Glaube ist die feste Zuversicht auf das, was wir erhoffen, die Überzeugung von dem, was wir nicht sehen. (Hebr 11,1)
Von Reinhold Schneider
An dem Tage, da die Glocken verstummen, die Altäre verhüllt werden, die tiefste Trauer über die Gläubigen kommt, möchten wir eine Antwort finden auf die Frage nach dem Letzten und Innersten unseres Glaubens, nach dem, was unsern Glauben eigentlich ausmacht. Glauben, das heißt eine gewisse Zuversicht haben dessen, was man hofft, und nicht zweifeln an dem, was man nicht sieht (Hebr 11,1); es heißt: sicher sein von innen heraus, sich mit dem ganzen Wesen und Leben entscheiden für eine Sache, die einen Zwang nicht auferlegen kann, und in dieser Entscheidung eine Festigkeit erlangen, die mehr ist denn jeder Zwang. Wenn nun der Glaube an einem bestimmten Tage trauert wie an keinem andern Tage, so ist es, als sei er an diesem Tage auf das tiefste verwundet worden, ja als sei ihm seine Sicherheit genommen. Er sucht Hilfe und findet sie nicht – so wie die Jünger und Frauen, die unter dem Kreuze gestanden, auf Golgotha keine Hilfe mehr fanden, nachdem sich das Grab über dem Erlöser geschlossen, sein Reich offenbar nicht gekommen war; der, an dem sich der Glaube hielt, ist ihm genommen. Wir glauben an Christus – und Christus ist an diesem Tage nicht da. Wir wollen versuchen, uns einmal die Welt vorzustellen, in der Christus nicht ist. Dann aber müssen wir erst Christus noch einmal erkennen, verstehen.
Unter allen Worten des Gottmenschen scheint uns keines so unerhört wie dieses: »Ich bin die Wahrheit.« Die großen Lehrer der Menschheit haben inständig danach gestrebt, die Wahrheit zu lehren. Sie glaubten, die Wahrheit gefunden zu haben, denn wie hätten sie sonst wagen können, als Lehrer aufzutreten. Ihrer keiner hat sich vermessen, zu sagen, daß er die Wahrheit selber sei. Diese Aussage ist so ungeheuer, daß es uns nur langsam gelingt, sie zu ermessen, in ihrer Gegenständlichkeit in unser Leben und Denken zu nehmen; vielleicht bedarf es vieler Erfahrungen, langen Ringens um Glauben und Wahrheit und ihrer Übertragung in unser Dasein, ehe uns die Einsicht in das Beispiellose dieser Aussage trifft wie ein Blitz. Ein Mensch, der wie wir über die Erde geschritten ist, ihre Lasten getragen hat, dem Versucher ins Antlitz blickte und damit dem ganzen Aufgebot der Lüge, sagt das Ungeheuerliche, daß er die Wahrheit selber sei. Er sagt es gelassen, nicht etwa um seine Gegner herauszufordern, ihre Behauptungen zu überbieten; er sagt es, weil es so ist, um sich selber kundzumachen. Ich bin die Wahrheit, das heißt ja nicht allein, daß kein Falsch an ihm ist, nicht der Schatten eines Anscheins von Lüge, auch nicht einmal deren Möglichkeit; hier ist reinste, untrübbare Klarheit, bis in die unerforschliche Tiefe der Person. Was dieses Wort aber wirklich meint, das tritt im Gespräch mit Pilatus hervor: »So bist du dennoch ein König?« – »Du sagst es. Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß ich die Wahrheit zeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, hört meine Stimme« (Joh 18,37).
Hier ist nicht das politisch-geschichtliche Königtum gemeint, an das Pilatus denkt und das ihn beunruhigt. Hier geht es um eine ganz andere Macht. Christus ist unumschränkter König aus der Kraft der Wahrheit. Sein Königtum umspannt die Welt, nicht etwa nur das Herrschgebiet des Herodes oder des römischen Kaisers; in Christus hat alles Bestand; er ist der Eckstein; und auch Pilatus könnte nicht gebieten und nicht zu Gericht sitzen, wenn Christus nicht wäre als welttragende Wahrheit; ihr Reich ist wohl nicht »von hier« im Sinne einer in der Geschichte gewordenen Machtform – aber nur weil in dieses Reich ausnahmslos alle Mächte fallen.
Aber nur wer aus der Wahrheit ist, hört Christi Stimme; – damit wird die bevorstehende Antwort des Pilatus schon aufgehoben; nur wer einen Anteil hat am Königtum der Wahrheit, der weiß von diesem letzten Grund des Seins, den kundzumachen und zu bezeugen Christus als die personale Wahrheit gekommen ist. Pilatus ist nicht aus der Wahrheit; von ihm ist keine Einsicht, kein Glaube zu erwarten. Aber seine Frage ist mehr als ein Achselzucken. Es kann ein heimlich brennender Schmerz, verborgene Verzweiflung in ihr sein. In ihr ist alles zusammengefaßt, was die alte Welt, ja was die Welt ohne Christus zu sagen hat und zu sagen haben wird. Und so wird in diesem letzten Gespräch, in dem der Herr siegt, während er dem zu unterliegen scheint, der nicht aus der Wahrheit ist, sowohl das Christliche wie das Nichtchristliche völlig offenbar. Die Frage »Was ist Wahrheit?« wird im Angesicht der Wahrheit ausgesprochen, aber von einem, der nicht aus der Wahrheit ist; sie ist Selbst-Enthüllung und, als Gegen-Wort, Enthüllung Christi.
