»Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt …«
»Wer mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt, bleibt in mir und ich in ihm.« (Joh 6, 56)
Von Reinhold Schneider
Vielleicht sind diese heiligen Worte unter allen, die Christus gesprochen, die Worte des stärksten Anstoßes. Die Juden nannten diese Rede hart, viele Jünger wichen von ihrem Meister, wenn auch die auserwählten Zwölfe ihm die Treue hielten; zu Anfang des folgenden Kapitels berichtet der Evangelist, daß der Herr in Judäa nicht mehr wandeln wollte, weil die Juden ihm nach dem Leben trachteten. Diese Worte sind, mit einigen andern des Erlösers, die seine Gottheit bezeugen, das Ungeheuerste, das jemals aus Menschenmund kam. Daß die Menschen das Fleisch dessen essen sollten, der vor ihnen stand, und sein Blut trinken, und zwar nicht in einem bildlichen Sinne, sondern in einem furchtbar-erhabenen, gegenständlichen; daß er, den sie mit ihren Augen sahen, mit ihren Händen betasten konnten, ein Mensch ihresgleichen, sich das lebendige Brot nannte und diejenigen nur das ewige Leben haben würden, die dieses Brot essen; daß er sein Fleisch gebe für das Leben der Welt: dies mußte den Hörern Herz und Sinn verstören, und auch wir müßten, nach zweitausend Jahren, seit diese Worte gesprochen und wahr und gegenwärtig geblieben sind, erschauern bis ins Innerste, sooft wir diesen schrecklich verheißungsvollen Worten wieder begegnen. Sie stehen vor uns mit der Eindringlichkeit eines Menschen, der uns anspricht auf unserm Wege; wir können nicht an ihnen vorüber. »Denn mein Fleisch ist wahrhaftig eine Speise, und mein Blut ist wahrhaftig ein Trank.« Es sind vielleicht die christlichsten Worte: diejenigen, in denen das ganze Wesen des Christentums beschlossen ist. Sie nehmen die Gottheit dessen an, der sie sprach, und seine heilige, Brot und Wein verwandelnde Macht und zugleich seine Liebe, seinen Entschluß, sich dem Heil der Menschen zu opfern, seine Gewalt über das ewige Leben und sein Leben im Vater. Diese Worte haben mit einer Lehre nichts zu tun; sie setzen eine Wirklichkeit. Hier ist die Grenzscheide, hier beginnt das Christentum wirklich. Und so könnten wir unter allem, was der Erlöser uns geoffenbart, diese Worte am wenigsten entbehren; in ihnen ist er selbst. Der so spricht, ist das Wort, das von Anfang war, das schaffende Wort. Niemals wieder ist es geschehen, daß Aussage und Vollzug wesensgemäß eins waren; daß es völlig unmöglich war, zwischen dem Wort und seiner Erfüllung zu unterscheiden. Christus ist da als das Wort, das geschieht, indem es gesprochen wird; als die Speise des ewigen Lebens, als die lebendige Wahrheit, die Wahrheit in Menschengestalt.
Es ist nicht denkbar, daß ein zweiter solche Worte gesprochen hätte; dieser zweite hätte ein Narr oder ein Betrüger sein müssen, und er hätte nur Narren und Betrüger zur Gefolgschaft gewonnen. Diese Worte konnten auch nicht erfunden werden; sie mußten wahr sein und die Wirklichkeit bestimmen und als wirkende Wahrheit fortbestehen, bis zum Ende der Welt. Ein erfindender Geist reicht nicht in diese Dimension der Wahrheit, der Gewalt über das Sein. Diese Worte kommen von oben her, gleich dem Brot, »welches vom Himmel herabgekommen ist«: sagen sie doch aus, was dieses Brot ist in Ewigkeit. Als eine wirkliche Macht wurden sie auch empfunden, da sie in der Synagoge zu Kapharnaum ausgesprochen wurden; sonst hätten sich die Juden nicht entsetzt, wären die Jünger nicht gewichen, hätte die Glaubenskraft des heiligen Petrus sich nicht zu ihnen bekannt: »Du hast Worte des ewigen Lebens!