Die Rede von Gott angesichts der Leidensgeschichte der Welt (1992)
Von Johann Baptist Metz
Zur näheren Erläuterung dieses Themas und des von mir gewählten Zugangs zu ihm möchte ich zunächst einige einleitende Bemerkungen machen.
1. Mit Verlaub beginne ich mit: einem Hinweis auf meine theologische Biographie. Langsam, viel zu langsam, wurde mir bewußt – und das Eingeständnis der langgestreckten Verzögerung verschärfte die Irritation! –, daß die Situation, in der ich Theologe bin, also von Gott zu reden suche, die Situation „nach Auschwitz“ ist. Auschwitz signalisierte für mich einen Schrecken jenseits aller vertrauten Theologie, einen Schrecken, der jede situationsfreie Rede von Gott leer und blind erscheinen ließ. Gibt es denn, so fragte ich mich, einen Gott, den man mit dem Rücken zu einer solchen Katastrophe anbeten kann? Und kann Theologie, die diesen Namen verdient, ungerührt nach einer solchen Katastrophe einfach weiterreden, von Gott und von den Menschen weiterreden, als ob angesichts einer solchen Katastrophe nicht die unterstellte Unschuld unserer menschlichen Worte zu überprüfen wäre? Durch solche Fragen sollte Auschwitz nicht etwa zu einem „negativen Mythos“ stilisiert werden, der diese Katastrophe ja wieder unserer theologischen und historischen Verantwortung entzogen hätte. Es ging primär um die beunruhigende Frage: Warum sieht man der Theologie diese Katastrophe – wie überhaupt die Leidensgeschichte der Menschen – so wenig oder überhaupt nicht an? Kann und darf theologische Rede hier ähnlich distanziert verfahren wie (vielleicht) philosophische? Ich war beunruhigt von dem augenfälligen Apathiegehalt der Theologie, von ihrer erstaunlichen Verblüffungsfestigkeit, ich könnte auch – im Fachjargon – sagen: von ihrer mangelnden Theodizee-Empfindlichkeit.
Im Bewußtwerden der Situation „nach Auschwitz“ drängte sich mir die Gottesfrage in ihrer merkwürdigsten, in ihrer ältesten und umstrittensten Version auf, eben in der Gestalt der Theodizeefrage, und das nicht in existentialistischer, sondern gewissermaßen in politischer Fassung: Gottesrede als Schrei nach der Rettung der anderen, der ungerecht Leidenden, der Opfer und Besiegten in unserer Geschichte. Wie auch könnte man, so wurde mir deutlich, „nach Auschwitz“ ohne diese Frage nach der eigenen Rettung fragen! Die Gottesrede ist entweder die Rede von der Vision und der Verheißung einer großen Gerechtigkeit, die auch an diesen vergangenen Leiden rührt, oder sie ist leer und verheißungslos – auch für die gegenwärtig Lebenden. Die dieser Gottesrede immanente Frage ist zunächst und in erster Linie die Frage nach der Rettung der ungerecht Leidenden.
Bei solcher Wiederaufnahme des Theodizeethemas in der Theologie geht es nicht, wie das Wort und die Wortgeschichte insinuieren mögen, um den Versuch einer verspäteten, einer gewissermaßen trotzigen „Rechtfertigung Gottes“ durch die Theologie angesichts der Übel, der Leiden und des Bösen in der Welt. Es geht vielmehr – und zwar ausschließlich – um die Frage, wie denn überhaupt von Gott zu reden sei angesichts der abgründigen Leidensgeschichte der Welt, „seiner“ Welt. Das ist in meinen Augen „die“ Frage der Theologie; sie darf von ihr weder eliminiert noch überbeantwortet werden. Sie ist „die“ eschatologische Frage, die Frage, auf die die Theologie keine alles versöhnende Antwort ausarbeitet, sondern eine unablässige Rückfrage an Gott.
2. Vor Jahren lief bei uns ein Schlagwort um, in dem sich die Stimmung vieler, vor allem vieler junger Menschen, vieler junger Christen niederschlug. Es lautete: Jesus, ja – Kirche, nein. Wenn ich eine Diagnose für die situative Ausgangslage der Theologie heute wagen sollte, dann würde ich sie so bilanzieren: Religion, ja – Gott, nein. Wir leben in einer Art religionsfreundlicher Gottlosigkeit, gewissermaßen in einem Zeitalter der Religion ohne Gott.
