Im Hinblick auf die Predigtperikope 5.Mose/Dtn 7,6-12 für den 6. Sonntag nach Trinitatis hat Georg Braulik OSB in der Neuen Echter Bibel diese Perikope hilfreich kommentiert:
Kommentar zu Deuternomium 7,6-12
Von Georg Braulik
6-8 Israel muß als Kontrastgesellschaft zu den Vorbewohnern des Landes (2f) und deren religiösen Ausdrucksformen (5) leben, weil es ein für JHWH »heiliges Volk« (‘am qādōš) und sein »Eigentumsvolk« (‘am segullāh) aus allen Völkern ist. Die Aufgabe der Absonderung ergibt sich aus der Gabe der Aussonderung. Diese wird in 6-8 in einer Theologie der Erwählung – Ziel 6, Ursache 7 und historische Verwirklichung8 – begründet.
6a Heiligkeit kommt dem Göttlichen zu und meint zugleich das Unterschiedensein vom Allgemeinen, Gewöhnlichen und Profanen. Sie wird im AT sonst mit Gott oder dem Kult verbunden (s. aber zu 2315), das Deuteronomium spricht sie dem ganzen Volk zu. Ganz Israel wird als »heiliges Volk« gewissermaßen in den göttlichen Bereich hineingezogen und der gesamten übrigen Menschheit gegenübergestellt. Da seine Andersartigkeit mit seiner Sozialordnung zusammenhängt, hat seine Heiligkeit eine gesellschaftliche Ausdrucksform: Sie zeigt sich in den sozialen Strukturen und Formen des persönlichen Lebens, in denen sich diese Gesellschaft von Gott her entwirft (vgl. 2618f). Der Begriff »Kontrastgesellschaft« verdeutlicht den Aspekt der Andersartigkeit des »heiligen Volkes«, bringt jedoch nicht deren Wurzel zum Ausdruck: die besondere Gottunmittelbarkeit. Denn die Heiligkeit ist keine moralische Leistung, die Israel aufgetragen wäre, oder kultische Qualität, die es sich selbst erwerben könnte. Sie stammt aus einer vorgegebenen, unergründlichen Zuneigung JHWHs (vgl. Lev 2026). Auch die Sammelbewegung Jesu zielte auf dieses »heilige Volk«, in dem die Gesellschaftsordnung des Reiches Gottes (s. Mt 5-7) verwirklicht wird. Das endzeitliche Gottesvolk lebt z.B. durch seinen Gewalt- und Herrschaftsverzicht in scharfem Kontrast zu den übrigen Gesellschaften der Welt. Die Vaterunser-Bitte »geheiligt werde dein Name« (Mt 69) heißt vor dem Horizont von 76-11: »Sammle dir ein erneuertes Volk, das wahrhaft heilig ist, damit so das Reich Gottes aufleuchten kann und dein heiliger Name in seiner ganzen Herrlichkeit allen Völkern vor Augen steht« (G. Lohfink). Die Christen der Jerusalemer Urgemeinde (z.B. Röm 1525f 1 Kor 161), später alle Gemeinden, auch die heidenchristlichen, die sich als Erben Israels ansahen, sprachen von sich als den »Heiligen« (z.B. Röm 17 1 Kor 12 6lf).
6b Wenn Gott erwählt, dann letztlich, um die ganze Welt zu verändern. Die Erwählungsvorstellung wurde vom Deuteronomium erstmals systematisiert, konzentrierte sich aber hier noch auf das, was sie für das Gottesvolk bedeutet. Bald darauf entfaltete Deuterojesaja den Begriff auch im Blick auf die Völkerwelt. Im Alten Orient galten der König und gelegentlich auch der Tempel als erwählt. Auch JHWH »erwählte« (bāḥar) Könige (z.B. 1 Sam 1024 2 Sam 621) und den Zion, den Ort des späteren Zentralheiligtums (Ps 13213). Das Deuteronomium überträgt die Erwählungsterminologie von den Davididen auf das ganze Volk (vgl. die Israel-Relecture des Davidbundes in Jes 553 und des Königstitels »Knecht« [Ps 7870 894.21] in Jes 418 421 4310 496f 659). Würde und Funktionen des davidischen Königs kommen jetzt also Israel selbst zu (vgl. z.B. 46). Wenn Israel sich trotzdem einen König einsetzen will, dann muß er aus der Mitte der israelitischen Brüder kommen und soll natürlich einer sein, den JHWH erwählt (1714f). Wie JHWH das Volk für sich erwählt, so erwählt er dann auch eine »Stätte«, an der er für Israel da ist und dieses sich in Opfer und Fest als Volk seines Gottes JHWH verwirklicht (s. zu 1211). Zu diesem Dienst werden letztlich auch die levitischen Priester erwählt – als Stamm aus den Stämmen Israels (185 215, vgl. 1 Sam 228). Die deuteronomische Erwählungstheologie stammt wahrscheinlich erst aus der Stunde der tiefsten Erniedrigung Israels, dem babylonischen Exil. Damals war ein triumphalistisches Mißverständnis nicht möglich. Zugleich durfte die eigene Identität um JHWHs willen nicht preisgegeben werden. Israels Erwählung wird durch einen weiteren Begriff bestimmt: »Das Volk, das ihm persönlich gehört«. Der hebräische Ausdruck, den das Deuteronomium erstmals in diesem Zusammenhang heranzieht, meint den Sonderbesitz, den eine Person neben dem Familienbesitz haben konnte, die »Privatschatulle«, oder anderes persönliches Eigentum eines Königs neben dem Throngut (Koh 28). Schon in Dokumenten des 2. Jahrtausends v. Chr. werden Vasallenkönige mit dem gleichen Wort als »persönlicher Besitz« ihres Großkönigs und ein König als »Sondereigentum« seines Gottes bezeichnet. Zu dieser Stellung wird im Deuteronomium Israel erhoben. Im Bundesschluß stimmt es 2618f dieser Beanspruchung durch JHWH eigens zu, nimmt sich also selbst als von Gott erwählt an (vgl. Ex 195f 1 Petr 29).
