
In seinem letzten Werk „Weisheit in Israel“ hat sich Gerhard von Rad auch des Predigers (bzw. Kohelets) angenommen. Über dessen Gottesverhältnis schreibt er:
Von Gerhard von Rad
Das unter der immer noch nicht befriedigend gedeuteten Verfasserbezeichnung Kohelet stehende Buch – von Luther mit »der Prediger« übersetzt – ist seiner äußeren Form nach ein Ausläufer einer besonders im alten Ägypten gepflegten Literaturgattung, nämlich des Königstestaments. Es enthält eine Anzahl von größeren Lehrdichtungen oder kurzen Sentenzen, die sich, überwiegend im Ich-[293]Stil formuliert, als die persönliche Lebenserfahrung eines weisen Mannes geben. Nachdem sich die Auslegung endgültig von der Annahme eines geschlossenen Gedankenzusammenhanges und eines stufengängigen inneren Aufbaus gelöst zu haben schien und zu der Überzeugung durchgefunden hatte, daß die literarischen Einheiten aus sich heraus zu erklären seien, scheint sich in dieser Sache neuerdings doch wieder ein Wandel anzubahnen.[1] Es gibt eben eine innere Einheit, die sich auch auf andere Weise aussprechen kann als durch eine lineare Gedankenentwicklung oder einen logischen Fortschritt in der Denkbewegung, nämlich durch Einheit des Stils, der Topik und der Thematik, die ein Literaturwerk zu einem Ganzen machen, ja ihm den Rang eines in sich geschlossenen Kunstwerkes geben können. Dies um so mehr im Bereich der altorientalischen Literatur, die ohnedies an anderen Maßstäben gemessen werden muß. Eine besondere vereinheitlichende Funktion haben einige wenige Leitbegriffe, zu denen Kohelet immer wieder zurückkehrt, wie: »Nichtigkeit«, »Haschen nach Wind«, »Mühsal«, das »Teil« usw. Der – im Unterschied zu Hiob – ganz leidenschaftslosen verhaltenen Feierlichkeit und Gewalt seiner Diktion kann sich auch der moderne Leser nicht entziehen. Das Buch ist also doch mehr als eine nachträglich redigierte Sammlung. Als eine so profilierte geistige Individualität präsentiert sich keine andere Spruchsammlung, auch die des Sirach nicht. In seinen Fragestellungen freilich steht Kohelet ganz in der Tradition der Weisheit. Es geht ihm darum, die Abläufe und Widerfahrnisse zu »erforschen«, und er stellt sich die Frage, was denn »gut« ist für den Menschen.[2] Ein Unterschied gegenüber der älteren Weisheit ist interessant: Ihm geht es weniger um die Fixierung und die Diskussion von Einzelerfahrungen als um das Lebensganze und ein abschließendes Urteil darüber. Darin also ist Kohelet in theologischer Hinsicht viel anspruchsvoller geworden. Kohelet versteht zwar seinerseits sein bekanntlich sehr [294] negatives Gesamturteil als das schlüssige Ergebnis vieler Einzelerfahrungen. Indessen ist es klar, daß ein so eindeutiges Urteil über Leben und Geschick der Menschen nicht ausschließlich auf Erfahrungen stehen kann. Hier kommen noch ganz andere Faktoren ins Spiel. Davon muß unten noch die Rede sein. Geben wir zuerst ihm das Wort, so ergeben sich drei grundlegende Einsichten, um die seine Reflexionen fortwährend kreisen. 1. Eine rationale Durchforschung des Lebens vermag auf keinen tragfähigen Sinn zu stoßen; es ist alles »nichtig«. 2. Gott bestimmt alle Geschehnisse. 3. Der Mensch vermag diese Setzungen, das »Werk Gottes« in der Welt, nicht zu erkennen. Es versteht sich, daß sich diese Sätze gegenseitig bedingen, daß also einmal das Schwergewicht einer Aussage nur auf einen fällt, daß sie aber doch unlösbar zusammengehören.