Diese Beobachtung scheint mir folgenreich für die gegenwärtige Behandlung unseres Themas. Solange es nämlich – in einem sehr allgemeinen und unbestimmten Sinn – um Religion geht, gibt es eigentlich kein Theodizeeproblem. Religion dient hier gerade der Vermeidung oder Verhinderung dieser Frage. Religion ist hier, wie es der Philosoph Hermann Lübbe einprägsam formuliert hat, „Kontingenzbewältigungspraxis“. Mit Gott indes kehrt das Risiko und kehrt die Gefahr in die Religion ein bzw. zurück. Die uns zugänglichen und vertrauten Traditionen der Gottesrede kennen jedenfalls auch Einstellungen der Nichtbewältigung von Kontingenz, der Nichtakzeptanz von Lebenslagen, kennen Artikulationen des Widerspruchs, der Klage, des Schreis: im Prophetismus, in den Exodustraditionen, in der Weisheitsliteratur. Hier geht es weder um Theodizeeverweigerung noch um gelingende Theodizee, sondern um die Theodizeefrage als „die“ eschatologische Frage. Als solche verhindert sie die Transparenz der Schöpfung und der Schöpfungsmacht Gottes, das heißt sie verhindert, daß die Schöpfung identitätsphilosophisch, universalgeschichtlich, evolutionslogisch oder wie immer auf ihr gelingendes Ende hin durchsichtig wird; sie sorgt für „Armut im Geiste“, sie begreift Eschatologie als negative Theologie der Schöpfung.
3. Die Antworten der Theologie im strengen Sinn haben nicht eigentlich Problemlösungsgestalt (so wie eben Gott nicht einfach als Antwort auf unsere Fragen bestimmt werden kann). Die Antworten, die die Theologie gibt, bringen die Fragen, auf die sie antworten, nicht einfach zum Verstummen oder zum Verschwinden. Wer zum Beispiel die theologische Rede von der Auferweckung des Christus so hört, daß in ihr der Schrei des Gekreuzigten unhörbar geworden ist, der hört nicht Theologie, sondern Mythologie, nicht das Evangelium, sondern einen Siegermythos. Hier schlummert die Distanz zwischen Theologie und Mythologie. Im Mythos vergißt sich die Frage; er ist deshalb auch therapiegeeigneter, angstberuhigender, vielleicht auch „kontingenzbewältigender“ als der christliche Glaube.
Landschaft von Schreien
Offensichtlich ist Religion ein Urphänomen der Menschheit; immer war die Menschheitsgeschichte auch Religionsgeschichte. Im Sch’ma Israel – im „Höre, Israel, dein Gott ist Einer“ von Dtn. 6, 4 – wird erstmals und einzigartig in der Religionsgeschichte der Menschheit der Name „Gott“ auf die Menschen gelegt. Hier bricht das Gottesbekenntnis in der Geschichte der Menschheit durch, jene Rede von Gott, der sich auch Paulus ausdrücklich anschließt (vgl. 1 Kor 8,4). Und siehe da: Das biblische Israel zeigt sich als eine ausgesprochene Theodizeelandschaft, sozusagen als Volk mit besonderer Theodizee-Empfindlichkeit. Denn angesichts widerfahrenden Leids blieb dieses Israel in seinem innersten Wesen mythisch und idealistisch stumm. Es kannte nicht jenen „Reichtum im Geiste“, mit dem es sich – durch Mythisierung oder Idealisierung der Lebenszusammenhänge, durch eine Art Kompensationsdenken – über die eigenen Ängste, über die Fremde des Exils und über die immer wieder aufbrechenden Leidensgeschichten erheben und mit sich selbst trösten konnte. Es war und blieb „arm im Geiste“. Auch dort, wo es in kultureller und politischer Überfremdung Mythenangebote und Idealisierungskonzepte zuhauf importierte, hat es sich doch nie mit ihnen getröstet.
