Ähnlich wie die evangelischen Landeskirchen taten sich die römisch-katholischen Bischöfe in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg schwer, von eigener Schuld bzw. von eigenem Versagen hinsichtlich des nationalsozialistischen Verbrechen zu sprechen, so wenn es im gemeinsamen Hirtenbrief der Fuldaer Bischofskonferenz vom 23. August 1945 heißt: »Katholisches Volk, wir freuen uns, daß du dich in so weitem Ausmaße von dem Götzendienst der brutalen Macht freigehalten hast. Wir freuen uns, daß so viele unseres Glaubens nie und nimmer ihr Knie vor Baal gebeugt haben.« Da haben Reinhold Schneiders Worte von 1947 einen ganz anderen Klang:
Aufbruch zum Kreuze
Von Reinhold Schneider
Das Kreuz ist unter uns aufgerichtet, aber wir haben es in allen seinen Gestalten bei weitem nicht erkannt, noch haben wir das rechte Verhältnis zu ihm gefunden. Wir wollen den Schmerz derer gewiß nicht antasten, die teure Angehörige oder die Heimat betrauern; vielleicht erschließt sich ihnen vor dem einen gewaltigen Kreuze, das in ihrem Leben steht, das ganze Leid der Zeit. Aber die Blicke vieler müßten erst geöffnet, die Herzen vieler erst geweckt werden. Es geht ja auch nicht mehr um den persönlichen Schmerz allein; was wir erlebt haben, ist in gewissem Sinne zu groß, zu erhaben, als daß wir im eigenen Leid verharren dürften. Wir dürfen nicht aufhören, uns den Sinn der allgewaltigen Heimsuchung zu erringen. Es ist die Offenbarwerdung des Kreuzes an allen Orten. Es steht in der Nacht vor uns, wenn die Gedanken hinschweifen über die große Unruhe aufgestörter, vertriebener Völker – der Wanderer, deren Ziehen und Suchen zu uns herdringt; es erwartet uns am Tage, wenn wir das Haus verlassen, an jeder Wegkreuzung in allen Mühen der Arbeit, die größer und zugleich gnadenreicher geworden sind. Alles Mehr an Mühe, das auf uns gefallen ist, und eine jede Entbehrung oder uns auferlegte Bescheidung weist auf das Geheimnis dieser Zeit zurück, die furchtbare Schuld des Menschen an Gott und dem Menschen, auf unsere Schuld. Aber die vielen kleinen Kreuze des Tages wollen nicht, daß wir vor ihnen verweilen, bei ihnen stehen bleiben; dem Kreuze ist ja die Richtung auf das Große, etwas Drängendes, eigen: es ist das Zeichen, das über der Welt steht und von der Erde in die Himmelsfernen reicht. Indem wir es annehmen, gehen wir in die große Gemeinschaft des Leidens ein, die Christus durch seinen Tod gestiftet hat: der Weltkönig, der die Welt durch seinen Tod in ein neues Licht getragen hat.
Um die Größe des Kreuzes sollte es uns gehen. Indem wir es anzunehmen suchen wo wir ihm begegnen im Tage: indem wir es einmal, von ganzem Herzen, annehmen wollen, gehen uns die Augen auf für seine tausendfache Gestalt in Mühen und Forderungen, Leiden und Schicksalen, in der uns gebotenen Geduld – und zugleich gelangen wir in immer größere Räume. Es ist ja nicht genug, daß uns das Schicksal des eigenen Volkes zu Herzen geht: wir müssen danach trachten, unser Teil am Leid aller Völker zu tragen und endlich einmal unsere Anteil an der Schuld zu ergreifen, die dieses Leid über sie gebracht hat. Wir sind vielfach zerrissen; die sichtbaren Schranken, die unser Land zerteilen, sind wahrlich nicht die gefährlichsten, sind wir doch bisher nicht eins geworden in der Haltung, im Verhältnis zu Schuld und Kreuz. Würde aber eine einzige mächtige Bewegung durch unser Volk gehen, die zum Kreuze drängt, zur wissentlichen, ernsten Begegnung mit der ganzen Wirklichkeit des Leidens, mit uns selbst und unserer Schuld, so würden wir eins. In der Erkenntnis unserer Schuld allein werden wir uns selber finden, und vor dem Kreuz allein können wir einig werden. Vor dem Kreuze stehen: das heißt angesichts allen Leides unser Gewissen fragen, welchen Anteil an diesem Leid es uns vorzuwerfen hat. Jede Not, der wir begegnen auf unserem Wege ist ein Anruf an das Gewissen und damit zugleich eine Mahnung zu schonungsloser, allen Selbstbetrug des trägen und widersetzlichen Herzens verzehrender Wahrhaftigkeit. Das Kreuz will uns anders als wir sind. Es könnte nichts furchtbareres geschehen an Lebenden und Toten, als daß wir an diesem heiligen Gebote vorübergingen. Die nicht beachteten, geflohenen, verschwiegenen Kreuze sind es, die unser Verhängnis werden. Denn mit einer jeden Flucht wird der Selbstbetrug dichter, die Lüge mächtiger, bis der furchtbare Tag droht, an dem uns und unser Volk die Gnade nicht mehr erreicht.