1. Das Leben ist nichtig. Die durchgestandene Mühsal steht in keinem Verhältnis zu seinem Ertrag (1,3; 2,22f). Ein Blick auf die menschliche Sozialstruktur eröffnet trostlose Perspektiven. An der Stätte des Rechts herrscht das Unrecht (3,16). Es führt zu nichts Gutem, daß über dem Hohen ein Höherer und über dem Höheren ein noch Höherer steht (5,7), daß ein Mensch über den anderen Gewalt hat (8,9), die Tränen der Unterdrückten trocknet niemand; kein Tröster ist da (4,1). Ordentlichkeit und Rechtschaffenheit lohnen sich nicht. Oft geht es den Bösen viel besser, und der Tod macht zuletzt doch alle einander gleich (7,15; 8,10.14; 9,2). Zum Schlimmsten gehört, daß der Mensch außerstande ist, über die Zukunft zu verfügen, daß er ihr ungeschützt preisgegeben ist. Er weiß ja nicht, was geschehen wird, denn was da geschehen wird, wer kündet es ihm an? (8,7; 9,1; 10,14). Hinter dem Problem der Zukunft steht für Kohelet die noch schwerere Frage des Todes, der seinen Schatten auf jede Sinndeutung des Lebens legt. Redet Kohelet vom Geschick (miḳräh), so ist damit zugleich auch der Tod anvisiert.[3] So z. B. in der berühmten Stelle, wo er sich die Frage stellt, ob sich das Geschick der Menschen wirklich von dem der Tiere unterscheide (3,19). In der großen Alle-[295]gorie 12,2-6 deckt er schonungslos auf, wie die Lebensäußerungen des Menschen im Alter nachlassen, wie es immer dunkler um ihn wird, bis »die silberne Schnur zerreißt und die goldene Schale zerspringt«. Angesichts solcher Aspekte kann es nicht verwundern, daß auch das fraglich wurde, was den Alten zum Sichersten gehörte, der Wert der Weisheit gegenüber allen Spielarten der Torheit. Gewiß, auch unter sehr ungünstigen Bedingungen ist der Weisheit gelegentlich ein Vorrang zuzuerkennen. Aber was nützt sie, wenn sie unerkannt und also ungenützt bleibt (9,13-10)? Und ist nicht das Nachdenken über Weisheit und Torheit im Grunde auch ein Haschen nach Wind? Denn »bei viel Weisheit ist viel Kummer«, und »wer Erkenntnis mehrt, der mehrt Leiden« (1,16-18).
2. Trotz all dieser niederdrückenden Wahrnehmungen ist Kohelet weit davon entfernt, das Geschehen in der Welt für einen planlosen Wirrwarr zu halten. Er weiß um etwas, das doch geheimnisvoll wie eine Ordnung in allen Geschehnissen waltet; er nennt das gern neutral die »Zeit« und rührt damit an die Tatsache, daß alle Betätigungen und Widerfahrnisse irgendeiner Determination unterworfen sind. Wir erinnern uns des großen Textes, von dem schon in anderem Zusammenhang die Rede war, daß nämlich für alles Zeit und Stunde gesetzt ist, für alles Wollen unter dem Himmel (3,1-8.17). Zu dieser Vorstellung kehrt Kohelet immer wieder zurück. Für jede Sache gibt es Zeit und Recht (8,6). Diese Bestimmtheit aller Verrichtungen hat aber gar nichts Tröstliches, denn oft genug wird durch sie das vom Menschen mühsam Erlernte außer Kurs gesetzt.
Wiederum sah ich unter der Sonne, daß nicht die Schnellen das Rennen machen, noch die Helden den Krieg gewinnen und auch nicht die Weisen Brot erlangen, noch auch die Verständigen Reichtum, noch auch die Einsichtigen Gunst, sondern, daß Zeit und Zufall sie alle trifft. Kennt doch der Mensch nicht seine Zeit … (Koh 9,11f) [296]
Gegen diese geheimnisvolle Setzung gibt es kein Ankämpfen. Der Mensch ist ihr schlechterdings unterworfen. »Was geschieht – längst ist sein Name vorgenannt« (d. h. es ist zum Geschehen aufgerufen). Der Mensch »vermag nicht zu rechten mit dem, der stärker ist als er« (6,10). Hier wird es nun deutlich, was hinter dieser unverrückbaren Setzung steht; es ist Gott selbst, der die »fallenden Zeiten« bestimmt. Nicht nur die Glückstage, auch die Unglückstage hat Gott »gemacht«, und so müssen sie hingenommen werden (7,14).