Israels Gottbegabung, seine Gottfähigkeit (wenn dieses Wort hier erlaubt ist) zeigte sich in einer besonderen Art seiner Unfähigkeit, nämlich seiner Unfähigkeit, sich von geschichtsfernen Mythen oder Ideen trösten zu lassen. Gegenüber den glanzvoll blühenden Hochkulturen seiner Zeit – in Ägypten, in Persien, in Griechenland – blieb Israel schließlich lieber eine eschatologische „Landschaft von Schreien“, eine Erinnerungs- und Erwartungslandschaft, wie übrigens auch die frühe Christenheit, deren Biographie bekanntlich auch mit einem Schrei endet, mit einem nun christologisch angeschärften Schrei, der inzwischen freilich zumeist mythisch oder idealistisch-hermeneutisch zum Verstummen gebracht ist. Auch die Christologie der Christen ist nicht ohne eschatologische Unruhe. Nicht vage schweifende Fragen zwar, wohl aber leidenschaftliche Rückfragen gehören zu jener Gottespassion, über die sich – nach Paulus – die Christen mit den jüdischen Traditionen zu verständigen hätten.
Die heilsdramatische Gestalt der Theodizeefrage als „der“ eschatologischen Frage: müßte sie nicht auch „die“ Frage der christlichen Theologie heute sein und bleiben? Doch inzwischen scheint sie längst entwichtigt oder beruhigt zu sein. Ist es die christliche Botschaft selbst oder ist es die Art, wie sie zur Theologie wurde, die diese eschatologisch gespannte Rückfrage an Gott, die diesen Schrei im Christentum verstummen ließ? Ich weiß, eine solch große und grundsätzliche Frage ist kaum hilfreich, aber ist sie wirklich vermeidbar? Offensichtlich geriete ihre ausführliche Behandlung in die Nähe der jahrhundertealten Debatte um die sogenannte Hellenisierung des Christentums. Ich will dazu hier nur diese Frage anmerken: Haben die christlichen Theologen denn vergessen, daß das Christentum dem griechischen Geist nicht nur viel, sehr viel verdankt, sondern daß es an ihm auch immer wieder gescheitert ist? Von diesem Scheitern wissen wir bekanntlich schon aus der ersten Kirchengeschichte des Christentums, aus der Apostelgeschichte. Sie erzählt von Paulus auf dem Areopag in Athen. Dort konnte sich Paulus mit den Griechen zwar über einen „unbekannten Gott“ verständigen. Als er indes zu ihnen von dem sprach, was die Christen unverbrüchlich mit den jüdischen Traditionen verbindet, als er von Eschatologie und Apokalyptik sprach, von dem Gott, der die Toten auferweckt, da, so heißt es wörtlich, „spotteten die einen, andere aber sagten: Darüber wollen wir dich ein andermal hören. Und so ging Paulus aus ihrer Mitte weg“ (Apg 17,32f.).
Wenn man nicht der Meinung ist, daß der Glaube des Christentums zwar aus Israel stamme, der Geist aber – ausschließlich – aus Athen, wenn man also den biblischen israelitischen Traditionen auch ein Geistangebot an das Christentum (und durch es hindurch an Europa) zutraut, dann wäre dies zu betonen: Die den biblischen Traditionen selbst einwohnende Weise der Weltwahrnehmung, also der Vernunft, hat die Gestalt anamnetischer Vernunft. Sie rekurriert auf den unlöslichen Zusammenhang zwischen Ratio und Memoria (spätmodern ausgedrückt: auf die Fundierung kommunikativer Vernunft in anamnetischer). Diese anamnetische Vernunft widersteht dem Vergessen, auch dem Vergessen des Vergessens, das in jeder puren Historisierung der Vergangenheit nistet. Der Historismus ist für sie eine besondere Art des Vergessens. Die anamnetische Vernunft versteht ihre Hörsamkeit gegenüber Gott als ein Hören auf das Schweigen der Verschwundenen. Sie stuft alles Entschwundene nicht zum existentiell Bedeutungslosen herab. Wissen bleibt für sie im Grund eine Form des Vermissens, ohne das nicht nur der Glaube, sondern auch der Mensch selbst verschwinden würde. Solches Erinnerungswissen, das dem Vergessen des Vergessens auf der Spur bleibt, das, analog zum alttestamentlichen Bilderverbot, auf eine Kultur des Vermissens zielt, wäre nun eigentlich das Organ einer Theologie, die unser fortgeschrittenstes und entwickeltstes Bewußtsein mit der in ihm systematisch vergessenen Klage und Anklage des Geschehenen zu konfrontieren sucht. Es ließe auch in unserer Welt die Umrisse einer Theodizeelandschaft kenntlich werden.
