Von Reinhold Schneider
Allwöchentlich fuhr ich von Potsdam nach Berlin, um in irgendeiner Redaktion einen Aufsatz oder eine Rezension zu vereinbaren, die mir wieder durch die Woche helfen konnten. Wenn ich am Potsdamer Platz ausstieg, stellte sich, fast greifbar, immer dasselbe Bild her: ein unermeßlicher von Tannenwipfeln bedeckter Berghang. Dann ging ich die langen Straßen des Zeitungsviertels hinauf, deren Trostlosigkeit ich nie verwinden konnte. Der Wandel des Jahres 32 wirkte sich auf den Sender aus; ich bekam einen Auftrag, dem ein zweiter folgte. Aber das Manuskript stieß auf Schwierigkeiten: ich sollte darüber verhandeln. Der Bearbeiter war Jochen Klepper. Er saß am Fenster eines hellen Büros an der Masurenallee. Wir verstanden uns nicht oder jedenfalls nicht gut. Sein allzu gepflegtes Äußere, eine gewisse moderne Eleganz mißfielen mir. Eben war sein erstes Buch, der Oderroman vom Kahn der fröhlichen Leute, erschienen, das seiner Frau gewidmet war. An meinem Manuskript sollten Änderungen vorgenommen werden, zu denen ich mich nicht entschließen konnte. Es blieb liegen. Im folgenden Jahre, nachdem die »Hohenzollern« herausgekommen waren, fand ich eines Sonntags die Karte Kleppers und seiner Frau. Als ich ihn in Südende besuchen wollte, stieß ich auf ein mehrstöckiges vornehmes Mietshaus. Ich lebte in unsäglich bedrückenden Verhältnissen, ohne Platz für Bücher, vor einer elektrischen Birne, der ich ein Papierhütchen aufgesteckt hatte, weil mir der grüne Glasschirm zerbrochen war. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß ein Schriftsteller so luxuriös wohne, ging um das Haus herum und wagte mich dann die Hintertreppe hinauf. So kam ich – ich glaube im obersten Stock – zur Verwunderung des Mädchens in der Küche an. Das muß Klepper berührt haben. Er hatte alle meine Bücher gelesen und fühlte sich für einen Augenblick in der geräumigen, mit Geschmack eingerichteten Wohnung nicht ganz am Ort. Aber die Sorge war schon eingedrungen.
Frau Klepper hielt sich auf dem Balkon zurück und trat erst vor, als er mich hinausführen wollte. Da ich nie nach Lebensumständen frage, war ich nicht vorbereitet. Der weite Abstand der Jahre hatte etwas Verwirrendes. Dann kamen die zwei Töchter aus ihrer ersten Ehe, die, wie sie selbst, Jüdinnen waren. Klepper hatte eben Plan und Kapiteleinteilung des Friedrich-Wilhelm-Romans aufgesetzt; sie waren von imponierender Sicherheit der Architektur. Grundlage für jeden Teil war ein Schriftwort. Auf dem Wort baute Klepper auf. Und auf dem Wort ruhten auch seine Gedichte. Für ihn war es entschieden, daß die Kunst dem Worte unterworfener Widerklang ist. Aber er ahnte auch, daß ihm ein schweres Ringen bevorstand. Das erste im »Eckart« erschienene vielversprechende Kapitel war noch in zerrissenen Sätzen geschrieben; ich hielt mich für verpflichtet, ihm zu schreiben, daß dieser Modernismus dem Geist des Werkes widerspreche. Er hat viele Jahre mit beispielhaftem Ernste um die Ausgestaltung gerungen, die Versuchungen neuer Pläne, an denen er reich war, zurückweisend. Klepper hat der evangelischen Kirche, der Christenheit, ergreifende Lieder geschenkt. Aber er kann doch nicht einfach als »Dichter der Kirche« klassifiziert werden. Oft sprach er von einem geplanten Voltaire-Roman. Was will es heißen, daß er, mitten im Christlichen, an diesem Vorsatz festhielt; daß er immer die Möglichkeit in sich fühlte, den satirischen Verneiner zu gestalten – was ja durchaus Aufgabe eines christlichen Dichters sein kann, aber eben nicht eines »Dichters der Kirche«.