Ich erkannte, daß alles, was Gott tut, für ewig feststeht. Man kann nichts zu ihm dazutun noch etwas von ihm wegtun. Und Gott hat es so gemacht, daß man sich vor ihm fürchte. (Koh 3,14)
Auch hier liegt der Ton auf dem durchaus Unabänderlichen, dem sich der Mensch zu fügen hat. Wir stehen damit vor der merkwürdig paradoxen Tatsache, daß Kohelet die Welt und das Geschehen als durchaus undurchsichtig erscheint, daß er sie aber andererseits ganz dem Handeln Gottes ausgeliefert weiß. Der Punkt, an dem ihm dieses Handeln Gottes als eine reale Macht und Wirklichkeit greifbar wird, ist eben die Erfahrung von der für alles Geschehen gesetzten Zeit. Wie sehr Kohelet die Welt von dem freien Handeln Gottes durchwaltet und umgriffen weiß, werden die Sätze vollends deutlich machen, die wir erst im Folgenden heranziehen können.
3. Dieses Wissen um Gott und seine Verfügungsgewalt über die Welt birgt für Kohelet nicht, wie einer wohl denken könnte, allenfalls etwas wie einen Ruhepunkt für sein Denken, das sich suchend von einem Phänomen zum anderen wendet. Das Gegenteil ist der Fall. Mit dem Wissen um Gott verbindet sich seine tiefste Denknot. Hier liegt die eigentliche Ursache all seiner Mühsal. Um dieses sein Problem recht zu Gesicht zu bekommen, setzen wir noch einmal bei jenem großen Text ein, der von der allem Tun gesetzten Zeit handelt. Er hat nämlich eine sehr charakteristische Fortsetzung, in der Kohelet persönlich seine Folge-[297]rungen aus dieser Wahrheit zieht. Was folgt denn nun aus alledem, insbesondere für den Menschen, der auf Lebensbemächtigung ausgeht, also für den »Tätigen«? Hier die Antwort Kohelets:
Was hat der Tätige für einen Gewinn in dem, worum er sich müht? Ich sah die Mühe, die Gott über die Menschen verhängt hat, daß sie sich darin abmühen. Alles hat er schön gemacht zu seiner Zeit, auch die ferne Zeit (?)[4] hat er ihnen ins Herz gegeben – nur daß der Mensch das Werk, das Gott tut, von Anfang bis zu Ende nicht herausfindet. (Koh 3,9-11)
Auf die Frage, was denn dabei für den Menschen herauskommt (jitrōn), antwortet Kohelet: Mühsal! Das liegt aber nicht an den Zielsetzungen Gottes; sie sind »schön«, wie Kohelet sagt. Es liegt daran, daß der Mensch das »Werk Gottes« nicht »finden« kann. Damit meint Kohelet, daß der Mensch sich nicht darauf einstellen, daß er das jeweils von Gott Bestimmte nicht einkalkulieren kann. Genau in diesem Sinne sagt er später, daß »der Mensch seine Zeit nicht kennt«. Blind und unwissend, wie Tiere ins Netz gehen, so überfällt ihn plötzlich eine »böse Zeit« (9,12). Wohl hat Gott auch »den bösen Tag gemacht«, aber das ist kein Trost, weil der Mensch das ja nicht finden kann, was nach ihm kommt (7,14).