7 wehrt allen Versuchen, die Besonderheit Israels, das heißt: die Liebes- und Erwählungsgeschichte JHWHs mit diesem Volk, aus natürlichen Vorzügen, etwa imponierender Größe (vgl. 265 1 Sam 161-13, ferner z.B. Ri 615 Mi 51), zu erklären.
8 Denn die Befreiung aus dem Sklavenstaat Ägypten, in der Israel seine Erwählung erfahren hat, der »Freikauf« aus der Gewalt des Pharao, durch den es zum »Eigentumsvolk« JHWHs geworden ist, ist ein Geheimnis paradoxen göttlichen Verliebtseins und der erste geschichtliche Ausdruck einer ungeschuldeten Huld Gottes, die sich selbst in einem Eid an die Väter gebunden hat. Damit ist die Landverheißung gemeint.
8-11 folgen dem Schema der Beweisführung (s. dazu 432-40). 8 nennt als Geschichtsfaktum die Herausführung aus Ägypten. 9f erschließen daraus die Treue und so die Einzigkeit dieses Gottes für Israel (und, im Lichte von 437ff 1014.17, Gottes überhaupt). Gottes Wesen offenbart sich somit in der communio mit seinem Volk. Daß JHWH als der an Israel »gebundene« Gott anerkannt wird, ist das Ziel der ganzen Erlösungsgeschichte. Das geschieht 11 zufolge durch ein Leben nach dem deuteronomischen Gesetz. Vom biblischen Gott sprechen heißt also nach 6-11, von seinem Handeln an seinem Volk reden; wie umgekehrt eine Reflexion über die alttestamentliche und neutestamentliche Kirche immer auch Theologie ist, die sich gesellschaftlich bewahrheiten soll.
9f reinterpretieren den Zentraltext des Horebbundes, das erste Dekaloggebot. Genauer: das Gottesbild, das dieses Gebot in 59b-10 motiviert (vgl. auch Ex 346f). JHWHs »Eifersucht« wird zu seiner »Treue«. Seine strafende Vergeltung erhält Nachrang. Die Parität zwischen Bestrafung und der Huld von 59f wird aufgehoben. JHWHs Treue erstreckt sich jetzt auf Tausende, das heißt auf alle denkbaren Generationen, nicht mehr bloß auf jede denkbare Zahl von Menschen innerhalb einer Familie. Seine Strafe tritt nun sofort ein und trifft daher nur den Sünder selbst, nicht mehr alle Generationen, die damals zu einer Familie gehörten. Das heißt im babylonischen Exil: Beginnt Israel wieder, seinen Gott zu lieben und den Dekalog zu beobachten, dann lebt auch JHWHs Treue wieder auf. Diese Gnadentreue wird begrifflich gefaßt: berīt »Bund«. Er bezeichnet hier nicht wie im Horebkontext die Vertragsverpflichtung Israels, sondern den (Verheißungs-)Eid JHWHs an die Patriarchen.
12-15 Wenn Israel auf Gesellschaftsform und Götter der Völker verzichtet und die deuteronomische Gesellschaftsordnung verwirklicht, wird es Segen erlangen. Der Segen ist letztlich der Lohn gelebter Erwählung und bewahrter Identität als JHWH-Volk. Gehorsam – selbst Antwort auf JHWHs Liebe und Treue – provoziert wiederum die Gnadentreue und Liebe dieses Gottes. Beide sind nämlich Inhalt dieses Segensabschnittes. Der Väterschwur wird auch nicht auf den Besitz des gelobten Landes beschränkt. Überschwengliche Fruchtbarkeit von Mensch, Acker und Vieh kommen hinzu. Korn, Wein und Öl, diese nach dem Deuteronomium für das Kulturland so charakteristischen Güter, sind nicht Gaben der Fruchtbarkeitsgötter Kanaans (vgl. Hos 210). Denn Israel wird von JHWH mehr als die Völker gesegnet werden 14. In 15 rundet sich das Bild dieses prosperierenden Lebens im Blick auf die Feinde. Welch ein Kontrast schließlich auch hier! Denn die ägyptischen Seuchen, die jene treffen werden, sind sprichwörtlich (als Sanktionen für den Abfall Israels: 2827.60).
76-11.12f gelten auch für das neutestamentliche Gottesvolk auf Grund seiner Erfahrung mit Jesus Christus: Vgl. die Struktur der Erwählungs-, das heißt »Heiligungs«geschichte, in 76.8 mit Tit 214; die Gemeinde, die Gott sich aus der Welt erwählt, in 77 mit 1 Kor 126-29; das dialogische Verhältnis von Liebe Gottes, Gebotsgehorsam seines Volkes und erneuter Gottesliebe in 78f 12f mit Joh 1415-24 1 Joh 47-53.
Quelle: Georg Braulik, Deuteronomium 1-16,17, NEB, Würzburg: Echter Verlag 1986, S. 63-66.