Predigt über Johannes 20,19-23 – Wie die Jünger froh wurden
Von Hans Joachim Iwand
Am Abend aber desselben ersten Tages der Woche, da die Jünger versammelt und die Türen verschlossen waren aus Furcht vor den Juden, kam Jesus und trat mitten ein und spricht zu ihnen: Friede sei mit euch! Und als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände und seine Seite. Da wurden die Jünger froh, daß sie den Herrn sahen. Da sprach Jesus abermals zu ihnen: Friede sei mit euch! Gleichwie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Und da er das gesagt hatte, blies er sie an und spricht zu ihnen: Nehmet hin den heiligen Geist! Welchen ihr die Sünden erlasset, denen sind sie erlassen; und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.
Am selben Abend erscheint Jesus den Jüngern, den furchtsamen Jüngern. O, wir kennen solche Furcht. Wir kennen das Sitzen hinter verschlossenen Türen. Darum können wir auch ermessen, was es bedeutet haben muß, wenn Er plötzlich unter sie tritt. Es muß beschämend gewesen sein wie damals, als die Jünger meinten, das Boot, in dem sie saßen, werde den Sturm nicht überdauern. Auch damals erhob Er sich und schon dieses Erwachen war Zeichen und Vorspiel kommender Auferstehung. Sie bleibt für alle kommenden Zeiten Zurechtweisung und Tadel an alle, die nicht mehr mit ihm als dem Lebendigen rechnen. Darum seine Frage: »Warum seid ihr so feige, ihr Geringgläubigen?« (Matth. 8,26). Weil Jesu Auferstehung Sieg ist, darum gehört die Furcht im Neuen Testament zu den Hindernissen, die einem das Reich Gottes verschließen. Sie ist Sünde wie Götzendienst und Unzucht. Wer Mitleid haben würde mit diesen sich fürchtenden Jüngern, der würde gerade kein Mitleid mit ihnen haben dürfen. Denn das Reich Gottes ist in Bewegung geraten, es geht voran, wir dürfen nicht stillstehen oder gar weichen. In diesem Kampf werden Feldflüchtige erschlagen und nur die Sieger sind Erben der Verheißung.
Leider ist uns nichts darüber berichtet, was die Jünger an jenem so bedenklichen, so verzweifelten ersten Osterfest miteinander gesprochen haben mögen. Was für erregende Tage müssen das überhaupt für sie gewesen sein. Immerhin, aus der Tatsache, daß die Erscheinung des Auferstandenen in ihrer Mitte eine solche Sensation bedeutet – bis heute ist sie es für uns geblieben – kann man einiges schließen. Wenn sie Glauben gehabt hätten, wäre seine Erscheinung gar nicht nötig gewesen. Aber sie hatten eben keinen Glauben. Wir können uns eine solche Versammlung kirchlicher Führer nur allzu gut vorstellen. Wie oft hat sich das noch später in der Kirchengemeinde wiederholt: eine kleine Schar verantwortlicher Männer, beratend wie die Sache weitergehen soll, verlassen und verängstet, betend vielleicht und redend, aber eben doch zutiefst sich fürchtend! Wenn ein Maler dieses Bild einmal malen würde, müßte er es machen wie Rembrandt. Er müßte die Jünger ins Heute rücken, ihnen unsere Gesichter und Kleider geben. Er müßte sie malen als Bischöfe und Professoren, als Kirchenjuristen und Laienprediger. Er müßte sie malen wie sie auf ihren Konzilien und Synoden zusammentreten, im katholischen Bunt und im protestantischen Schwarz, die Führer der Großkirchen und die Bruderräte der Sekten, um zu beraten, wie die Sache Jesu, die ihnen zu treuen Händen übergeben zu sein scheint, weitergehen soll. Wie man sie – angesichts der feindlichen Massen und der kleinen, verlassenen Herde – ins Morgen hinüberretten soll, bis der Herr kommt! Diese verlassenen Jünger beraten offenbar ohne die Gegenwart des Auferstandenen. Sie wissen um Jesus, sie kennen seine Werke und Taten, sie halten sich an die Überlieferung, die sie nun zu bewahren haben – und sie glauben, daß Er wiederkommen wird, am Ende der Tage. Aber das Interim, die Zeit zwischen dem ersten und dem zweiten Advent ist ein Vakuum – scheint ihnen zu gefallen, ihrer Leistung und damit auch ihrem möglichen Versagen; ihrer Verantwortung und darum auch ihrer Sorge. Die Sache ist zu gewaltig und die eigene Kraft zu gering – darum die verschlossenen Türen. Darum der Rückzug ins Konventikel. Darum die Lehre von den beiden Reichen: die Welt draußen und das Reich Gottes drinnen! Darum der Versuch der nun das Kommando übernehmenden Unterführer, sich vom Feinde »abzusetzen« und mit der Welt einen Vertrag gegenseitiger Duldung abzuschließen. Nicht der Glaube, sondern die. Sorge sitzt mit ihnen am Tisch, die Sorge um den Fortgang der Sache Jesu, und mit der Sorge nun doch wieder die Welt, die sie zu bannen meinten.