Augustins Freiheitslehre und die Folgen
Ich will nun zunächst der Frage nachgehen, wie es in der Geschichte des Christentums und der Theologie zur Stillstellung der Theodizeefrage, zur Beruhigung der eschatologischen Rückfrage an Gott angesichts der Leidensgeschichte der Welt kam. Dreh- und Angelpunkt ist hier Augustinus.
Das Christentum ist seit seiner Gründungsgeschichte mit zwei konstitutionellen Verlegenheiten ausgestattet, die seine Theologie immer wieder zu dualistischen Lösungskonzepten verführen, zur klandestinen Ehe zwischen Theologie und geschichtsferner Gnosis – von Markion bis zu den späten Idealismen unserer Tage. Es handelt sich einmal um die aus der Treue zum alttestamentlichen Schöpfergott erwachsende Theodizeefrage („Wie läßt sich das Leiden in der Welt, das Leiden Unschuldiger, verbinden mit der Idee eines allmächtigen und gütigen Schöpfergottes?“) und dann um das durch die sogenannte Parusieverzögerung prekär gewordene Verhältnis von Heilszusage und Zeit („Warum kommt Er nicht?“). Von Anbeginn und quasi konstitutionell lauert der gnostische Dualismus als theologische Argumentationsstrategie. Markion bietet ihn schon in der Dämmerstunde des Urchristentums an: Gegen die durch die Parusieverzögerung entstandene Verlegenheit setzt er das gnostische Axiom von der Zeitlosigkeit des Heils und von der Heillosigkeit der Zeit. Und die offene Flanke der Theodizeefrage, die in der Gestalt der Klage, des Schreis und der unbesänftigten Erwartung die biblische Tradition der Gottesrede begleitet, sucht er durch den gnostischen Dualismus von Schöpfergott und Erlösergott zu schließen, dadurch also, daß er die alttestamentliche Tradition des Schöpfergottes von der neutestamentlichen Erlösungsrede absprengt.
Augustinus lebte und lehrte in einer Kirche, die – wie das Adolf von Harnack formulierte – „gegen Markion gebaut“ war. Was nun seinen Vorschlag zur Theodizee angeht, so ist er vor allem seinem sogenannten Freiheitstraktat, dem Traktat De libero arbitrio zu entnehmen. In ihm legt Augustinus die Last für die Verursachung und die Verantwortung der Übel und der Leiden in der Welt ausschließlich auf die Menschheit und deren im widergöttlichen Nein verwurzelten Schuldgeschichte. Gott selbst also, speziell der Schöpfergott, ist bei der Theodizeefrage aus dem Spiel. Angesichts der Leidensgeschichte der Welt gibt es keine eschatologische Rückfrage an Gott; es darf keine geben, da sie schnurstracks zu Markion führen würde, zu dessen Dualismus zwischen Schöpfung und Erlösung.
Die augustinische Konzeption ist wohl nur verständlich als Gegenkonzeption zu Manichäismus und Gnosis. Nicht Gott, sondern die sündig gewordene Menschheit allein trägt die Last der Verantwortung für eine vom Leid zerrissene, vom Leid durchkreuzte Schöpfung. Augustins emphatische Freiheitslehre entspringt eigentlich einer apologetischen Absicht: der Apologie des Schöpfergottes. Erstaunt stellt man dabei fest, daß diese Apologie ihn dazu, verführte, eine gottunabhängige, eine geradezu gottlose Autonomie menschlicher Freiheit zu unterstellen, wie sie eigentlich nur aus der säkularisierten Moderne bekannt ist.
Natürlich ist auch Augustinus von der Frage beunruhigt, wie tragfähig denn die menschliche Freiheit im Blick auf diese universale Leidensgeschichte der Menschheit sei. Unter Berufung auf den Römerbrief entfaltet er bekanntlich die Doktrin von der Erbsünde, die aus der Menschheit eine Massa damnationis gemacht hat, und die Lehre von der Prädestination, der göttlichen Erwählung und Vorherbestimmung. Hier bleibt Augustinus dunkel, ja in einer gewissen Weise widersprüchlich. Entsprechend enthält auch das „Theodizee-Paradigma“ des Augustinus bzw. aller augustinistisch geprägten Theologie eine Reihe von Aporien, deren augenfälligste ich hier andeuten will.