Entschieden war es auch, daß die Familie in dem Mietshause nicht mehr wohnen konnte. Sie hatten in der Nähe der Berliner Straße ein Grundstück erworben und bauten dort das Haus, wo wir unsere besten und ernstesten Stunden haben sollten. Gegenüber lag ein Laubgehölz, das dem Vogelschutz unterstand. Die Nachtigallen sangen. Wir saßen an einem Karfreitag auf der Terrasse, Jahre später; der »Friedrich Wilhelm« war nach sehr schweren Krisen fertig geworden; ich hatte an diesem Tage mein Englandbuch abgeschlossen. Es war unbegreiflich still. Zwischen uns beiden und unserem Lebensgang bestanden sehr tiefe Entsprechungen, von denen aber nie die Rede war. Auch von der Geschichte seines Geistes sprach Klepper nicht. Und doch mag er einen ähnlichen Weg gegangen sein wie ich. Die Herkunft aus dem Pfarrhause war ihm Führung, wie ich sie nicht hatte: nicht zurück, sondern hinauf in das tragische christliche Leben, dessen Schmerzen der Mensch, der Künstler Klepper wie wenige erfahren und bestanden hat, bis sie ihn endlich übermächtigten. Nach ein oder zwei Stunden häuslicher Arbeit saß er vierzehn oder sechzehn Stunden am Schreibtisch, oft die Stunden nachrechnend, etwa Versäumtes wieder einholend. Mit äußerster Gewissenhaftigkeit durchforschte er die Quellen. Er lebte im Kirchenjahr: die Feste der Kirche waren die seinen; in sie verflochten sich die Geburtstage der kleinen Familie. Die Vorbereitung auf Weihnachten beschäftigte ihn lange. Er verwandelte dann das ganze Haus in Kerzenlicht und bedrängte mich, mit ihm zu feiern. Aber an diesem für mich furchtbaren Abend arbeitete ich so lange wie möglich, öffnete ein etwa eingegangenes Paket und machte dann meinen Weg durch Potsdam ins holländische Viertel; da und dort hinter den kleinen Fenstern erloschen die letzten Kerzen. Erst von Klepper bin ich auf den ganzen Ernst konfessioneller Gegensätze geführt worden. Er rang inständig um ihr Verständnis. Zu meinem Erstaunen entdeckte er in meinen Büchern strenge Katholizität, die ich gar nicht gewollt hatte – ebenso wie in dem Bilde, das Leo von König damals malte. An der Wiedererrichtung des Kreuzes in meinem Leben hat er großen Anteil. Mehr kann Freundschaft nicht sein.
So waren die Kräfte, von denen wir lebten, die uns leiteten, sehr verschieden; der Anstoß war derselbe: die Zeit, die über allen unseren Stunden unbeweglich dunkelte. Immer deutlicher legte sie ihm einen ehernen Verzicht auf, wenn er das Letzte: das Haus, die Frau, die Kinder, die Reinheit seines Strebens behaupten wollte. Der Verzicht muß ihm sehr schwer gefallen sein. Denn er hing durchaus am Weltlichen, hatte Interessen, die ich nicht teilte: für die Mode, den Film, für den er gewiß auch große Begabung hatte. Niemals betrat er ein Haus, wo seine Frau nicht willkommen gewesen wäre, oder den leidenschaftlich geliebten Konzertsaal, wenn sie nicht an seiner Seite war. Die schmähliche Abkehr einiger Freunde – wenn man sie so nennen darf – nach seiner Heirat streifte er kaum; doch hat er sie wohl nicht überwunden.
Sein Leben war an das Haus gebunden, nur im Hause denkbar, und damit auch seine Arbeit. Als ich von Potsdam weg wollte und ein Freund das dem Schloßherrn von Doorn berichtete, sagte der Kaiser: »Dann soll er wenigstens an einem Hohenzollernschreibtisch weiterarbeiten.« Es wurde ein Schreibtisch Friedrich Wilhelms IV. aus dem Marmorpalais ausgewählt: an ihm habe ich gearbeitet, bis ich – nun seit vielen Jahren – nur noch stehend arbeiten konnte. Dieses Geschenk war für Klepper der Anlaß, Möbel für mich zu erwerben oder zu sammeln, damit ich wenigstens in einem gewissen Grade behaust sei. Meine hauslose Existenz quälte ihn. Nun brennen an ernsten Festtagen noch immer die Kerzen in den von ihm geschenkten Leuchtern auf dem Schreibtisch Friedrich Wilhelms IV., eines von mir in allen seinen Schwächen geliebten, tragischen Königs. Denn in ihm wird die Hohenzollerntragödie ganz deutlich, aber auch die moderne Königstragödie überhaupt: das Ringen um umfassende Inhalte, die Grundlegung des Kaisertums, an der Friedrich Wilhelm IV. und noch Wilhelm II. und damit das Reich in seiner letzten epigonischen Gestalt gescheitert sind.