Es ist etwas Eitles, das auf der Erde geschieht, daß es Gerechte gibt, denen es ergeht, als hätten sie wie Gottlose gehandelt, und daß es Gottlose gibt, denen es ergeht, als hätten sie als Gerechte gehandelt. Ich sagte, daß auch dieses eitel ist. Da pries ich die Freude, weil es für den Menschen unter der Sonne nichts Besseres gibt, als daß er esse und trinke und sich freue. (Koh 8,14f)
Damit hat Kohelet wohl das Letzte ausgesprochen, worin er die eigentliche Last, die Mühsal des Menschenlebens sieht. Es sind nicht die Widrigkeiten an sich; es ist vielmehr [298]eine unübersteigliche Grenze, die seinem Erkenntniswillen gesetzt ist. Jeder Leser fragt sich beklommen, was denn bei einer solchen Sicht der Dinge im Horizont so niederdrückender Erkenntnisse für Kohelet noch bleibt. Gibt es da überhaupt noch Lebenswertes? Fast kann man es sich ausrechnen: Nachdem Gott den guten wie den bösen Tag »macht« (7,14), so bleibt das dem Menschen, daß er sich für das Gute, das Gott ihm zu gewähren bereit ist, mit aller Aufgeschlossenheit bereithält. »An einem guten Tag sei guter Dinge« (7,14)! Das ist nun auch ein Thema, auf das Kohelet mit einer auffallenden Eindringlichkeit immer wieder zurückkommt. Kein Wunder, denn hier ist nun endlich ein Punkt, an dem das Handeln Gottes am Menschen einigermaßen eindeutig wird. Die Frage nach »dem Teil« des Menschen, d. h. nach dem ihm gewiesenen Ort im Leben, wir würden heute sagen: die Sinnfrage – an diesem einen Punkt hat Kohelet eine positive Antwort, denn hier läßt sich ein dem Menschen heilsam zugekehrter Wille Gottes erkennen. Das ist das einzige, was man »gut« nennen kann, »daß der Mensch sich freue bei seinem Tun, denn das ist sein Teil« (3,22; 5,17).[5] Es ist mit Recht betont worden, daß diese Mahnung, Freude und jede Lebenssteigerung wahrzunehmen, ja nicht verwechselt werden darf mit jenem Lebenshunger, der sich so gern im Schatten der Verzweiflung ansiedelt. Eher verhält es sich umgekehrt. Hier erst weiß sich Kohelet im Einklang mit einem Willen Gottes; hier sieht er sich einem schenkenden Gott gegenüber, »denn es steht ja nicht beim Menschen, daß er esse und trinke und sich’s wohlsein lasse. Auch das sah ich, daß es aus Gottes Hand kommt« (2,24). Wie bewegt spricht dieser spröde Theologe von Gott, wenn er auf dieses Thema zu sprechen kommt!
Wohlan, iß mit Freuden dein Brot und trinke deinen Wein mit gutem Mut, denn schon längst hat Gott dein Tun gebilligt. Allezeit seien deine Kleider weiß, und an Öl auf deinem Haupte soll es nicht man-[299]geln. Genieße das Leben mit dem Weibe, das du lieb hast, all die Tage ¿eines flüchtigen Lebens, die er dir unter der Sonne gegeben hat, denn das ist dein Teil im Leben und in deiner Mühsal, in der du dich mühst unter der Sonne. (Koh 9,7-9)
Ein solches Werk sachgemäß zu interpretieren ist für uns, die wir in der abendländischen Literatur kaum Vergleichbares haben, gewiß schwierig. Fest steht nur dies, daß Kohelet kein abgeschlossenes Lehrganzes vorlegt, sondern daß er – wenn auch mit sehr eigenwilligen Fragen und Thesen – an der uralten Lehrtradition weiterspinnt. Eine saubere Trennung seines »geistigen Eigentums« von dem Übernommenen ist von ihm gar nicht beabsichtigt. Trotzdem läßt sich seine eigene revolutionäre Position ziemlich deutlich abgrenzen. Über eine andere Schwierigkeit, die eine sachgemäße Interpretation des Buches belastet, sollte man sich aber auch klar sein. Sie liegt nicht im Text, sondern der Ausleger bringt sie selbst ins Spiel. Er sieht sich nämlich in seinem eigenen Lebensgefühl von der Schwermut Kohelets so unmittelbar angesprochen und bestätigt, daß er fast im vorhinein für sie gewonnen ist. Die Sätze Kohelets leuchten ihm so ein, daß er dazu neigt, in ihnen geradezu etwas wie einen Durchbruch zu sehen von einer gezwungenen, »dogmatisierten« Weisheit hin zu einer realistischeren und wahreren Weltvorstellung. Es ist aber klar, daß sich bei einem Einstieg, der von einer so offenkundigen Parteinahme belastet ist, sachfremde weltanschauliche Vorgegebenheiten in die Auslegung einmischen und zu problematischen Bewertungen führen. Demgegenüber muß man sich immer aufs neue die Aufgabe stellen, nach dem spezifischen Stellenwert der Lehre Kohelets im Horizont der Lehren seiner Zeit zu fragen.