Es ist seit dem 18. Jahrhundert die Neugier der Gelehrten gewesen, zu enträtseln, was wohl in jenen Ostertagen hinter diesen verschlossenen Türen vor sich gegangen sein mag. Man hat sich lange damit geholfen, daß man zwischen einem Jesus vor und einem Jesus nach der Auferstehung unterschied. Einem, der sich selbst zeigte und einem, wie er den Jüngern erschien und im Gemeindeglauben bekannt wurde. Es soll heute noch Neutestamentler geben, die sich durch eine derartige – die Zwei-Reiche-Theorie heraufbeschwörende! – Trennung ein neutrales historisches Untersuchungsfeld zu sichern trachten. Adolf von Harnacks Unterscheidung zwischen dem Evangelium Jesu und dem Evangelium von Jesus gab das Stichwort für dieses historisch-liberale Denken. Alle diese Leute hätten recht, wenn die Jünger damals recht gehabt hätten – daß es jetzt auf sie, auf die Gemeinde, auf sie als die Überlebenden nach der Katastrophe von Golgatha ankäme. Wenn die Gemeinde die Klammer wäre zwischen dem irdischen und dem auferstandenen Jesus, dann hätten unsere Historiker recht, die auf dieser Brücke aus der Zeit vor der Auferstehung in die Zeit nach der Auferstehung gelangen möchten! Aber sie irren sich, auf dieser Brücke steht der Auferstandene selbst, steht da als Grenze und Anfang zugleich. Ende der Alten und Beginn der Neuen Zeit! Nicht nur im Gestern und im Morgen, im Heute begegnet er den Seinen. Denn Jesus Christus ist das Heute der Gnade Gottes mitten unter uns, das ewige Heute!
So werden wir es verstehen müssen, wenn wir hören, daß Jesus Christus selbst unter die Jünger tritt. Als ob er damit den Kardinalfehler aufdecken wollte, den sie in ihrer Ratlosigkeit begingen. Mit seiner Gegenwart will Jesus doch wohl sagen: Ihr könnt meine Sache nicht wie ein Erbe verwalten, auch nicht in irgendeinem Interim, denn so gewiß, als ich alle Tage bei Euch bin, gibt es kein Interim. Der Platz, den ich gerade durch meine Auferstehung einnehme, muß für mich frei bleiben. Von mir und meiner Sache darf niemand sprechen, als wäre das die Hinterlassenschaft eines Toten. Vielmehr »Ich lebe« und darum sollt ihr – die Todgeweihten – auch leben. Kehrt diese Regel nicht um, haltet nicht etwa euch für die Lebenden und mich für einen Toten!
