
Wie im evangelischen Verständnis von Freiheit die Rede sein kann, hat Hans G. Ulrich in seinem „Freiheit“-Artikel für das Evangelische Soziallexikon (2001) gezeigt:
Von Hans G. Ulrich
1. Freiheit gilt in vielen religiösen und geistesgeschichtlichen Traditionen als das zentrale Kennzeichen menschlicher Existenz und Lebensform. Die christliche Tradition verbindet im Verständnis der Freiheit vielfältige Aspekte der biblischen und kirchlichen Überlieferung, der kirchliche Praxis und Frömmigkeit, der Philosophie und der geschichtlich-gesellschaftlichen Reflexionszusammenhänge, in denen Freiheit als die Erfüllung menschlichen Lebens gesehen wird. Die christliche Tradition ist auch selbst der Ursprung verschie-[506]dener dieser Verständnisweisen von Freiheit. Freiheit ist als „umstrittene Freiheit“ (O. BAYER) verstanden worden, sofern es ein genuines, biblisch begründetes christliches Verständnis von Freiheit gibt, das in den verschiedenen geistesgeschichtlichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen kritisch erinnert werden muss.
2. Im Neuen Testament wird Freiheit als das fundamentale Kennzeichen christliche Lebens bestimmt. Freiheit gründet in der Botschaft von der rettenden Heilstat Gottes in Jesus Christus (Gal 5,1). Aufgrund der Erfüllung des Willens Gottes durch Jesus Christus, die im Glauben ergriffen wird (Gal 5,1), werden Menschen dazu berufen, frei zu sein davon, sich selbst vor Gott behaupten zu müssen und sich fundamental um ihr Leben zu sorgen. Sie dürfen sich neu als Gottes Geschöpfe erfahren (2. Kor 5,17). Im Ausüben dieser geschöpflichen Lebensform wird Freiheit wirklich. Diese besteht darin, dass sich Menschen statt von ihren unabsehbaren Bedürfnissen bestimmen zu lassen, dem Anderen, dem Nächsten in der Liebe zuwenden und so gute Formen des Zusammenlebens (Tugenden) gewinnen (Gal 5).
3. Das biblische Verständnis der Freiheit hat in der christliche Tradition eine spannungsreiche Auslegung gefunden. Deren Geschichte ist durch Einschnitte markiert, die mit tiefgreifenden geistesgeschichtlichen Veränderungen verbunden sind.
3.1 Das gilt für AUGUSTIN, der die Freiheit des Menschen eingefügt sieht in sein Streben nach dem Guten und nach Gott. Freiheit wird innerhalb dieser Ordnung, die als Ordnung der Liebe begegnet, wirklich. Einflussreich ist AUGUSTINS Verständnis geworden, dass der Mensch zwischen der ihm gegebenen Hinneigung zum Guten und der Wahl des Bösen eingefügt ist und nicht zwischen gleichrangigen Möglichkeiten zu entscheiden hat. Prägend – aber auch strittig – ist geblieben, inwiefern die Freiheit des Menschen in einer ursprünglichen Willensfreiheit gründet. THOMAS VON AQUIN sieht die menschliche Freiheit in der möglichen Übereinstimmung mit Gottes Willen, seiner Schöpfung und mit der Natur des in diese Schöpfung eingefügten Menschen, die seiner Vernunft entspricht.
3.2 LUTHER setzt im Rahmen der reformatorischen Theologie einen weiteren Einschnitt, indem er die Freiheit des Menschen nicht mit dessen Natur oder Bestimmung gegeben sieht, sondern mit der Erfahrung des immer neuen befreienden Handelns Gottes durch die Verkündigung des Wortes Gottes. Dementsprechend hält Luther gegenüber der humanistischen Tradition (ERASMUS) fest, dass der Wille des Menschen, sein Geist und seine Vernunft von Gottes heilvollem Willen umgriffen und getragen sind. LUTHER hat den Menschen in seiner Befreiungsbedürftigkeit gesehen und ihn als „zu befreienden“ verstanden. Entscheidend ist, dass Menschen immer neu frei werden von der fundamentalen Sorge um ihre Rechtfertigung vor Gott. In diesem Sinne ist der Christenmensch als ein „freier Herr [507] aller Dinge und niemandem untertan“ zu sehen. Nichts und niemand kann für ihn Heilsbedeutung haben, an nichts kann er sein Herz hängen wollen, ohne seine Freiheit zu verlieren, außer an Gott durch die Einstimmung in dessen Willen und befreiendes Handeln. Diese Freiheit im Leben mit Gott lässt den Menschen frei werden für die Liebe zum Nächsten. In diesem Sinn ist der Christenmensch ein „dienstbarer Knecht und jedermann untertan“.