1. Schwerlich ist Hans Blumenberg zu widersprechen, wenn er vermutet, daß der theologische Dualismus des Markion und der Gnosis, der Dualismus zwischen dem Schöpfergott und dem Erlösergott, bei Augustinus als anthropologischer Dualismus wiederkehrt: als Dualismus zwischen den (wenigen) in der Gotteserwählung Geretteten und der Massa damnationis, die verantwortlich ist für die Übel in der Welt, für die Verderbnis von Gottes guter Schöpfung.
2. Augustinus teilt eine Prämisse mit Markion; sie lautet: Gott selbst darf in diese Frage nicht hineingezogen werden. Doch diese Prämisse widerstreitet gerade den Grundsätzen der theologischen Freiheitslehre. Da die Freiheit des Menschen eben nicht autonom, sondern theonom, das heißt von Gott ermöglicht, von ihm gesetzt und empfangen ist, kann sie für die Leidensgeschichte der Welt nicht letztverantwortlich sein, fällt diese Frage gewissermaßen auf Gott und seine vorherbestimmende Souveränität erneut zurück. Die in der scholastischen Theologie eingeübte Unterscheidung zwischen Zulassung und Bewirkung schuldiger Freiheit klingt hier eher wie eine hilflose apologetische Distinktion.
3. Die Gottesrede der biblischen Traditionen enthält ein Versprechen: das Versprechen der Rettung, gepaart mit dem Versprechen einer universalen Gerechtigkeit, die auch die vergangenen Leiden rettend einschließt. Bei Augustinus nun ist die „Rettung“ exklusiv als „Erlösung“, als Erlösung von Sünde und Schuld gedacht. Nicht im Blickpunkt steht jenes Leid und jene Leidensgeschichte, die alltagsempirisch gerade nicht auf die Schuld bzw. Schuldgeschichte zurückgeführt werden können und die doch den größten Teil der himmelschreienden Leidenserfahrung in der Welt ausmachen. Die biblische Vision der Rettung, das im Gottesnamen (sotér) enthaltene Rettungsversprechen bezieht sich aber nicht nur auf die Erlösung von Sünde und Schuld, sondern auch auf die Errettung aus den Leidenssituationen der Menschen. Bei Augustinus wird die vom Hunger und Durst nach Gerechtigkeit geleitete Gottesfrage, also die eschatologische Frage nach der Gerechtigkeit Gottes, ersetzt durch die anthropozentrische Frage nach der Sünde des Menschen. Die Theodizeefrage als „die“ eschatologische Frage ist stillgestellt. Das hatte seine Folgen. Ich möchte zwei nennen:
1. Weil die Theologie angesichts der Leidensgeschichte der Welt keine Rückfrage an Gott zuließ, weil sie sich gewissermaßen vor den allmächtigen und gütigen Gott stellte und den schuldig gewordenen Menschen allein verantwortlich machte für diese Leidensgeschichte, und weil sie damit schließlich den Eindruck erweckte, sie suche sich gewissermaßen hinter dem Rücken der namenlosen Leiden Unschuldiger mit dem allmächtigen Gott zu versöhnen und zu verabreden: eben darum empörte sich der Mensch gegen diesen Gott der Theologen, eben darum konnte die Theodizeefrage zur Wurzel des modernen Atheismus werden.