Und vielleicht kann man noch ein weiteres dazu sagen (wir denken hierbei immer noch an die geschlossenen Türen): Die Christenheit ist keine Verschwörung, die wie eine Krankheit der Gesellschaft im Dunkel schleicht. Wäre der Herr nicht erschienen, dann könnte das unter Umständen passiert sein. Dann könnte Nietzsche im Recht sein mit seiner Feindschaft gegen das Kreuz und seinem Vorwurf: »Das Kreuz ist das Erkennungszeichen der unterirdischsten Verschwörung, die es je gegeben hat.« Er wollte diese alte heidnische Anklage »an alle Wände schreiben, wo es nur Wände gibt« (Antichrist), und wir wissen ja auch, daß man damit die Straße gegen die Christen mobil machen kann. Das ist die Stimmung, die bei den staatlichen Organen herrscht, welche zur Unterdrückung der Kirche eingesetzt werden! Wir seien eine geheime Verschwörung! Sie hätten recht, wenn den Jüngern die Flucht ins Ghetto gestattet worden wäre. Die Erscheinung des Auferstandenen heißt: Ihr sollt Kinder des Lichts sein. Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten – fürchtet den, der tötet und wieder lebendig macht! So fallen die Riegel der Furcht, die Türen gehen auf und die Botschaft des Evangeliums läuft um den Erdkreis! Jesus duldet nicht, daß sich die Kirche und ihre Führung unversehens an Seine – und das heißt eben an diese Stelle schiebt. Seine Gegenwart erinnert die Jünger, daß ihr Erbe nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft liegt. Denn das Erbe, das Jesus Christus brachte, ist das ewige Leben. Ist Verheißung und bleibt Verheißung bis ans Ende der Tage!
Sein Gruß heißt Friede. So grüßt der Sieger die, für die er siegte. So macht er sie selbst zu Herolden des Friedens (das sind »Evangelisten« Jes. 52,7). In ihm sollen sie Frieden haben, das hatte er scheidend verheißen (Joh. 16,33) – und das erfüllt sich nun an den tief Traurigen. Denn die Zeichen des Friedens sind an dem Auferstandenen offenbar: die Seitenwunde und die Nägelmale. Mag sein, daß der Graf von Zinzendorf des Guten manchmal zuviel getan hat in seiner Blut- und Wundentheologie, aber hatte er nicht sachlich recht gegenüber einem rationalistischen, optimistischen, paganistischen Christentum, das einen Christus ohne Blut und Wunden haben wollte. Er hatte schon recht, wenn er im Kreuz die Glorie des Sieges sah und es nicht als etwas bloß Irdisch-Vergängliches verstanden und damit verachtet sehen wollte. »Wir deuten das Deo Gloria in exelsis auf Gott am Kreuz und wissen, daß die höchste Sache, das summum bonum aller Seelen, seine Wunden sind«. So steht Jesus Christus unter den Göttern der Heiden, an seinen Wunden erkennbar. Erfunden als ewiger Hoherpriester. Seine Wunden sind das signum sacerdotale, das er trägt, indem er uns trägt. Weil das, was er gelitten hat, vor Gott gilt, darum ist Friede.
Vielleicht ist das der Hintergrund jener knappen Notiz, die hier steht: Da wurden die Jünger froh, daß sie den Herrn sahen. Ob es uns wohl dereinst auch so gehen wird, wenn wir aus der Welt des Glaubens in die des Schauens treten werden? Ob wir auch unseren Gott erkennen werden an seinen für uns erlittenen Wunden? Ob uns auch von hier aus die große Freude erfüllen wird, die alle Tränen trocknet? Aber wer kann froh sein, zu sehen, was er zuvor nie geglaubt hat? Glauben wir aber wirklich, daß alles andere Leiden nichts ist im Vergleich zu dem Kreuz des Herrn? Das Kreuz Jesu ist kein leerer Wahn, sondern ein Anschauungsunterricht unseres künftigen Heils. So haben alle Erscheinungen des Auferstandenen etwas vom Morgenglanz der Ewigkeit an sich, es ist, als ob für einen Moment – für jene einzigartigen 40 Tage – der Schleier hinweggenommen war, der gemeinhin unsere Todeswelt trennt von der Gegenwart ewigen Lebens. Was hier den Augenzeugen geschieht, das wird einmal allen zuteil werden, die aus Glauben leben. Wir werden beim Namen gerufen werden wie Maria, wir werden seiner Erscheinung froh werden wie die Jünger, werden endgültig und fraglos gewiß werden wie Thomas.
