Was macht den Menschen als Menschen aus? Diese Frage wird in der philosophischen Anthropologie als conditio humana verhandelt. Mit dem Begriff „Homo faber“ (‚der Mensch als Fertigender bzw. Hersteller‘), wie ihn Max Scheler in seinem Vortrag „Mensch und Geschichte“ (1926) vorgestellt hat, scheint unser Menschsein – im Unterschied zum Tiersein – als aktiver Gestalter seiner Umwelt bestimmt zu sein: Wir Menschen sind, was wir für uns selbst herzustellen wissen.
Nimmt man die Entwicklung der KI-gestützten digitalen Medien wahr, so verändert sich die conditio humana nachhaltig. Nicht länger steht in der internetgestützten „Multioptionsgesellschaft“ (Peter Gross) das eigene handwerkliche bzw. technische Herstellen im Vordergrund, sondern das konsumierende Auswählen. Beweggrund hierfür ist eine exponentielle Zunahme an individuellen Wahlmöglichkeiten, die wir tagtäglich in vielfältiger Weise vor allem über Bildschirme erfahren. Was uns selbst ansteuerbar via Smartphones und Computer ubiquitär, also allörtlich präsentiert wird, entführt uns in eine unerschöpfliche materielle wie auch immaterielle Angebotswelt.
Wenn es um das Auswählen geht, bezieht sich dies weniger um das, was durch eigene Handlungsschritte erst erreicht bzw. verwirklicht sein will, als vielmehr um dasjenige, was als Angebot uns selbst zugegen ist. Da mag die jeweilige „Präsenzwahl“ ihren eigenen Preis haben, aber das, was gewählt worden ist, hat man sich damit selbst angeeignet. Nur bei materiellen Gütern ergibt sich durch die erforderliche Zustellung eine Zeitverzögerung bezüglich der Aneignung.
Das Internet hat innerhalb der letzten 25 Jahren in einer zudringlichen Weise sowohl materiell wie auch immateriell die eigenen, vermeintlich selbstbestimmten Wahlmöglichkeiten vervielfacht, so dass menschliche Lebenseinstellungen sich nachhaltig verändern. An die Stelle des Homo faber, der in seine Umwelt einwirkt, um etwas für sich selbst zu bewerkstelligen (und dabei mit anderen Menschen zu kooperieren weiß), bzw. des Homo laborans, der sich seinen Lebensunterhalt erarbeitet, tritt der Homo optativus, der Mensch, der auf ein Wählen-Können im Hinblick auf je eigene Möglichkeiten (Optionen) aus ist: Ich bin, was ich für mich selbst zu wählen weiß.
Es ist ein Irrglaube, dass mit der Zunahme von Wahlmöglichkeiten Menschen an Freiheit gewonnen hätten. Wo von Wahlfreiheit die Rede ist, wird übersehen, dass das zur Wahl gestellte Angebot von Anbietern für einen selbst vorgesehen worden ist. Gerade im Internet kommt die Logik der künstlichen Intelligenz immer stärker zum Tragen: Vorgesehenes wird zur vermeintlich freien Wahl auf das errechnete eigene Bedürfnis hin verstanden. Das Bewusstsein einer freien Entscheidung folgt der bereits vollzogenen Vorauswahl. Im Glauben, es sei unsere freie Wahl, wird umso williger angenommen, was für uns künstlich vorgesehen wird. Treffend schrieb dazu der Philosoph und Kulturkritiker Slavoj Žižek in der „ZEIT“: „Individuen lassen sich viel besser steuern, wenn sie sich auch weiterhin als freie und autonome Gestalter ihres eigenen Lebens verstehen.“
Die vorgesehene Wahl(un)freiheit führt dazu, dass Menschen sich nicht auf Gemeinschaften und Verbindlichkeiten einlassen können („Entobligationierung“ – Peter Gross), wo es eben nichts zu wählen gibt, wo man also annehmen und hinnehmen muss, was Umstände, Zufälle, Schicksalsschläge ungewollt und ungewünscht wirklich werden lassen, wo das Leben zur Zumutung wird. Wird den eigenen Wahlmöglichkeiten prinzipiell der Vorzug gegeben, vereinzeln sich Menschen zunehmend, bis hin zu einem Zustand, wo es nichts mehr zu wählen gibt und wo sich auch niemand mehr findet, der sie mit ihrem Schicksal anzunehmen vermag. Wer permanent auf die eigene Wahl aus ist, endet mit seinem Leben in der Einsamkeit, da er mit anderen nichts dauerhaft teilen kann.
Für den Homo optativus gibt es kein Entkommen aus dem Wahlmodus. Was gewählt worden ist, wird durch Wahl weiterer Wahlmöglichkeiten beliebig ersetzt. Man wählt eben nicht so, dass man danach keine weiteren Wahlmöglichkeiten mehr hat. Im eigenen Wählen findet sich keine Befriedigung. Wer sich auf den Lebensmodus des Selbst-wählen-Könnens eingelassen hat, wird vom eigenen Weiter-wählen-Müssen vereinnahmt werden. Der wählerisch bleibende Konsument verbraucht sich selbst im unproduktiven, mithin unbefriedigenden Weiter-Wählen.
Die menschliche Freiheit zeigt sich nicht im eigenen Auswählen-Können, sondern im anfänglichen Handeln-Können. Inchoativ und eben nicht „häretisch“ ereignet sich die Freiheit im unvorhergesehenen Handeln. In Sinne Hannah Arendts ließe sich Freiheit wie folgt politisch definieren: Freiheit heißt für uns Menschen miteinander etwas anfangen können, was andere Menschen für uns nicht vorgesehen haben, so dass sich daraus jenseits vorübergehender Erlebnisse ein dauerhaftes Gemeinwesen ergibt.