2. Als indirekte Folge dieses augustinischen Paradigmas darf die extreme Übersteigerung des Schuldgedankens, gewissermaßen die harmatologische Überforderung des Menschen angesehen werden, das, was man in Anklang an eine Formulierung Blumenbergs den Sündenabsolutismus des Christentums nennen könnte. Der erweckte nun eine für das Christentum und die Theologie folgenreiche Gegenreaktion: Freiheit entzog sich immer mehr dem Schuldverdacht; im Autonomiebegriff der Moderne wurde Schuld geradezu zum Antipoden von Freiheit, und Schuldfähigkeit galt immer weniger als Auszeichnung, als Würde der Freiheit selbst. Dazu gibt es inzwischen auch innerchristliche, innerkirchliche Korrespondenzen. Nicht von ungefähr hat die neue (postmoderne) Mythenfreudigkeit gerade im Christentum Konjunktur. Die grassierende Remythisierung und Psychologisierung der Botschaft empfiehlt sich mit ihren Unschuldsträumen und Unschuldsvermutungen über den Menschen, mit ihrer ethischen Suspension des Glaubens. Sie wäre zu begreifen als Reaktion auf eine kirchliche Verkündigung, die extrem moralisiert erscheint, die angesichts der himmelschreienden Zustände der Schöpfung jeweils nur paränetische Fragen an das Verhalten der Menschen, aber keine eschatologischen Rückfragen an Gott kennt.
Leiden in Gott?
Ich wende mich nun der gegenwärtigen Diskussionslage zu. Bei der theologischen Behandlung der Gottesfrage stehen gegenwärtig trinitätstheologische Konzepte offensichtlich im Vordergrund. Gehört es schließlich nicht zum „spezifisch christlichen“ Umgang mit der Theodizeefrage, sie eben mit trinitätstheologischen Motiven zu beantworten und zu beruhigen, also das menschliche Leid in Gott selbst, in der innertrinitarischen Gottesgeschichte „aufgehoben“ zu sehen? Von Karl Barth bis Eberhard Jüngel, von Dietrich Bonhoeffer bis Jürgen Moltmann, auf katholischer Seite vor allem bei Urs von Balthasar, inzwischen auch religionsphilosophisch bei Peter Koslowski spricht man vom leidenden Gott, vom Leiden zwischen Gott und Gott, vom Leiden in Gott. Ich kann mich nicht anschließen. Und ich nenne meine wichtigsten Vorbehalte: Ist hier nicht zuviel spekulative, gnosisnahe Versöhnung mit Gott hinter dem Rücken der menschlichen Leidensgeschichte am Werk? Gibt es nicht gerade für Theologen jenes negative Mysterium menschlichen Leidens, das sich auf keinen Namen mehr reimen lassen will? Wieso ist die Rede vom leidenden Gott nicht doch nur eine sublime Verdoppelung menschlichen Leidens und menschlicher Ohnmacht?
Und auch anders herum: Wieso ist die Rede vom solidarischen Gott, der mit uns leidet, nicht nur eine projektive Verdoppelung unter dem anonymen Druck eines gesellschaftlich herrschenden Solidaritätsideals (so wie früher, in feudalistischen Gesellschaften, Gott als unnahbarer König und Herr vorgestellt wurde …)? Wird hier nicht in jedem Fall die klassische Analogielehre (von der maior dissimilitudo zwischen Gott und Welt) verletzt? Wieso führt die Rede vom Leiden in Gott bzw. vom Leiden zwischen Gott und Gott nicht doch zu einer Verewigung des Leidens? Geraten hier Gott und Mensch nicht unter eine quasi mythische Universalisierung des Leidens, die schließlich auch den Aufschwung, der dem Unrecht widersteht, bricht? Oder ist vielleicht bei dieser Rede vom leidenden Gott zuviel Hegel im Spiel, zuviel „Aufhebung“ der Negativität des Leidens in der durchschauten Selbstbewegung des absoluten Geistes, also doch zuviel Herabdeutung des Leidens auf dessen Begriff? Kommt bei der Rede vom leidenden Gott nicht so etwas wie eine heimliche Ästhetisierung allen Leidens zur Geltung? Leiden, das uns schreien oder schließlich kläglich verstummen läßt, kennt keine Hoheit, es ist nichts Großes, nichts Erhabenes; es ist in seinen Wurzeln alles andere als ein solidarisches Mitleiden, es ist nicht einfach Zeichen der Liebe, sondern weit mehr erschreckendes Anzeichen dafür, nicht mehr lieben zu können. Es ist jenes Leid, das ins Nichts führt, wenn es nicht ein Leiden an Gott ist.