Von dieser Höhe her erfolgt nun auch die Berufung der Jünger zur Mission. Der Gesandte Gottes wird nun selbst der Sendende und bläst sie an mit seinem Heiligen Geist, wie Tote, um sie zum Leben zu erwecken. An dieser Stelle könnte es einem doch sehr fraglich werden, ob die Ostkirche recht daran getan hat, sich zu sträuben gegen jene abendländische Lehre, daß der Geist vom Vater und vom Sohne ausgeht. Was hier geschieht, geschieht nicht, um Pfingsten überflüssig zu machen, sondern um die Vollmacht des Auferstandenen, der damit seinem Vater gleichgeordnet ist, zu bezeugen. Ich sende, sagt der durch Kreuz und Auferstehung ausgewiesene Herr – und seine Sendung wird ebenso unwidersprechlich sein wie es die Sendung war, die von seinem Vater ausging und sich in seinem Lebenswerk vollendete. Aber auch inhaltlich soll alles auf demselben Wege bleiben, wie es von ihm – dem zuerst Gesandten – auf Erden begonnen wurde. Der Sinn seiner Sendung ist die Vollmacht, Sünde zu vergeben. Also das zu tun, was niemand tun kann denn Gott selbst! Das soll der Machterweis des Auferstandenen sein, der seine Boten auf ihrem Weg nunmehr umwehen wird. Nur wenn sie in diesem Auftrage verharren, wird der Geist Jesu an ihnen spürbar werden. Und sie werden nur vergeben können, wenn sie zugleich den Mut und die Kraft geben können, wenn sie zugleich den Mut und die Kraft haben, Sünde zu behalten. Luther nannte das magnificare peccatum, das heißt: der von uns immer wieder gering geachteten Sünde ihr wahres Gewicht zu geben. Ein Gewicht, das so schwer ist, daß niemand es bewegen kann und alles, was wir sonst dem freien Willen und der menschlichen Natur zutrauen, daran zuschanden wird. Wer unter seinen Boten nicht mehr den Mut aufbringt, zu bezeugen, daß die Sünde stärker ist als der Mensch und wir darum alle von Natur unter dem Fluch stehen, der wird das Wort von der Vergebung zu einem unkräftigen, einem leeren und die Christen mehr einschläfernden, als erweckenden Worte machen. Darum gehört beides zusammen: das Vergeben und das Behalten. Vergebung bleibt – so wie zu Lebzeiten Jesu – Machtwort, bleibt Entscheidung, die immer den tiefen und schweren Schatten des Sünde-Behaltens bei sich hat. Denn die Rechtfertigung des Sünders ist immer zugleich das Gericht über die Gerechten (trotz Schlatter!). »Er stößt die Gewaltigen vom Stuhl und erhöht die Niedrigen.«
Das ist Jesus – und um deswillen wurden die Armen und Elenden froh, wenn er sich ihnen nahte. Es dürfte eines der Geheimnisse für die so beklagenswerte Unkräftigkeit unserer Botschaft heute sein, daß wir meinen, wir könnten pflanzen und bauen, ohne zugleich auszureißen, zu zerbrechen und zu zerstören. Denn wir haben aus dem Evangelium ein Wort gemacht, das restaurativ ist – Wiederherstellung der Schöpfung, wie man heute sagt – aber Gottes Wort tötet und macht lebendig. Das ist etwas toto coelo anderes.
Das Wort von der Vergebung der Sünden ist letztes Wort, so wie Jesus selbst das letzte Wort Gottes war. Es gibt nichts darüber hinaus. Wer noch etwas darüber hinaus von Jesus und seinen Boten erwartet, der hat es noch nie vernommen.
Gehalten am 30. Mai 1950, Dienstag nach Pfingsten auf einer Evangelischen Woche in Flensburg.
Quelle: Hans Joachim Iwand, Nachgelassene Werke. Neue Folge, Bd. 5: Predigten und Predigtlehre, Gütersloh: Chr. Kaiser. Gütersloher Verlagshaus 2004, Seiten 318-323.