Der Christenmensch ist hinsichtlich seines Glaubens und seiner christliche Lebenspraxis nichts und niemandem untertan. Darin ist eine weitreichende emanzipatorische Bedeutung der christlichen Freiheit enthalten. Die sozialpolitische Freiheitsgeschichte, die daraus folgt, hat ihren Angelpunkt in der Religionsfreiheit, die mit anderen Freiheitsrechten verbunden ist. Auch die Freiheit des Gewissens gegenüber ihm fremden moralischen oder religiösen Bindungen gehört in diesen Zusammenhang. Diese Freiheitsgeschichte setzt dort neu an, wo sich die Freiheit von jeder Art von sozialer oder politischer Abhängigkeit oder Knechtschaft mit der Freiheit als fundamentale Selbstbestimmung verbindet.
3.3 Angestoßen durch die reformatorische Theologie aber auch im Gegensatz zu ihr sieht das neuzeitliche und moderne Verständnis des Menschen diesen als unabhängiges, in jeder Hinsicht freigesetztes Subjekt seines Lebens und seiner Welt. Der Mensch hat sein Leben selbstständig und umfassend verantwortlich zu führen. Diese Freiheit der Lebensführung zeichnet sein Subjekt-sein aus. Diese Auffassung von der menschlichen Freiheit tritt mit der Aufklärung in einen spezifischen Problemzusammenhang ein, sofern es – auch im Sinne der christlichen Tradition – gilt, Freiheit universell, in allen Lebensbeziehungen als Freiheit von Fremdbestimmung und Unmündigkeit zu fassen. Auch diese Freiheit ist zugleich als sozialpolitisch verwirklichte zu denken und wird in den Freiheitsrechten fassbar.
Freiheit wird in der Philosophie KANTS – in der Weiterführung der Aufklärung – als Selbstbestimmung und Selbstgesetzgebung durch die Vernunft erfasst, die zum Menschsein gehört und alle Menschen verbindet. Aufgrund dieser immer schon vorausgesetzten Freiheitsidee ist die Humanität des Menschen zu wahren, die dem Menschen als vernünftigem Wesen eigen ist. Demgegenüber wird die Freiheit immer wieder neu – so in der Philosophie HEGELS – in ihrer Verwirklichung reflektiert. Freiheit gewinnt demzufolge ihre Geltung nicht ohne ihre geschichtlich sich entwickelnde Gestalt in der sittlich-rechtlichen Verfassung der gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit. In der Philosophie von MARX wird diese Wirklichkeit historisch gegebenen Bedingungen ausgeliefert gesehen, die um der Freiheit willen grundlegend verändert werden müssten, z.B. die Abhängigkeit des Arbeiters vom Kapital.
3.4 Die Freiheit des Menschen wird in der Existenzphilosophie (von KIERKEGAARD bis HEIDEGGER) in ihrer bedrohenden, aber auch aussichtsreichen Abgründigkeit gesehen: Der Mensch ist seiner Freiheit ausgeliefert (SARTRE), aber auch – in einem Leben am Abgrund (H. ARENDT) – in einzigartiger Weise zum Handeln genötigt und ermächtigt. Frei sein heißt handeln können, und handeln können heißt neu anfangen können, um das politische Zusammenleben zu gewährleisten und legitime Macht zu bilden. Auf dieser Linie ist Freiheit auch als „kommunikative Freiheit“ verstanden worden, in der sich Freiheit im inhaltlich bestimmten Zusammenleben realisiert und erfüllt. [508]
3.5 Demgegenüber ist im liberalen Verständnis Freiheit die Freiheit von Einzelnen, die ihre Grenzen an dem je anderen findet oder an einer umgreifenden Ordnung, innerhalb deren jeder Mensch den ihm zukommenden Freiheitsspielraum haben soll. Dieser Freiheit entspricht die politische liberale Verfassung des Staates. Im sozialen Zusammenhang geht es um die Entfaltung und freie Betätigung des Einzelnen, die letztendlich allen zugutekommt. Dieses allgemeine Ziel kann als Gemeinwohl verstanden werden, dem die individuelle Freiheit zugeordnet bleibt. Von den liberalen Formen von Freiheit ist die Entwicklung eines Individualismus zu unterscheiden, der die liberale Balance von Freiheit und Ordnung durchbricht. Gegenüber zu der formalen Bestimmung von Freiheit im Liberalismus bleibt es notwendig, das soz. und politische Gemeinsame und Verbindliche, in dem Freiheit zur Entfaltung kommt, als Praxis einzufordern und institutionell zu sichern. Dem entspricht die Entwicklung von zivilgesellschaftliche Strukturen oder auch der Ausbau und die Garantie von solidarischen Verbindlichkeiten im Sozialstaat.