Was aber ist mit der Christologie? Ich glaube nicht, daß die Christologie die Theologie dazu nötigt oder auch nur dafür legitimiert, vom leidenden Gott bzw. vom Leiden „in“ Gott zu sprechen. Mit Karl Rahner wehre ich mich nachdrücklich dagegen, das Sohnesbewußtsein des Menschen Jesus von Nazareth gegenüber seinem göttlichen Vater gleichsinnig zu verstehen mit den Aussagen über einen innergöttlich gezeugten ewigen Sohn.
Wie aber kann ohne Rede vom leidenden Gott die Theologie vom Schöpfergott angesichts der himmelschreienden Zustände seiner Schöpfung den Apathieverdacht fernhalten? Steht nicht bei Johannes lapidar: „Gott ist Liebe“? Wie wäre diesem biblischen Satz anders Rechnung zu tragen als mit der Rede von einem leidenden, von einem „mit“ seiner vom Leid durchkreuzten Schöpfung leidenden Gott? Gewiß, wo die Gottesprädikate in zeitloser Ruhestellung betrachtet und dann wie nachträglich mit den himmelschreienden Ungerechtigkeiten in der Welt konfrontiert werden – „der allmächtige Gott, wie er sich von oben die Leiden seiner Schöpfung beguckt“ gerät alles in heillose Widersprüche, führt alles schließlich zum Zynismus oder zur Apathie. Unbeachtet bleibt dabei, daß alle Gottesprädikate in den biblischen Traditionen – von der Selbstdefinition Gottes in der Exodusgeschichte bis zum johanneischen Wort „Gott ist Liebe“ – einen Verheißungsvermerk tragen, einen Verheißungsvermerk, der die Theologie legitimiert und nötigt, von der Schöpfung und der Schöpfungsmacht Gottes in der Gestalt negativer Theologie zu sprechen. („Ich werde der für euch sein, der ich sein werde“ – „Ich werde mich euch als Liebe erweisen.“)
Damit flüchtet eine theodizee-empfindliche Theologie nicht etwa in eine leere, in unbefristeter Zeit verrinnende Eschatologie. Sie huldigt nicht einer abstrakten Opposition zwischen Eschatologie und Ontologie. Sie geht nur davon aus, daß alle biblischen Seinsaussagen einen Zeitvermerk haben. Nicht bei den Vorsokratikern, sondern in den eschatologischen Theodizeelandschaften der Bibel wäre der epochalen Frage nach „Sein und Zeit“ und nach der Temporalisierung der Metaphysik nachzugehen. Dann ließe sich auch verläßlichere Auskunft geben über die Nähe und die Ferne Gottes, über seine Transzendenz und über seine „Einwohnung“, über das „Schon“ und das „Noch nicht“ seines Heils. Doch obwohl, wie gesagt, alle theologischen Seinsaussagen mit einem Zeitindex versehen sind, ist in der Theologie selbst kaum etwas so wenig ausgebildet wie ein authentisches, ein ungeborgtes Verständnis von Zeit.
Mystik des Leidens an Gott
Zum Schluß möchte ich noch andeuten, wie ich Gotteserfahrung und Gottesrede verstehe, die sich nicht gegenüber der Theodizeefrage immunisieren. Ich erinnere nochmals an die „Armut im Geiste“, die erste Seligpreisung Jesu. Diese „Armut“ ist die Grundlage jeder biblischen Gotteserfahrung. Sie trennt auch die biblisch inspirierte Mystik von jenem Mythos, der seinerseits nur Antworten, aber keine beunruhigenden Fragen kennt. Ich kennzeichne sie hier versuchsweise als eine Mystik des Leidens an Gott. Sie begegnet gerade auch und vor allem in den Gebetstraditionen Israels: in den Psalmen, bei Hiob, in den Klageliedern und nicht zuletzt in vielen Passagen der Prophetenbücher. Diese Gebetssprache ist selbst eine Leidenssprache, eine Krisensprache, eine Sprache der Anfechtung und der radikalen Gefahr, eine Sprache der Klage und der Anklage, eine Sprache des Aufschreis. Die Sprache dieser Gottesmystik ist nicht in erster Linie trostreiche Antwort auf das erfahrene Leid, sondern eher leidenschaftliche Rückfrage aus dem Leid, eine Rückfrage an Gott, voll gespannter Erwartung.
