Über Lügen und Fiktion totalitärer Propaganda
Von Hannah Arendt
Bevor die totalitären Bewegungen die Macht haben, die Welt wirklich auf das Prokrustesbett ihrer Doktrinen zu schnallen, beschwören sie eine Lügenwelt der Konsequenz herauf, die den Bedürfnissen des menschlichen Gemüts besser entspricht als die Wirklichkeit selbst, eine Welt, in der die entwurzelten Massen mit Hilfe der menschlichen Einbildungskraft sich erst einmal einrichten können und in der ihnen jene ständigen Erschütterungen erspart bleiben, welche wirkliches Leben den Menschen und ihren Erwartungen dauernd bereitet. Bevor die Bewegungen noch die Macht haben, den eisernen Vorhang herunterzulassen, um jede Störung der furchtbaren Stille ihrer in der Wirklichkeit errichteten, total imaginären Welt durch den leisesten Ton von außen zu verhindern, besitzt totalitäre Propaganda bereits die Kraft, die Massen imaginär von der wirklichen Welt abzuschließen. Das einzige, was sich dem Verständnis der Massen, die mit jedem neuen Unglücksschlag leichtgläubiger werden, von der wirklichen Welt noch darbietet, sind gleichsam ihre Lücken, das heißt die Fragen, die die Welt nicht öffentlich diskutieren will, oder die Gerüchte, denen sie nicht öffentlich zu widersprechen wagt, weil sie, wenn auch in entstellter Weise, irgendeinen wunden Punkt berühren.
Aus diesen wunden Punkten ziehen die Lügen der totalitären Propaganda jenes Minimum an Wahrheit und realer Erfahrung, dessen sie bedürfen, um die Brücke schlagen zu können von der Realität in die totale Fiktion. Selbst die durch Terror unterbauten lügenhaften Fiktionen totalitärer Regierungen sind bis heute noch nicht ganz und gar von Willkür diktiert, wenn der Terror auch hilft, die Lügen roher, unverschämter und sozusagen origineller zu machen, als es die Lügen der Bewegungen vor der Machtübernahme sein können. […] Die Lügen der Bewegungen sind subtiler und folgen auf das sorgfältigste allen Gebieten des sozialen und politischen Lebens, die dem Auge der Öffentlichkeit entzogen sind. Ihre stärkste Wirkung erzielen sie, wenn die öffentlichen Institutionen sich mit einer Atmosphäre des Geheimnisses umgeben. Wo immer sie reale Bedingungen betreffen, deren Existenz verborgen gehalten wird, gewinnen sie den Anschein einer überlegenen Realitätsnähe. Skandale in der besseren Gesellschaft, politische Korruption, überhaupt das gesamte Gebiet des Revolverjournalismus liefert totalitärer Propaganda eine Waffe, deren Bedeutung weit über den Sensationswert solcher Dinge hinausgeht. […]
Die Kunst des totalitären Führers besteht darin, in der erfahrbaren Realität geeignete Elemente für seine Fiktion herauszufinden und sie so zu verwenden, daß sie fortan von aller überprüfbaren Erfahrung getrennt bleiben. Dies geschieht dadurch, daß man Erfahrungselemente isoliert und verallgemeinert, also sie dem Bereich der Urteilskraft, die ihnen ihren Platz in der Welt angewiesen hatte, entzieht, um dann die so vom gesunden Menschenverstand unabhängig gewordene, aus ihrem allgemeinen Zusammenhang gerissene Erfahrung in das ihr logisch inhärente Extrem zu treiben. Dadurch wird eine Konsequenz und Stimmigkeit erreicht, mit der die wirkliche Welt und die nicht verabsolutierte Erfahrung nie und nimmer in Konkurrenz treten können. Die Organisation der totalitären Bewegung entspricht aufs genaueste dieser in der Propaganda erreichten Stimmigkeit einer fiktiven Welt. In ihr vermag die Bewegung die Aufdeckung aller spezifischen Lügen zu überleben, weil die Konsequenz der Fiktion als solche eine »höhere« Wahrheit zu repräsentieren scheint. […]