Wie unmittelbar Kohelet in der Lehrtradition steht, wird daran deutlich, wie er von Gott redet. Verstünde man seine Lehre als eine in sich abgeschlossene »Philosophie«, so müßte man ihm angesichts so schwacher theologischer Prämissen Inkonsequenz vorwerfen. Aber in dieser Sache – daß Gott ist und souverän in der Welt handelt – teilt [300] er ganz die Auffassung der älteren Lehrer. Neu und allerdings alarmierend ist seine Meinung über das Verhältnis des Menschen zu diesem, wie gesagt kontinuierlichen »Werk« Gottes, nämlich, daß es sich in seiner Logik der Wahrnehmung des Menschen und seinem Begreifen durchaus entzieht und daß deshalb der Mensch auch außerstande ist, sich darauf einzustellen.[6] Die Folgen dieser Überzeugung sind – an der Zuversicht der älteren Weisheit gemessen – katastrophal. Der starke Wille zur Lebensbemächtigung – ein Hauptcharakteristikum der älteren Weisheit – ist gebrochen. Der Mensch hat den Kontakt mit den Widerfahrnissen der Außenwelt verloren. Obschon unablässig von Gott durchwaltet, ist ihm die Welt stumm geworden. Das Geschehen in ihr, immer in Bewegung, teils dem Menschen förderlich zugekehrt, teils sich ihm verweigernd, ist nun in seiner Logik tief versiegelt. »Fern ist, was geschieht, tief, tief, wer kann es herausfinden?« (7,24)[7] Selbst in seinem eigenen Lieben und Hassen kann sich der Mensch nicht verstehen (9,1). Es kommt zu keinem Gespräch des Menschen mit seiner Umwelt und noch viel weniger mit Gott. Ist er überhaupt noch ein Du? Gewährt er Lebenserfüllungen, so kommt es zu einem stummen Hinnehmen einer stumm gereichten Gabe. Mit diesem Status hat sich Kohelet abgefunden, wenn auch in einer Resignation, die keinen Leser unberührt lassen kann. In schroffem Unterschied zu Hiob fehlt jedes Andringen auf Gott, jede [301] Empörung gegen ein Verhältnis Gottes zum Menschen, das in nichts mehr dem gleicht, von dem das ältere Israel wußte.[8] Die Frage Hiobs, ob dieser Gott noch sein Gott sei, stellt Kohelet nicht mehr.
Was ist hier vorgefallen? Der Unterschied zu den konstitutiven Lehren des Proverbienbuches ist so groß, daß wenigstens der Versuch einer Erklärung unternommen werden muß. Wie schon angedeutet, sah man meist in den radikalen Thesen Kohelets einen Gegenschlag gegen ältere Lehren, die zu »optimistisch«, sagen wir besser: unrealistisch, das Walten Gottes aus der Erfahrung glaubten ablesen zu können. Daß sich Kohelet gegen die herrschenden Lehren wendet, ist nicht zu bezweifeln, doch muß der Grund seines Widerspruches noch deutlicher werden. Nach der herrschenden Auffassung könnte es scheinen, als wende er sich nur gegen unhaltbare Spitzenaussagen, als bekämpfe er einige nicht mehr vertretbare Sätze, die das Handeln Gottes allzu rational und durchsichtig hinstellten. Solche Sätze mag es in der Tat gegeben haben. Jedes umfassender formulierte Weltverständnis trägt immer in sich die Tendenz zu einer gewissen Versteifung, und vollends werden im Eifer des Didaktischen gewisse Thesen wohl einmal ins Einseitige überzogen. Das gilt aber ebenso auch von Kohelet! Diese Erklärung versagt aber deshalb, weil sich Kohelet ja nicht nur gegen Auswüchse der traditionellen Lehre wendet, sondern gegen das ganze Unternehmen. Sprach jenes der Erfahrung eine gewisse Kompetenz zu, göttliches Walten aus den Widerfahrnissen abzulesen – eine gewisse Kompetenz! Kein Weiser hat behauptet, »das ganze Werk Gottes« zu verstehen, wie das Kohelet zu meinen scheint (8,17) –, so bestreitet er der menschlichen Erfahrung diese Kompetenz auf der ganzen Linie. Wer ihm darin zustimmt, der könnte der Konsequenz nicht wohl ausweichen, daß sich die ganze ältere Weisheit zunehmend in eine einzige Irrlehre verstrickt habe. [302]