« (Joh 6, 68) Hier ist ein Grund des Glaubens, der nicht unter uns wanken kann. An dieser Stelle können wir sagen und bekennen, warum Christus der einzige ist, Gott und Mensch, Herr und Lamm, Priester und Opfer zugleich. Hier ist das Ärgernis, das sich auf keine Weise beschwichtigen läßt; hier ist im Grunde die ganze Stiftung Christi. Indem wir sein Fleisch essen und sein Blut trinken, leben wir in ihm und er in uns, gleichwie er im Vater lebt, in der Einheit des Heiligen Geistes. Hier entspringt das Tun der Wahrheit, der Vollzug der Botschaft. Dieses Tun ist das eigentliche. Es kommt darauf an, daß wir »in seiner Rede verbleiben« (Joh 8, 31), das heißt, daß wir sie tun; nur dann werden wir seine Jünger sein; nur indem wir sie vollziehen, werden wir die, Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird uns frei machen. Christus hat uns das Beispiel gegeben, »damit auch ihr tuet, wie ich euch getan habe« (Joh 13, 15). Nicht um das Wissen geht es, sondern um das Tun: »Wenn ihr dieses wisset, selig seid ihr, wenn ihr danach tut« (Joh 13, 17). Nur wer die Lehre tun will, wird das Göttliche der Lehre erkennen. »Wenn jemand seinen Willen tun will, wird er innewerden, ob diese Lehre von Gott sei oder ob ich aus mir selbst rede« (Joh 7, 17). Das heißt: Wer nicht tut, kann das Eigentliche auch nicht erkennen; nur im Vollzüge erschließt es sich. Was Christus gebracht hat, ist kein Gegenstand der Erwägung, des zwischen Für und Wider schwankenden Gesprächs; er hat ein Tun gesetzt, und indem wir in dieses eintreten, spüren wir, daß es um uns hell wird, daß wir in der Wahrheit sind.
Darum sagt auch der Lieblingsjünger, der ihm am Herzen gelegen: »Wer da sagt, er kenne ihn, und hält doch seine Gebote nicht, ist ein Lügner, und in diesem ist die Wahrheit nicht« (2 Joh 2, 4). Es ist nicht möglich, Christus zu kennen und seine Gebote nicht zu halten; das Kennen bedeutet ein Leben in ihm, ein Mächtigwerden Christi in uns, ein Verbleiben in seiner Rede. Als sich die Juden auf Abraham als ihren Vater beriefen, antwortete ihnen Jesus: »So tut auch Abrahams Werke« (Joh 8, 39); das Zeugnis der Wahrheit ist das Tun. Die Werke waren des Erlösers Zeugnis von sich und seinem Ursprung: »Tu’ ich die Werke meines Vaters nicht, so möget ihr mir nicht glauben; tu’ ich sie aber, so glaubet den Werken, wenn ihr mir nicht glauben wollet …« (Joh 10, 37-38). Denn »der Vater, der in mir wohnt, dieser tut (auch) die Werke« (Joh 14, 10). Das Wort ist Fleisch geworden, das heißt: die Wahrheit ist gegenständlich da, und dieses wirkende Sein ist ihr wesentlich. Christus war, wie der hl. Paulus schrieb, »nicht Ja und Nein, sondern Ja war in ihm« (2 Kor 1, 19). Die Christen sollten sich selber aufbauen als »lebendige Steine« zum geistlichen Hause (1 Petr 2, 5). Wahrheit ist konkrete Wirklichkeit: »Durch den Glauben erkennen wir, daß die Welt durch das Wort Gottes geschaffen worden, damit aus Unsichtbarem Sichtbares würde« (Hebr 11, 3). Dies ist die Botschaft Christi: das Sichtbarwerden seines Lebens in uns. Daher die gewaltige Verheißung des Herrn, die er auf dem Laubhüttenfest ausrief: »Wer an mich glaubt, aus dessen Leibe werden, wie die Schrift sagt, Ströme des lebendigen Wassers fließen« (Joh 7, 38). Wir müssen diese Rede in ihrer Gegenständlichkeit annehmen: Christus (der Herr) hat nicht vom Geiste, er hat vom Leibe des Gläubigen gesprochen; der Glaube, die Wahrheit können nicht sein, ohne zu wirken und sichtbar zu werden; das Wort ist Fleisch geworden, auch der Glaube wurde Fleisch; der von ihm ausgehende Segen ist ein lebendiger Strom, mächtig wie eine dahinstürmende Wasserflut. Wir können ihn, Christus, nur erreichen, indem wir ihn tun, sein Fleisch essen und sein Blut trinken, damit er lebe in uns, nicht mehr wir. Erst indem er Fleisch annahm, konnte er Speise werden; da er Speise wurde und sich zur Speise hingegeben hat, lebt die