Der wahre Grund für die unabwendbare, prinzipielle Überlegenheit aller totalitären Propaganda über die Propaganda aller anderen Parteien oder Regierungen ist, daß ihr Inhalt – jedenfalls für die Mitglieder der Bewegung und die Bevölkerung eines totalitären Landes – nichts mehr mit Meinungen zu tun hat, über die man streiten könnte, sondern zu einem ebenso unangreifbar realen Element ihres täglichen Lebens geworden ist, wie daß zwei mal zwei vier ist. Die Vorteile einer Propaganda, die sich niemals nur auf sich selbst und ihre Argumente verläßt, sondern zu der von vornherein »die Gewalt der Organisation hinzutritt«, in der sie durch Gewalt ständig und unmittelbar verwirklicht, was sie sagt, sind so außerordentlich, daß es fast schon eine gefährliche Unterschätzung ihrer Möglichkeiten ist, sie noch mit dem Namen Propaganda zu belegen. Alle bloßen Argumente gegen sie, die ja aus einer Wirklichkeit stammen, welche die Bewegung ohnehin zu ändern verspricht, sind bereits im vorhinein dadurch disqualifiziert, daß die Massen die wirkliche Welt weder akzeptieren können noch akzeptieren wollen. Totalitäre Propaganda ist keine Propaganda im üblichen Sinn und kann daher nicht durch Gegenpropaganda widerlegt oder bekämpft werden. Sie ist Teil der totalitären Welt und wird nur mit ihr zusammen vernichtet.
Erst im Moment der Niederlage macht sich die wesentliche Schwäche totalitärer Propaganda geltend. Bricht die Bewegung aus gleich welchen äußeren Gründen zusammen und ist die »Gewalt der Organisation« verschwunden, so hören ihre Anhänger von einem Tag zum anderen auf, an ein Dogma und eine Fiktion zu glauben, der ihr Leben zu opfern sie gestern noch bereit waren. Mit dem Zusammenbruch ihrer fiktiven Heimat kehren die Massen wieder in die Welt zurück, vor deren Realität die Bewegung sie geschützt hatte, werden wieder zu den isolierten Individuen, als die sie sich massenhaft zusammengefunden hatten, und übernehmen entweder neue Aufgaben in einer veränderten Welt oder fallen in die verzweifelte Überflüssigkeit zurück, von der die Fiktion sie für einen Moment erlöst hatte. Eben noch freudigst entschlossen, den Tod von Robotern auf sich zu nehmen um irgendwelcher tausendjährigen Reiche willen, wird keiner von ihnen es den religiösen Fanatikern gleichtun und den Märtyrertod sterben. In aller Stille, als handele es sich um nichts als einen dummen Reinfall, werden sie ihre Vergangenheit aufgeben und, wenn es not tut, verleugnen, sich nach einer neuen vielversprechenden Fiktion umsehen oder warten, bis die alte Ideologie wieder an Stärke gewinnt und eine neue Massenbewegung ins Leben ruft.
Es ist mehr als ein Zeichen allgemein menschlicher Schwäche oder spezifisch deutschen Opportunismus, daß die Alliierten nach der Niederlage von Nazideutschland vergeblich nach einem einzigen überzeugten Nazi in der Bevölkerung fahndeten, und dies besagt nichts gegen die Tatsache, daß vermutlich 80 Prozent des deutschen Volkes irgendwann einmal überzeugte Anhänger oder Sympathisierende der Nazis gewesen waren. Der Nazismus als eine Ideologie war so vollständig in der Organisation der Bewegung und des Reiches »realisiert« worden, daß von seinem Inhalt als einem System bestimmter Doktrinen mit einer von der Realität unabhängigen geistigen Existenz nichts übrig geblieben war. Die Zerstörung der Nazifiktion in der Wirklichkeit hinterließ buchstäblich nichts, nicht einmal den Fanatismus des Aberglaubens.
Quelle: Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt: Europäische Verlagsanstalt, 1955.