter uns die Leute, die lehren: solange wir schwach waren, haben wir erklärt, was wir erklärt haben, weil wir schwach waren, aber jetzt müssen wir erstarken und die Werke des Satan tun, wie die Starken, damit es uns auf dem Boden wohl ergehe. Wenn wir diese Lehre annehmen, dann unterschreiben wir mit eigener Hand die Anklageschrift gegen uns. Und dieses Land — daß es nicht mit Unrecht gebaut werden kann, seine ganze Geschichte bezeugt es. Wer das nicht wahrhaben will, wer meint, daß dies ein Land sei wie alle Länder, ebenso wie wir seiner Meinung ein Volk wie alle Völker sind; wem das Wort vom Heiligen Land ebenso wie das vom Gottesvolk eine veraltete Redensart ist, der handelt im Land Israel wie Hitler, denn er will, daß wir Hitlers Gott dienen, nachdem sie ihm einen hebräischen Namen beigelegt haben. Und wer wie Hitler handelt, wird mit ihm zusammen untergehen. Wir müssen ihn bekämpfen, indem wir seinen Götzen vernichten. Wir müssen das Reich des Frevels bekämpfen, indem wir den Frevel bekämpfen.
Können wir ihn bekämpfen? Wir können es, indem wir in diesem Land das Reich des Gottes der Gerechtigkeit errichten. Wie können wir dies tun? Dadurch, daß wir ein gerechtes Leben fuhren. Kann man das in dieser Stunde beginnen? Es gibt keine Stunde, die dafür geeigneter wäre als diese. „Gott führt Krieg gegen Amalek“ — siegen können wir nur, wenn wir unsere Krieg als Gottes Krieg führen. An der jetzigen Kriegsfront, an der die, die gegen Hitler kämpfen, nur wissen, wogegen sie kämpfen, nicht aber wofür, ist Gottes Wahrheit nicht zu finden. Aber hier ist sie zu finden, — wenn wir nur wagen, ihr zu dienen.
Quelle: Martin Buber, Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden. Mit einer Einleitung von Robert Weltsch, Köln: Joseph Melzer, 1963, S. 648-654.
Ich verstehe nicht, warum die Juden damals so selten Arbeiter waren, hatten sie höhere Bildung als die Deutschen?