Dieser Tag scheint uns manchesmal nahe zu sein: der Einspruch gegen das Kreuz, gegen das, was wir sind und getan haben, der Einspruch auch gegen das unabänderlich die Welt überschattende Leiden – in dessen Schatten die Gnade, die Macht der Wandlung verborgen ist –, dieser Einspruch dringt uns Tag für Tag in die Ohren. Er ist unbegreiflich als eine Stimme aus Trümmerstädten, eine Antwort Überlebender, die zwischen Millionen Gräbern stehen. Aber dieser Widerstand, der der ganzen erfahrenen Wirklichkeit der Geschichte Hohn spricht, ist da – und das Kreuz ist wohl auf ihn vorbereitet; es ist und bleibt das Zeichen, dem man widersprechen wird. Das Kreuz wird unter dem Ansturm solcher Stimmen nicht wanken, aber wir werden Schaden leiden, wenn wir ihnen nicht widersprechen durch das Bekenntnis zum Kreuze, vor allem durch ein Leben, in das es als innerste bewegende Kraft eingegangen ist. Und es würde unsagbar Großes geschehen, wenn immer mehr und mehr sich zusammenfänden, die sich auf sichtbare Weise bekennen; wenn unser Volk endlich aufbräche, das Kreuz zu suchen und zu verehren. Es könnte auf diesem Wege beten für alle, die unter seiner Tat gelitten haben, und es könnte sich im Andenken derer getrosten und stärken, die es als Zeugen der Kreuzesmacht hervorgebracht hat. Dieser Aufbruch zum Kreuze müßte ganz von innen geschehen; von innen her müßte er aber auch sichtbar werden in Taten der Buße, der Wandlung, im Mute zum Leide, das uns beschert ist. Denn Christus hat das Geheimnis des Kreuzes, den Anfang seiner Herrlichkeit, sichtbar gemacht auf Golgotha, in der Mittagsstunde der Geschichte; seither will das Kreuz, als das Zeichen des eigentlichen Weltherrn, auf allen Feldern der Geschichte errichtet werden.
Wir können und wollen es nicht glauben, daß jener Tag, da die Gnade sich uns entziehen könnte, kommen werde. Aber unser Glaube muß Tat werden, die uns verbindet: wir müssen das Kreuz wollen, das Gottes Barmherzigkeit auf der Stätte unserer Frevel und unserer Not, im Nebel unserer Lüge aufgepflanzt hat. Je entschiedener wir uns zum Zeichen von Golgotha bekennen, um so deutlicher bezeugen wir, daß wir- voll Hoffnung sind; um so stärker wird diese Hoffnung in uns werden. Es ist ja nicht möglich, das Kreuz anzunehmen und ohne Zuversicht zu sein. Kaum wagen wir es, uns das ungeheure Bild vorzustellen: ein Volk, das sein Kreuz in Wahrheit trägt und stark wird unter der Last. Es wird ins Licht schreiten, in eine ganz neue Landschaft seiner Geschichte, wohin die Spuren der Schmach nicht mehr reichen, das Wort der Lästerer nicht mehr dringt. Freilich zieht das höchste Versprechen des Kreuzes mächtig über die Erde hinaus; seine Herrlichkeit vollendet sich jenseits des Todes; wo sie auf Erden beginnt, da ist sie oft von tiefer Finsternis verhüllt, unsichtbar oder unverständlich allen, die vom Geheimnis des heiligen Ärgernisses nichts wissen. Das eine aber bleibt: daß das Kreuz das Zeichen der Wahrheit ist und ein Licht in die Seelen wirft, das keine Lüge duldet; daß es zugleich die Wahrheit zu uns redet von Gott und der Welt und diesem unseren von der Sünde beschwerten, der Gnade erleuchteten Leben. Es ist die Wahrheit, die den von ihr ergriffenen verwandelt: sie macht ihn unbarmherzig gegen sich selbst und wendet ihn der großen Liebe zu, die den in Christus Sterbenden, in Ihm aufs neue Lebenden verheißen ist. Damit verstummen die Fragen, die wir an das Kreuz einst richten wollten; es ist das Leben, die Wirklichkeit selber, die sich jetzt uns entgegendrängt; alle Regungen des Herzens will es ergreifen, erhöhen, von uns wegwenden zu Gott; es fordert dem Geiste in allen seinen Werken ein klares Bekenntnis ab. Die Verleugnung seiner Gegenwart wäre nach so viel Unheil schlimmer als alles Unheil. Selig aber alle, denen es nicht leicht fällt, das Ja zu sprechen und die unter der Gewalt der heiligen, furchtbaren Stunde ein neues Leben ihrem Herzen abringen vor dem Kreuze. Es bedarf eines Augenblickes der Verlassenheit; niemand kann uns beistehen, wenn wir mit Ernst uns von uns selber trennen. Aber im nächsten Augenblick schon wird die Gnade uns tragen – und vielleicht dürfen wir unter denen sein, die den Anfang machen und auf Gottes noch unbeschrittener Straße die Stätte der Schuld und Greuel für immer: das heißt als Verwandelte, verlassen.
Erstveröffentlicht in: Reinhold Schneider, Im Antlitz der Not, Bonn: Borromäus-Verein 1947.