In dieser Tradition steht auch ein Grundzug der Gottesmystik Jesu. Sie ist in einzigartiger Weise eine Mystik des Leidens an Gott. Sein Schrei am Kreuz ist der Schrei jenes Gottverlassenen, der seinerseits Gott nie verlassen hatte. Das weist, so meine ich, unerbittlich in die Gottesmystik Jesu: Jesus hält der Gottheit Gottes stand; in der Gottverlassenheit des Kreuzes bejaht er einen Gott, der noch anders und anderes ist als das Echo unserer Wünsche, und wären sie noch so feurig; der noch mehr und anderes ist als die Antwort auf unsere Fragen, und wären sie die härtesten und leidenschaftlichsten – wie bei Hiob, wie schließlich bei Jesus selbst.
Ist aber solche Mystik überhaupt noch tröstlich? Und will anderseits der biblische Gott nicht vor allem dies sein: Trost für die im Leid Zerfallenden, Beruhigung für die von Existenzangst Umgetriebenen? Hier kommt es sehr darauf an, die biblischen Trostverheißungen nicht mißzuverstehen. Unsere säkularisierte Moderne hat die Sehnsucht nach Trost weder beantworten noch beseitigen können. Entsprechend werden heute – quasi postmodern – Mythen und Märchen als Tröstungspotentiale angeboten. Und die Empfänglichkeit für sie reicht bis tief in die Christenheit. Daran mag sichtbar werden, wie sehr wir uns selbst und andere im unklaren gelassen haben über den biblischen Sinn des Trostes.
War Israel etwa glücklich mit seinem Gott? War Jesus glücklich mit seinem Vater? Macht Religion glücklich? Macht sie „reif“? Schenkt sie Identität? Heimat, Geborgenheit, Frieden mit uns selbst? Beruhigt sie die Angst? Beantwortet sie die Fragen? Erfüllt sie die Wünsche, wenigstens die glühendsten? Ich zweifle.
Wozu dann Religion, wozu dann ihre Gebete? Gott und Gott zu bitten ist schließlich die Auskunft, die Jesus seinen Jüngern über das Gebet gibt (vgl. Luk 11,1-13, spez. 11,13). Andere Tröstungen hat er, genau genommen, nicht in Aussicht gestellt. Der biblische Trost entrückt uns jedenfalls nicht in ein mythisches Reich spannungsloser Harmonie und fragloser Versöhntheit mit uns selbst. Das Evangelium ist kein Katalysator, kein Durchlauferhitzer zur Selbstfindung des Menschen. Darin haben sich auch alle Religionskritiker, von Feuerbach bis Freud, getäuscht. Die „Armut im Geiste“, Wurzel allen Trostes, ist nicht ohne die mystische Unruhe der Rückfrage, auch christlich nicht. Auch christliche Mystik will verstanden sein als eine Mystik des Leidens an Gott. Aus einem Buch von Eugen Biser entnehme ich, was Walter Dirks von seinem Besuch bei dem bereits vom Tod gezeichneten Romano Guardini erzählt: „Er werde sich im Letzten Gericht nicht nur fragen lassen, sondern auch selber fragen; er hoffe in Zuversicht, daß ihm dann der Engel die wahre Antwort nicht versagen werde auf die Frage, die ihm kein Buch, auch die Schrift selber nicht, die ihm kein Dogma und kein Lehramt, die ihm keine ,Theodizee‘ und Theologie, auch die eigene nicht, habe beantworten können: Warum, Gott, zum Heil die fürchterlichen Umwege, das Leid der Unschuldigen, die Schuld?“
Die mystische Unruhe der Rückfrage, wie sie hier zum Ausdruck kommt, entspringt nicht etwa einem typisch intellektuellen Kult des Fragens, der ja gerade den Leidenden selbst am fernsten wäre. Nicht vage schweifende Fragen, wohl aber leidenschaftliche Rückfragen gehören zu jener Mystik, über die wir uns – um der wahren Tröstung willen – zu belehren hätten. Und dies vor allem, wenn wir nicht vergessen, daß die biblisch-christliche Mystik nicht eigentlich eine Mystik der geschlossenen Augen ist, sondern eine Mystik der offenen Augen, die uns auf die gesteigerte Wahrnehmung fremden Leids verpflichtet.
Quelle: Stimmen der Zeit 210 (1992), S. 311-320.