Von da an ist Jesus Christus, die Wahrheit als Person, dem Tod überantwortet, und die furchtbaren Tage kommen, da die Wahrheit leidet und getötet wird und im Grabe liegt; es geschieht, weil die Welt die Wahrheit nicht will und nichts sie in solchem Grade aufwühlt wie das Selbstbekenntnis der daseienden Wahrheit; aber auch weil die Welt offenbar nicht anders besiegt werden kann als durch dieses Opfer, das Leiden, den Tod der Wahrheit, die in Wahrheit nicht sterben und so wenig im Grabe verschlossen werden kann wie ein Lichtstrahl. Denn sie trägt ja die Welt; in ihr sind, wie Thomas von Aquin lehrt, »alle Dinge veranlagt«, und dieser Grund des Seins muß wieder hervortreten wie ein Fels, wenn die Fluten sich verlaufen; die Wahrheit muß aus dem Grabe brechen. Aber es bleibt ein Mysterium, daß das Licht in der Finsternis schien und »die Finsternis es nicht begriff«.
Unsere Zeit, so scheint es, ist dem Karfreitag sehr nahe. Es ist eine Zeit, über der das Kreuz allgewaltig errichtet ist, aber das verhüllte Kreuz; eine Zeit, da die Wahrheit nicht hinreichend bekannt und getan wird und gewissermaßen im Grabe liegt – und das kann nur heißen: im Grabe eines jeden einzelnen Lebens. Denn wenn sie im einzelnen Leben nicht herrscht, kann sie in der Zeit nicht herrschen. Aber wenn unsere Zeit in diesem Sinne dem Karfreitag zu vergleichen wäre, so wäre sie ein Karfreitag ohne die rechte Trauer, ohne den brennenden Schmerz um die begrabene Wahrheit und also, trotz allem Leiden, ein unheiliger Karfreitag. Und vielleicht ist der rechte Schmerz nicht da, weil der Glaube an die Wahrheit nicht da ist, das Wissen von der Person Jesu Christi in ihrer reinen Unvergleichbarkeit fehlt.
Auch Christus hat diejenigen nicht bezwungen – und nicht bezwingen wollen –, die nicht aus der Wahrheit sind. Er hat sie ihrem furchtbaren Geheimnis überlassen. Aber wir sollten wenigstens die Frage des Pilatus ganz ernst nehmen. Wenn sie gilt, wenn der Zweifel an der Wahrheit herrscht, die Wahrheit nicht nur unerreichbar ist, sondern überhaupt nicht ist, so hat es keinen Sinn, zu forschen, zu denken; denn jedes Forschen hat den Glauben an das Dasein und an die Erreichbarkeit der Wahrheit zur Voraussetzung; – und es hat wahrlich keinen Sinn, das Suchen über das Finden, einen geringem Wert über einen hohem zu setzen. Und wenn keine Wahrheit ist, so ist der Mensch ihr auch nicht mehr verpflichtet: er braucht nicht wahrhaftig zu sein. Andere Verpflichtungen, Forderungen, Triebe treten an die Stelle der Wahrheit; denn diese Stelle als der eigentliche Königssitz kann nicht unbesetzt, nicht unbegehrt bleiben. Keine dieser Kräfte und Mächte kann das Gebot der Wahrhaftigkeit geltend machen, ihr Ansehen beanspruchen. Damit zerbrechen aber alle echten Beziehungen unter Menschen, Völkern, Staaten ebenso wie die Beziehungen des Menschen zu den Dingen und Kräften des Alls, welche Beziehungen nun entweder der Gier oder der Illusion überlassen werden. Wo die Frage des Pilatus angenommen, die Wahrheit als solche bezweifelt wird, zerfällt alles; es kann kein Grund des Vertrauens, kein Boden gemeinsamen Wirkens mehr gefunden werden. Die Welt ohne Wahrheit ist ohne einigende Kraft, eine Welt des Hasses und des Streits, der einander vernichtenden Behauptungen, Leidenschaften und Süchte, der Düsternis oder des erlogenen, die Düsternis verhehlenden Lichtes, ein Karfreitag entsetzlichen Leidens, aber ein Karfreitag ohne Trauer und Heiligung.
Wir sollten diese Welt ausleiden, sie uns ohne Schonung vergegenwärtigen – dann würden wir vielleicht erkennen, was die Wahrheit ist; und wenn wir sie erkannt haben, so muß – es kann nicht anders sein – unser Herz nach ihr entbrennen. Dann muß die Wahrheit auferstehn in unserem Leben, und unsere Augen werden hellsichtig, und wir werden Auferstandenen begegnen.