3.6 Sofern dem modernen Verständnis des Menschen entsprechend Freiheit als das Zusammentreffen von Gabe, Aufgabe und Selbstbestimmung verstanden wird, verwirklicht sich menschliche Leben als freiheitliches. Freiheit ist nicht allein durch die Arbeit oder das Eigentum vermittelt. Kennzeichnend für die Freiheit im modernen Verständnis bleibt die Spannung zwischen einer Freiheit, die das Individuum Angelpunkt aller sozialen Verhältnisse sein lässt, gegenüber einer Freiheit, die sich in sozialen Verbindlichkeiten realisiert. Sofern Freiheit für den Menschen heißt, die ihm gegebene Lebensgrundlage anzunehmen, zu verantworten und zu bewähren (T. RENDTORFF), wird Freiheit zum Prinzip, dem alle Lebensverhältnisse entsprechen sollen. Dabei bleibt nicht zu übersehen, wo akut Befreiung von Bedingungen der gesellschaftlichen Entwicklung und von Unterdrückung nötig ist, wie es nicht zuletzt in den ökonomischen und politischen Abhängigkeitsverhältnissen in zahlreichen Ländern, zumal der armen Länder gegenüber den reichen der Fall ist. Darauf hat vor allem die Befreiungstheologie die Aufmerksamkeit gelenkt. [509]
4. Die Entwicklung einer freiheitlichen und pluralistischen Gesellschaft bringt eine Vielheit von verschiedenartigen Freiheiten hervor, die etwa auf der Zunahme von vielfältigen Wahlmöglichkeiten (Optionalismus) oder von Deregulierung beruhen. Demgegenüber bleibt immer neu zu fragen, in welchen Formen des Lebens und Zusammenlebens sich menschliche Freiheit erfüllt. Es wird zur neuen Aufgabe einer ethischen Betrachtung von Freiheit, Prozesse der Liberalisierung, die Auflösung von Strukturen auf der einen Seite und die Bildung und Erfüllung von Lebensformen der Freiheit auf der anderen Seite zu unterscheiden. Dies gilt nicht zuletzt für den Zusammenhang von Freiheit und Ökonomie, wie er im Ideal einer – gegenüber staatlicher Steuerung – freien Marktwirtschaft festgehalten wird. Die Erwartung an den Markt, selbst bestimmte Abhängigkeiten oder Zwänge aufzuheben, ist immer neu auf ihre Reichweite zu befragen, und es ist die Balance, aber auch die Spannung zwischen Markt und anderen regulierenden Ordnungen, Institutionen oder Lebensformen festzuhalten, die dem Markt nicht unterworfen sein können.
5. Freiheit stellt sich dort in neuer Weise dar, wo die Entfaltungsmöglichkeiten, aber auch Grenzen und Unwägbarkeiten des technologisch vermittelten menschlichen Vermögens, die Lebenswelt nach eigenem Willen radikal zu verändern, in den Blick rücken. Nicht allein die Abwehr von Risiken, sondern die Fortführung der modernen, durch Wissenschaft und Technologie vermittelten radikalen Weltveränderung erscheint als die unausweichliche Perspektive. Entsprechend gilt es, erneut nach der Freiheit zu fragen, derzufolge der Mensch entgegen aller Zwangsläufigkeit über Ziele entscheiden und für Folgen einstehen kann. Zugleich geht es um eine Freiheit, die den Menschen nicht auf sich selbst, zumal nicht auf sein technologisches Vermögen, zurückgeworfen sein lässt, sondern ausgerichtet sein lässt auf das, was sein Leben trägt und leitet. So ist bei aller Weltveränderung das Verstehen der menschlichen Existenz in ihrer Freiheit und ihren Konturen für die Bewahrung menschliche Freiheit entscheidend.
6. Im Thema Freiheit sind die Grundelemente christliche Ethik enthalten: die Beziehung menschliche Handelns zur Erfahrung des Handelns Gottes, der Zusammenhang von Handeln, Schuld und der Befreiung von Schuld, die Reichweite der Beauftragung des Menschen und seiner Verantwortung für den Nächsten und die Welt. In diesen Grundelementen treffen die Kontroversen zum Freiheitsverständnis aufeinander. Es zeichnen sich aber auch Alternativen ab, an denen sich das ethische Urteil ausrichten kann: so die Alternative zwischen einer Freiheit, die den Menschen als isolierten Einzelnen begreift und einer Freiheit, die in sozialer Verbindlichkeit gelebt wird; ebenso die Alternative zwischen einer Freiheit, die den Menschen auf ihn selbst zurückbezogen sein lässt, und einer Freiheit von den Zwängen der Selbstbehauptung oder der Selbstrechtfertigung, [510] die in der im Glauben und in der Hoffnung erfahrenen Befreiung besteht.
