
Was Ulrich Einbach seinerzeit im Evangelischen Soziallexikon über das Leiden geschrieben hat, ist immer noch lesenswert:
Leiden
Von Ulrich Eibach
1. Arten von Leiden
Unter Leiden verstehen wir das Empfinden lebenshemmender schmerzhafter Ereignisse. Ohne Bewußtsein gibt es wahrscheinlich kein Leiden. Auf das Leiden von Tieren kann nur von ihrem Verhalten her rückgeschlossen werden. Ein Lebewesen leidet nicht nur entsprechend dem Maß an Schmerz, das ihm zugefügt wird, sondern auch entsprechend dem Grad seiner Bewußtheit. Daher erreicht die Leidensfähigkeit beim Menschen ihren Höhepunkt. Schmerzen hat und empfindet der Mensch an etwas, was Teil (Organ) seiner selbst ist, aber er leidet als Person. Leiden ist also etwas Subjektives, das Personzentrum Treffendes. Es ist sinnvoll zu unterscheiden zwischen:
- Leiden, die Menschen anderen (auch Tieren) und sich selbst bewußt oder unbewußt zufügen. Hierzu gehören zwischenmenschliche, auch ideologische (z.B. Verfolgung Andersdenkender) Konflikte und viele Leiden infolge von unverantwortlichem Handeln (z.B. bestimmte Krankheiten, Unfälle) und ungerechte Strukturen von Wirtschaft und Gesellschaft. Solche Leiden sind, weil sie von Menschen verursacht und wenn sie nicht wirklich unvermeidbar sind, Folgen von moralischem Übel, für die der Mensch verantwortlich ist.
- Leiden, die Lebewesen als „Schicksal“ überkommen, ohne daß Menschen dabei ersichtlich verursachend mitgewirkt haben, z.B. Leiden infolge von vielen Krankheiten, Unfällen, Naturkatastro-[817]phen, auf Grund des Mangels an lebenswichtigen Beziehungen und Gütern. Soweit diese Leiden durch Menschen zu vermeiden sind, aber gewollt oder ungewollt nicht verhindert werden, ist dieses Unterlassen Schuld.
Die Umstände, die Leiden hervorrufen, können physische, psychische, soziale und – was für das Leiden des Menschen charakteristisch ist – „metaphysische“ Übel sein. Zu letzteren gehört das Leiden des Menschen an sich selbst, der Sinnlosigkeit des eigenen und des Daseins überhaupt. Solches Leiden kann psychopathologische Ursachen haben, kann aber auch auf Überlegung und auf Einsicht in die Ausweglosigkeit der Lage beruhen. Kennzeichnend für das Menschsein ist auch, daß der Mensch leiden kann am Leiden anderer. Dies Leiden kann über das Gefühl des „Mitleids“ hinaus zum „Mit-Leiden“, zur Solidarität und die Leiden bekämpfenden Tat herausfordern.
2. Ursachen und Sinn von Leiden
Leiden kann durch kausal erklärbare Faktoren hervorgerufen werden und doch die Frage nach den „metaphysischen“ Ursachen und dem Sinn von Leiden aufwerfen. Das Alte Testament und besonders das Judentum haben Leiden teils als Vergeltung für individuelle Sünde gedeutet (Gen 3; Freunde des Hiob). Jesus hat dies verworfen (Lk 13,1ff.; Joh 9,3). Der im Neuen Testament jedoch nicht bestrittene Zusammenhang zwischen allgemeiner Schuldverfallenheit und Leiden, das im Tod seinen sichtbarsten Ausdruck findet (Röm 5,12; 6,23; Jak 1,15), soll nicht eine moralische oder metaphysische Erklärung und Rechtfertigung von Leiden liefern (Theodizee), sondern darauf hinweisen, daß Sünde und Leiden zu den Mächten des „Nichtigen“ (K. Barth) gehören, die Gott nicht geschaffen hat, die seine Schöpfung zerstören, denen daher in erster Linie Widerstand zu leisten ist, der sich – wie es z.B. an den Krankenheilungen Jesu deutlich wird – als Kampf gegen Krankheit, Elend und Ungerechtigkeit, aber auch als Klage, auch vor Gott im Gebet (Hiob, Klagepsalmen, Röm 8,19ff.; Apk 21,1ff.), kundtun kann. Damit verleugnet der Mensch nicht, daß Leiden eine reale Macht in dieser Welt ist, macht aber deutlich, daß es im Widerspruch zu Gottes verheißenem Heil steht, und bestreitet so, daß es ein Recht in Gottes Schöpfung hat. So wird die Frage nach der letzten Ursache des Übels unbeantwortet gelassen. Leiden kann weder nur von der Sünde her erklärt noch kann Sünde auf von Mängeln der Natur oder der Gesellschaft verursachte Leiden zurückgeführt werden (Marxismus). Leiden darf theologisch gesehen nicht als in sich selbst sinnvoll und als ontologisch notwendig gedacht werden, weder so, daß das Leben an sich notwendig als Leiden vorgestellt wird (Schopenhauer, Buddhismus), noch so, daß jedes Leiden in einem evolutionistischen Geschichts- und Menschenbild so eingeplant wird, daß ihm für die Höherentwicklung von Geschichte und Leben (z.B. Hegel, Teilhard de Chardin) oder für die individuelle Vervollkommnung lebensermöglichende Kraft zugesprochen wird. Sofern Leiden Zerstörung von Leben bedeutet, ist jeder Einbeziehung dieses „Nichtigen“ in Gottes gute Schöpfung und damit jeder theoretischen Synthese von Schöpfung und Leiden zu wehren, weil sie Leiden zu etwas „Natürlichem“, von Gott Gewolltem verharmlost und so in Gefahr steht, die Tiefe des Leiden der Kreatur zu verhöhnen. Gottes Leiden in Christus ist ein Leiden im Widerspruch gegen Sünde und Elend in dieser Welt. Der letzte Sinn des Leiden kann nur in seiner Überwindung liegen, so daß die Erlösung der Schöpfung vom Leiden in einer neuen Schöpfung die Lösung der Frage nach dem Sinn von Leiden ist (Röm 8,19ff., Apk 21,1ff.). Alle Versuche, die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit von Leiden zu erweisen, verteidigen die Wirklichkeit des Elends gegen das „Nein“, das Gott darüber gesprochen hat.