Fassen wir diesen Glauben mit unserer ganzen Geistes- und Herzenskraft: die Frage des Pilatus zerscheiterte, als sie gesprochen wurde; sie wurde ja geprägt im Angesicht der Wahrheit, die leibhaftig da war; – die Wahrheit hörte sie und gab sich in den Tod, kraft dessen sie siegte. Gottes Name ist der »Wahrhaftige«. Und in diesem Namen allein werden wir eins. Wo nur der Glaube an die Wahrheit, die Bereitschaft sie anzuerkennen ist, da ist Hoffnung auf eine Übereinstimmung der Geister, der Herzen, Menschen und Mächte, eine Übereinstimmung, die vom Abendlande bis tief in den Osten reichen kann. Und wenn der heilige Augustinus gelehrt hat, daß alle Gerechten von Anfang der Welt – also auch diejenigen, die nichts von Christus wußten – Christus zum Haupt haben, so dürfen wir vielleicht auch sagen, daß wo die Wahrheit anerkannt wird, schon Christus ist. Damit beginnt eine Einswerdung über unser Begreifen, über die faßbaren Grenzen.
Von der Erfahrung der Welt ohne Wahrheit gelangen wir zur Trauer um sie, von der Trauer zur Liebe, von der Liebe zur Einsicht in das Wesen der Wahrheit, zur Erkenntnis der Wahrheit als Person Jesu Christi und damit zu einem erneuerten, auferstandenen Glauben. Daß Gott die Wahrheit ist, bedeutet, daß wir die Wahrheit tun, das heißt wahrhaftig sein sollen im unbedingten Sinne. Nichts ist schwerer als das; es ist vielleicht das Problem des Lebens überhaupt. Von dem Augenblick an, da wir wahrhaftig sein wollen – da wir wirklich nicht mehr leben können, ohne es zu sein –, begegnen wir den weitaus schmerzlichsten Konflikten und Gefahren, tödlicher Selbstkritik, absterbenden Freundschaften, eisiger Vereinsamung. Wie könnte es anders sein; wie könnte etwas schwerer sein als das Tun der Wahrheit, wenn Gott der Wahrhaftige heißt und niemand sagen kann: »Ich bin die Wahrheit«, außer ihm! Das Tun der Wahrheit ist Gottes Sache, das Göttliche selbst.
Wollen wir an dieser Stelle nicht verzweifeln und versagen, so bleibt uns nichts als ein leidenschaftliches Handeln und Streben auf die Wahrheit hin. Wir müssen versuchen, in ihrem Angesichte zu leben, aber nicht wie Pilatus, der sah, ohne zu sehen, sondern als wissend Unterworfene, im Vertrauen darauf, daß die Wahrheit uns hilft. Allein können wir die Wahrheit nicht tun; vor Christus und mit ihm können wir es. Und ist er in uns gestorben, so wird er, als die begrabene Wahrheit von uns selber, in uns auferstehen, wenn nur unser Herz nach ihm brennt; er wird uns den Weg der Liebe zeigen, auf dem die Wahrheit vollzogen werden kann, ohne zu töten oder tödlich zu sein. Denn seine Liebe hat den Tod überwunden; sein Königtum hat den Feind von Anfang an, den Vater der Lüge, gestürzt. Die Lüge ist das Gegenreich des Reiches Jesu Christi; er hat das Ende des Gegenreiches verkündet, aber enden muß es auch in uns, von Tag zu Tag.
Wir wollen das tiefste Dunkel dieser Zeit als Grab verstehen, in dem die Wahrheit begraben liegt. Vermöchten wir nur das, so ginge uns schon eine große Hoffnung auf. Denn an keinem zweiten Orte wird der Herr in solcher Herrlichkeit offenbar werden wie an seinem Grabe. Hier wollen wir ihn erwarten als den, der das Sein der Welt trägt in der Verborgenheit des Grabes; wäre die einigende Kraft nicht auch in dieser Stunde stärker als die zur Zerreißung drängenden Mächte, die Welt bestünde nicht mehr. Als der Auferstandene, der in uns noch einmal aufersteht, will der Herr das Bestehende sichtbar tragen: als der Arzt der Welt, der die Krankheit der Vereinzelung heilt; als der eine, in dem alles eins werden soll. Und das heißt: als die Wahrheit, die will, daß wir wahrhaftig sind, und aus deren Gnaden wir wahrhaftig werden können, Glieder ihres unbesieglichen Königreiches – sofern wir sie lieben und uns mit allem, was wir sind und vermögen, wider alles, was nicht aus der Wahrheit ist, für sie entscheiden.
Erschienen in: Mannheimer Kirchenblatt, 28. 3. 1948, wieder abgedruckt in: Reinhold Schneider, Allein der Wahrheit Stimme will ich sein, Freiburg-Basel-Wien: Herder Verlag, 1962.