6.1 Wie die im Evangelium zugesprochene Freiheit gewonnen und in den gesellschaftlichen Prozessen der Freisetzung und Unterwerfung humaner Lebensformen gelebt wird, bleibt die zentrale Frage evangelischer Ethik. Freiheit gründet nach evangelischemVerständnis nicht im Menschen selbst, in seinem Willen oder seiner Vernunft, sondern verdankt sich immer neu der im Glauben geschenkten Befreiung von den Gesetzen der Selbstbehauptung und der Selbstbefangenheit. Auch die Vernunft, das Denken und die Wahrnehmung bedürfen der Befreiung. In dieser Befreiung gründet auch die sozialpolitische Form christlicher Freiheit, die in der freien Zuwendung zum Nächsten und im ausdrücklichen politischen Handeln des Christen ihren Angelpunkt hat.
6.2 Soziale Verbindlichkeit steht nicht im Gegensatz zur Freiheit. Freiheit ist im evangelischen Verständnis nicht allein als die Freiheit zur Selbstentfaltung und einer entsprechenden Selbstbeschränkung zu verstehen, sondern Freiheit besteht darin, dass der Mensch nicht auf seine Bedürfnisse oder Entscheidungen fixiert bleibt. Freiheit ist zu gewinnen durch die Ausrichtung an der Erfahrung dessen, was Gott für die Menschen will, was sie von ihm als seine Geschöpfe empfangen und was ihnen im Glauben und in der Hoffnung widerfährt. Darauf gemeinsam antworten zu können, ist Kennzeichen der Freiheit. Diese Antwort besteht darin, dass Menschen in allen Lebensverhältnissen erproben, was es heißt, in der Befreiung aus der Selbstverschlossenheit in der Aufmerksamkeit auf den Anderen und in der Verantwortung für den Anderen zu leben.
6.3 Es kommt für eine Ethik der Freiheit darauf an, wie sich die christliche verstandene Freiheit mit den verschiedenen, auch im Recht verankerten, Konzeptionen von Freiheit auseinander setzt und verständigt. Die moderne Gesellschaft wird davon bestimmt sein, wie verschiedene Lebensformen nicht nur in gegenseitiger Toleranz existieren, sondern auf ein gemeinsames Handeln ausgerichtet bleiben, also eine politische Form der Freiheit hervorbringen, die eine freiheitliche Gesellschaft ebenso kennzeichnet wie die friedliche Koexistenz. In diesem Sinne ist die christliche Ethik auf eine demokratische Form der Freiheit ausgerichtet. Von dieser politischen Form wird die Bewahrung der Freiheit auch im Blick auf die technologische Weltveränderung abhängen.
Lit.: J. SIMON (Hg.), Freiheit. Theoretische und praktische Aspekte des Problems, 1977 – H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, 1979 – W. HUBER, Folgen christlicher Freiheit. Ethik und Theorie der Kirche im Horizont der Barmer Theologischen Erklärung, 1983 – KIRCHENAMT DER EKD (Hg.), Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, 1985 – M. RIEDEL, Freiheit und Verantwortung. Zwei Grundbegriffe der kommunikativen Ethik, in: DERS., Für eine zweite Philosophie. Vorträge und Abhandlungen, 1988, 152-170 – CH. TAYLOR, Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, 1988 – J. MOLTMANN (Hg.), Die Religion der Freiheit. Protestantismus in der Moderne, [511] 1990 – T. RENDTORFF, Ethik. Grundelemente, Methodologie und Konkretionen einer ethischen Theologie, 2 Bde. (I1980, II1981), I19902, II19912 – H.G. ULRICH (Hg.), Freiheit im Leben mit Gott. Texte zur Tradition evangelischer Ethik, 1993 (Lit.) – O. BAYER, Freiheit als Antwort. Zur theologischem Ethik, 1995 – R. SCHRÖDER, Vom Gebrauch der Freiheit. Gedanken über Deutschland nach der Vereinigung, 1996.
Martin Honecker u.a. (Hrsg), Evangelisches Soziallexikon. Neuausgabe, Stuttgart-Berlin-Köln: W. Kohlhammer 2002, Sp. 505-511.
Der Glaube
vertraut der Rückbesinnung
auf das festgelegte Wort
Die Seele
der Urgrund allen Seins
die Seele
der Geist
ist in uns
nicht da draussen