3. Umgang mit Leiden
Vom zerstörerischen Leiden sollten Entsagungen unterschieden werden, die mit der Endlichkeit des Lebens und der Abnahme der Lebenskräfte verbunden sind. Es gibt jedoch keine Kriterien, genauer zw. notwendigem Leiden als Ausdruck der Endlichkeit und zerstörerischen Übeln objektiv zu scheiden. Daher sollte von dem Maß an Leiden ausgegangen werden, das die Person bewältigen kann, also zw. tragbaren und unerträglichen Leiden unterschieden werden. Die Fähigkeit, [818] Entsagungen zu verarbeiten, ist meist um so größer, je mehr der Sinn des Lebens nicht nur in Arbeits- und Genußfähigkeit gesehen wird, und Leiden werden um so unerträglicher, je mehr sie die Möglichkeit zu sinnvoll erlebter Lebensführung zerstören. Solches, die Persönlichkeit zerrüttendes Leiden ist absolut sinnlos, und doch darf man von der Sinnlosigkeit des Leidens nicht auf die Wertlosigkeit des Lebens rückschließen. Daß Gott auch in sinnlosem Leiden der den Menschen zugewandte und sein Leben wollende Gott bleibt, kann nur gegen den Augenschein bezeugt und geglaubt werden (Röm. 8,35ff.) auf Grund der im Leiden und Auferstehen Christi ergangenen Verheißung der Teilhabe am ewigen Leben.
Ertragen von Leiden ist weder mit einer Verherrlichung von Leiden noch mit einer fatalistischen Ergebung ins Leiden zu verwechseln. Nur wer fähig ist, eigene und Leiden anderer auf sich einwirken zu lassen, kann dem leidenden Nächsten helfen. So hängt die Fähigkeit zu Liebe und Solidarität, zur Wahrnehmung von und zum Kampf gegen Leiden ab von der teilweisen Identifizierung mit dem leidenden Mitmenschen. Erst wo sein Leiden nicht mehr zu seiner Absonderung von leistungsfähigen Menschen führt, besteht die Chance, vermeidbare, oft durch soz. Umstände bedingte Leiden (z.B. Behinderte, alte Menschen) zu begrenzen. Die Humanität unserer Gesellschaft bemißt sich vor allem daran, wie weit es gelingt, die Leidensgestalt des Menschen in unserem Fühlen, Denken und Handeln anzunehmen und in das private und gesellschaftliche Leben zu integrieren, uns also nicht nur am Ideal des jugendlichen, körperlich und geistig leistungsfähigen Lebens zu orientieren.
Lit.: K. Barth, KD III/3, 1950, 327-425 – P. Tillich, Systematische TheologieII, 1958, 72-87 – U. Hedinger, Wider die Versöhnung Gottes mit dem Elend, 1972 – D. Sölle, Leiden, 1973 – H. Schulze (ed), Der leidende Mensch, 1974 – V.E. Frankl, Anthropologische Grundlagen der Psychotherapie, 1975, 310-333 – U. Eibach, Recht auf Leben – Recht auf Sterben, 19772, 256-279 – ders., Medizin und Menschenwürde, 1976, 56-156 (Lit.) – E. Gerstenberger, W. Schrage, Leiden, 1977 (Lit.) – E. Schillebeeckx, Christus und die Christen, 1977, 651-712.
Quelle: Theodor Schober/Martin Honecker/Horst Dahlhaus (Hrsg.), Evangelisches Soziallexikon, 7. A., Stuttgart: Kreuz Verlag 1980, Sp. 816-818.