Greifen wir, um dieser schweren Frage beizukommen, zum Schluß noch einmal die für Kohelet so wichtige Lehre von den Zeiten auf, die Gott bestimmt hat, insbesondere den Satz, daß sie für den Menschen durchaus unerkennbar seien und daß er für sein Leben keinen Nutzen daraus ziehen kann. Diese den Menschen verborgenen Setzungen bedeuten ihm nur Mühsal. Die älteren Lehrer dagegen waren der Meinung, daß es zwar einer großen Wachsamkeit des Menschen bedürfe, die rechte Zeit für sein Tun zu erkennen, daß dies aber durchaus kein aussichtloses Bemühen sei und daß ihm doch von Mal zu Mal die Chance offenstehe, durch das Ergreifen der rechten Zeit sich in seinen Unternehmungen sozusagen ein Stück weit fördern und tragen zu lassen. Wer hat nun recht? Kann man wirklich sagen, daß Kohelet eben schärfer und nüchterner beobachtet habe? Liegt es wirklich nur daran, daß es erst ihm gelungen ist, sich von »dogmatischen« Vorurteilen zu befreien? Der Grund für diesen aufregenden Widerspruch liegt viel tiefer. Er liegt in den verschiedenen Glaubensvoraussetzungen hier und dort. Genauer gesagt: Die Erfahrung, der sich die älteren Lehrer überließen, war anderer Art, als diejenige es war, die sich bei Kohelet ausspricht. Dort war es eine Erfahrung, die immer im Gespräch mit dem Glauben stand; eine Vernunft betätigte sich, die sich nie absolut setzte, sondern die im Wissen um Jahwe gegründet und sich im Walten Jahwes geborgen wußte. Es gibt aber schlechterdings keinen Kanon dafür, wie viel oder wie wenig Bestätigungen eine solchermaßen vom Glauben umfangene Vernunft der Erfahrung entnehmen kann. Bei Kohelet ist das nun doch ganz anders. Fühlte er sich den Widerfahrnissen ungeschützt und »an allen Seiten verwundbar« preisgegeben (Zimmerli), so lag das nicht an der überlegenen Schärfe seiner Beobachtungsgabe, sondern an einem Verlust an Vertrauen. Wir sahen es ja schon, wie angelegentlich die älteren Vertreter von ihrem Vertrauen zu Gott sprachen und wie eng sich ihre Erkenntnisbemühungen mit dem Vertrauen verschränkte. Weil sie Erfah-[303]rungen lehrten, die im Glauben eingebracht wurden, sahen sie geradezu den Zweck ihres Lehrens darin, das Vertrauen in Jahwe zu stärken (Prov 22,19). Daß die Welt in das unberechenbare Geheimnis Gottes hineingezogen ist, wußten sie auch. Das hat aber ihren Glauben nicht in Verwirrung gebracht.[9] Kohelet ist darüber tief beunruhigt. War nicht in ganz Israel und also auch bei den Lehrern die Zukunft die Domäne Jahwes schlechthin, die ihm der Mensch getrost freigeben darf? Kohelet dagegen empfindet die Verborgenheit der Zukunft als eine der größten Belastungen im Leben.[10] So kommt er zu dem im Bereich des Jahweglaubens ungeheuerlichen Satz: »Alles, was kommt, ist nichtig« (11,8). Von da aus konnte er dann auch in die uralte Klage über die Nichtigkeit des Lebens einstimmen. Zu preisen sind die Toten, und noch besser ist’s, überhaupt nicht geboren zu sein (4,2). Kohelets größte Not liegt doch darin, daß er mit einer Vernunft, die vom Vertrauen zum Leben fast ganz im Stich gelassen war, ausziehen muß, um die Sinnfrage des Lebens, die Frage nach dem »Teil« des Menschen zu beantworten. Sie konfrontiert er mit dem Lebensganzen und bürdet ihr die Beantwortung der Heilsfrage schlechthin auf. Die älteren Lehrer waren in ihrem Erkenntnisstreben bescheidener und wohl auch klüger. Sie sahen ihre Aufgabe nicht darin, vermittelst ihrer doch immer nur partiell gültigen Erkenntnisse und Erfahrungen die letzte Frage, die Heilsfrage, zu beantworten.