Noch in Südende auf der Straße, als Klepper mich zum Omnibus begleitete, erzählte er mir von dem ihm aufgehenden Lutherroman, ganz erfüllt von der apokalyptischen Stimmung der letzten Wittenberger Jahre. Es wäre ein sehr ernstes, aufwühlendes und bestürzendes Werk geworden. Doch hätte ihm die Sattheit des Lebens, die dem Dasein Luthers ebenso eigen ist wie die Düsternis und die Demut, der Eigenwille und die Kindlichkeit, nicht gefehlt. Hier hätte sich das Schlesische in Klepper mit Luthers thüringischer Art verschmolzen. Was will es heißen, daß Luther dieselbe Frau, »mein Keta«, die »Säumärkterin« nannte sie verkaufte die gezüchteten Säue auf dem Wittenberger Markt – und an anderer Stelle bekannte, daß sie ihm so teuer sei wie der Galaterbrief; »mein Galaterbrief, mein Keta«. Damit deutet sich die beispiellose Schwierigkeit an, vor die Klepper gestellt war; sein Ende war eine menschliche, eine christliche und eine künstlerische Tragödie. Er war dem Wort unterworfen – in der Bibel, durchaus nur in ihr, im Buch nur, war das Heil der Welt – und dem Erneuerer des Worts; es war ihm nicht erlaubt, Unverbürgtes von Luther zu sagen: und er war doch Dichter, angewiesen auf die Gnade der Phantasie. Das Problem des Lutherromans scheint mir unlösbar wie das der christlichen Kunst. Aber es ist doch möglich, daß Klepper an seiner Stelle eine Lösung gefunden hätte. Wäre er aber vor dem letzten Gipfel gescheitert, so hätte er eben damit das Wesen der christlichen Kunst dargetan, die bis hinauf zu Dante, zum Äußersten, was er gewollt hat, ein Scheitern ist.
Auch das Haus in Südende sollte Kleppers letztes nicht sein; die Staatsbaumeister entwarfen, blind im Angesichte der Katastrophe, die phantastischsten Projekte und beschlagnahmten das Gelände für die Ruinen von Selinunt. Unter unsäglichen Mühen, mit zähestem Geschick erwarb die Familie ein Stück Erde in Nikolassee, schmal wie ein Handtuch: während er auszog und wieder baute, dichtete Klepper am Lutherroman, dem »Ewigen Haus«. Es sollte der Eingang ins Ewige sein, dunkles Tor. Zum letztenmal sprachen wir uns im Dezember 41 in Berlin durch das Telefon. Ich hatte den törichten Argwohn, daß er meinen Besuch nicht wollte: ich hätte mir sagen sollen, daß er ihn mir freistelle, weil er nicht wollte, daß ich mich belaste. Seine Frau besuchte mich in Freiburg, schattenhaft durch die Menschen gleitend, so wie sie mir dann an einem Maitag im Menschengewühl am Zoo entglitt. Oft sprach er davon, daß er mich nach dem Krieg in Freiburg besuchen wolle; aber er ist meines Wissens auf seiner letzten Reise nur bis zum Main gekommen. Er war durchaus ein Mensch des nach Osten gewendeten Nordens, der großen Ebene zwischen Wittenberg und der Oder. Sein Geschick ist nur deutbar aus seiner Auffassung von der Ehe; er fühlte sich eingefordert für das Heil seiner Frau und ihrer Kinder, für die Heimführung Judas. Denn das ist das Wort des Apostels, daß der Mann dem Weibe, das Weib dem Manne zum Heil sein sollte. Daß er Frau und Kinder zu Christus führe, war Kleppers Auftrag. Er hat ihn erfüllt. Als ihm aber die Macht des Verbrechens die gelobte Gemeinschaft und Verantwortung nicht mehr erlaubte, nahm er seine Frau und die jüngste Tochter an der Hand und eilte zu Gott, ehe er sie gerufen hatte. Das war ein Akt des Glaubens: schütze, die ich nicht mehr schützen kann! Es war ein Selbstmord unter dem Kreuz, dem Zeichen der Liebe. Das Problem stellt sich in einer Gestalt, auf die es keine Antwort gibt.
Quelle: Reinhold Schneider, Der Wahrheit Stimme will ich sein. Essays, Erzählungen, Gedichte, hrsg. v. C.P. Thiede und K.-J. Kuschel, Frankfurt a.M.: Insel 2003, S. 114-119.
Lieber Herr Kollege
Vielen Dank aus Holland: bin Evangelisch-lutherischer Pfarrer emeritus, seit Langem sehr interessiert an Jochen Kleppet, übersetzte einige seiner Liedet, besuchte das Grab usw. Habe so einiges an Literatur. Nach Lesung Biografie von Baum fand ich in Internet einige schwer zu finden Texten, die Sie in Internet erreichbar gemacht haben. Vielen, vielen Dank!
Es freut mich außerordentlich, dass Sie Ihnen NAMENSgedächtnis zusagt und dass Sie Jochen Klepper auch in holländischer Sprache zur Geltung bringen.