Welt. Die das Wort tun, gelangen in einen Bereich, der unendlich viel weiter ist als der von den Worten der Heiligen Schrift umfaßte Bezirk; ja diese heiligen Worte sinken fortan gewissermaßen zurück; aus dem Leben in Christus können wir wissen, was die Schrift uns nicht sagt: das Tun der Wahrheit (des Wortes) in dieser unserer geschichtlichen Stunde, das Wirken für das Sichtbarwerden des Unsichtbaren jetzt und hier; das Verhalten vor versuchenden, bedrängenden Gewalten. Aus dem Tun allein werden wir auch lernen, die Geister zu prüfen, ob sie aus Gott sind (1 Joh 4, 1). Denn da nur der Geist, der bekennt, daß Jesus Christus im Fleische gekommen ist, aus Gott ist, so kann der nur die Geister scheiden, der Christus kennt. Aber wir erkennen Christus nur, wenn er in uns lebt. Er ist die Tür (Joh 10, 9); sein Reich ist in diesem Sinne auf das strengste abgegrenzt und umschlossen; die nicht tun nach seinem Wort, sein Fleisch nicht essen, sein Blut nicht trinken, deren Fleisch und Blut nicht verwandelt wird aus seiner Kraft, gelangen nicht hinein. Christus können wir nur finden, sofern wir ihm nachfolgen; indem wir mit ganzem Herzen danach trachten, daß unser Leben übergehe in das seine und untergehe in ihm; aber der Anfang der Nachfolge bleibt ein Geheimnis: wen der Vater nicht »zieht« (Joh 6, 44), der wird nicht dazu bewegt.
Christus hat uns erlöst durch seinen Tod; auf seinem Tode ruht das Sakrament, das unser Fleisch verwandelt in sein Fleisch, unser Blut in sein Blut, unser Leben in sein Leben. Allein vom Vollzug des Sakramentes her kann das Christentum verstanden, kann es unterschieden werden. Es wäre nicht im Sinne des Herrn, wenn wir das Ärgernis abschwächen, den Stein des Anstoßes aus dem Wege räumen wollten. Die Welt wird sich ärgern und wird Anstoß nehmen, solange sie ihre unsichere Bahn durchmißt, gehalten, ohne daß sie es weiß und wissen will — was wir nicht wissen wollen, das werden wir auch nicht wissen —, von Gottes Gnadenmacht. Aber das eine ist gewiß: was der Herr gebracht hat, konnte kein zweiter vor ihm noch nach ihm bringen; kein zweiter war die Wahrheit der Botschaft; kein zweiter konnte buchstäblich sein Fleisch und Blut zur Speise geben. Mit dieser Tatsache ist etwas Unsägliches hereingebrochen in das Leben der Menschen, in die Geschichte; kein Gedanke, wie ihn Menschen zu denken vermögen, sondern eine Wirklichkeit, die die irdische Wirklichkeit an sich ziehen, erheben, verändern, mit heiliger Flamme durchläutern will. Es ist das tausendfältig sich verbreitende, fortsetzende, erneuernde Leben Gottes in unserm Leben. Christsein, das heißt: Christi Fleisch essen und sein Blut trinken. Es ist das höchste Tun überhaupt; das Tun zu seinem Gedächtnis. Aus diesem Tun quillt das Licht, dessen die Erde am dringendsten bedarf und das auf keine andere Weise erreichbar ist; dieses Tun ist der Anfang eines Wirkens von der Zeit zur Ewigkeit hin, welches Wirken wir nicht umgrenzen können, weil ein anderer in ihm mächtig ist. Das Reich Christi ist die in der Zeit vollzogene Gemeinschaft seines Fleisches und Blutes; die Macht seines in der Geschichte gegründeten, aus ihr nicht mehr zu bannenden Mysteriums. Es ist das Leben der Gläubigen, deren Speise sein Fleisch, deren Trank sein Blut ist. Und es ist keine Gemeinschaft möglich, die inniger wäre als diese, in der auf geheimnisvolle Weise ihr Stifter selber als Priester und Opfer lebt, als des Lebens eigentliches Leben; keine, die in so unbedingtem Sinne, in schroffsten Widerspruch zur Welt Gottes Gegenwart, Gottes unergründliche sich hingehende Liebe voraussetzt und an sie glaubt.
1944
Quelle: Reinhold Schneider, Allein der Wahrheit Stimme will ich sein, Freiburg-Basel-Wien: Herder Verlag, 1962, S. 110ff.