Den spezifischen Anteil der Lehrer am Jahweglauben können wir in traditionsgeschichtlicher Hinsicht leider nicht präzisieren. Das liegt in dem didaktischen Material begründet, das ihnen ja gar nicht die Aufgabe stellte, auch nur annähernd so etwas wie ein Lehrganzes darzubieten. Das aber unterliegt keinem Zweifel, daß sie in einem breiten Strom von Jahweüberlieferungen standen und aus ihrem Wissen und ihren Erfahrungen schöpften. Das ist nun offenbar bei Kohelet anders. Aus seinem Werk spricht [304] keine Schule; vielmehr haben wir das Recht, ihn als einen von der Tradition weithin gelösten Einzelgänger zu nehmen, als den er sich ja auch gibt. Nicht oft wird sich im alten Israel die Heilsfrage so unentrinnbar einem isolierten einzelnen zur Beantwortung gestellt haben, wie es bei Kohelet der Fall war. Er hat sie (mit dem bekannten Ergebnis) im Wesentlichen aus den Erfahrungen beantwortet, die sich ihm in seiner Umwelt darboten. Wer dem Gespräch Kohelets mit den Lehren der Tradition zugehört hat, dem dürfte es doch nicht so ganz leicht werden, einseitig dem einsamen Rebellen zu applaudieren. Er wird vielmehr aufs äußerste bedrängt von dem Problem der Erfahrung, auf die sich beide Gesprächspartner so angelegentlich berufen und dabei doch zu so verschiedenen Wahrnehmungen kamen. Er wird sich vergegenwärtigen, wie eng gebunden sich der Mensch in dem Kreis von Erfahrungen bewegt, den jeweils sein Weltverständnis anbietet. Angesichts dieser Tatsache wird man es zunächst von vornherein einem Einzelgänger, der gegen den Strom schwimmt, eher zutrauen, in Bereiche der Erfahrung vorzustoßen, die von der konventionellen Lehre nicht artikuliert oder gar verdrängt wurden.
Andererseits sind dem Versuch Kohelets, so entschlossen aus der Situation seiner Vereinzelung heraus zu denken, auch wieder Grenzen gesetzt. Im Radikalismus seines Fragens ist er ganz zum Zuschauer geworden, nur noch beobachtend, registrierend und resignierend. Gegenüber den älteren Weisen hat er eine Grenze überschritten, die jenen – sei es aus welchem Grunde – gezogen war. Während sie sich zur Deutung der Wirklichkeiten ihres Lebens keiner summarischen Abstraktionen bedienten, geht Kohelet sofort aufs Ganze. Um die abschließende Formel zu finden, wirft er alle Lebenserfahrung zuhauf, und das Fazit lautet »Nichtigkeit« (häbäl). Wie ein Orgelpunkt geht dieses Wort durch das ganze Buch (etwa 30mal). Seine Vernunft ist auf der Suche nach einer letzten Abstraktion; sie setzt sich aber der Gegenfrage aus, ob sie so noch ein geeignetes Mittel ist, die Heilsfrage des Menschen zu beantworten. [305] Die Frage ist um so mehr berechtigt, weil sich Kohelet von jeder aktiven Lebensgestaltung zurückgezogen und sich damit von vornherein von einem weiten Bereich entscheidender Erfahrungen ausgeschlossen hatte. Die von Kohelet gestellten Fragen lassen sich aber nicht aus der reinen Theorie beantworten, denn die Abläufe, an denen das nachdenkliche Auge des Menschen hängt, sind ja kein objektives Fatum, und vor allem entziehen und verschließen sie sich der pauschalen Verrechnung eines distanzierten Betrachters. Im Gegenteil! In unendlicher Beweglichkeit und Vielseitigkeit sind sie dem Menschen zugekehrt. Ungeheuer dringt die Welt auf ihn ein und fordert ihn heraus. Einem, der in einem grundsätzlichen Vertrauen geborgen ist, können die Widerfahrnisse anders erscheinen als einem von der Skepsis Angefochtenen. Ja, man muß noch einen ganz entscheidenden Schritt weitergehen: sie »erscheinen« ihm nicht nur anders, sondern sie sind und werden selbst anders! Der Vertrauende stößt auch auf Vertrauenswürdiges. Wohl: das, was einer aus der komplexen Vielzahl der Widerfahrnisse für paradigmatisch hält und was er demgemäß didaktisch auf den Leuchter stellt, ist abhängig von einer Grundposition, die der Betrachter vorher bezogen hat. Aber dieser Satz kann unter keinen Umständen so verstanden werden, als sei der Mensch im Grunde nur von den Vorstellungen abhängig, die er sich von dem Draußen gemacht hat. Es gibt in dieser Hinsicht weder ein reines Subjektives noch ein reines Objektives. Ob sich ein Widerfahrnis dem einen verschließt, ob sich ein anderes – möglicherweise unserem Auge zum Verwechseln ähnlich! – einem anderen öffnet, ihn anspricht – mit einem Wort: ob es lebendige Bezüge zu ihm herstellt, die ihm sinnvoll erscheinen –, das erklärt sich gewiß nicht allein aus dem Temperament und Vorstellungskreis des Betroffenen. Das weist zurück in den verborgenen Bereich jenes Gesprächs des Einzelnen mit seiner Welt, das eben kein Monolog des auf sich zurückgeworfenen Menschen ist. In diesem Gespräch redet auch diese seine Welt gewaltig mit. Kohelet aber war außerstande, mit dieser ihn umgebenden [306] und auf ihn eindringenden Welt in ein Gespräch einzutreten. Sie war ihm zu einem stummen und abweisenden Draußen geworden, dem er sich nur noch da anzuvertrauen vermochte, wo es ihm eine Lebenserfüllung anbot.[11] Die Weisen aber waren der Meinung, daß durch das Medium der den Menschen anredenden Welt Gott selbst zum Menschen sprach und daß dem Menschen erst in diesem Gespräch sein Ort im Leben angewiesen wurde.
Quelle: Gerhard von Rad, Weisheit in Israel, Neukirchen: Neukirchener Verlag, 21982, S. 292-306.
[1] O. Loretz, Kohelet und der Alte Orient (1964) S. 212 ff.
[2] Er gebraucht das Verbum tūr »auskundschaften« 1,13; 2,3; 7,25.
[3] Das Wort vom »Geschick«, »Widerfahrnis« sonst noch 2,14f 9,2f.
[4] Wie das Wort ‛olām, das wir gern mit »Ewigkeit« wiedergeben, obwohl es eher die »ferne Zeit« bedeutet, in V 11 zu verstehen ist, konnte noch nicht befriedigend klargestellt werden. Vgl. die Aufzählung der Auffassungen bei O. Loretz, a. a. O. S. 281. Ist die Mühsal gemeint, über die Stunde hinauszufragen, die Zukunft einkalkulieren zu müssen (so Zimmerli, a. a. O. z. St.)?
[5] Zu der Frage nach dem »Teil« des Menschen in seinem Leben Koh 2,10.21; 5,18; 9,6.9; 11,2.
[6] Über den weitgespannten Begriff des »Werkes Gottes« s. G. v. Rad, Studia Biblica et Semitica, Festschrift f. Th. Chr. Vriezen, (1966) S. 290ff bes. 296f.
[7] »So wird das Wesentliche am Zufallscharakter der zeitlichen Verwirklichungsordnung des Schicksals für den Menschen die Undurchschaubarkeit der Zukunft. Als Verfügender ist der Mensch ja wesentlich darauf aus, die Zukunft planend einordnen zu können. Indem die Zukunft sich diesem im Voraus festlegenden Weltgestaltungs- und Lebensplan des Menschen entzieht, aus einem Verwirklichungsmedium des Menschen zu einem nun selbst Anforderungen stellenden durch fremde Determination vorgeformten und vorgegebenen Begegnungs- und Widerfahrnisgeschehen wird, zerscheitert an ihr alles menschlichen Handeln« (E. Wölfel, Luther und die Skepsis. Eine Studie zur Kohelet-Exegese Luthers, 1958, S. 49f).
[8] Ansätze zu einer Rebellion gegen Gott sieht Zimmerli in 1,13; 3,10; 6,10.
[9] Vgl. Prov 21,30f.
[10] Koh 3,11; 6,12; 7,14; 10,14.
[11] Diese Beziehungslosigkeit Kohelets zu den Bewegungen seiner Umwelt mit allen ihren Konsequenzen hat H. Gese eindrucksvoll dargestellt: Die Krisis der Weisheit bei Kohelet, Les Sagesses du Proche-Orient (1963), S. 139ff.