
Parrhesia, auf Deutsch „Freimut“ bzw. „Zuversicht“ ist ein neutestamentlicher Begriff, der für die politische Ethik eine besondere Relevanz hat, auch wenn er im deutschen Sprachraum weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Das Historische Wörterbuch der Philosophie bzw. der Rhetorik verzeichnen ihn nicht als eigenen Eintrag. Ebenso fehlt er in der RGG4 bzw. der LTHK3. Dabei bringt er eine Tugend zur Sprache, die in der Gegenwart gefragt ist, nämlich das verantwortete Wahrsprechen. So hat Michel Foucault die parrhesia sowohl in seinen Berkeley-Vorlesungen 1983 wie auch in seinen letzten Vorlesungen am Collège de France 1983/84 zum Thema gemacht. „parrhesia ist eine verbale Tätigkeit, bei der der Sprecher seine persönliche Beziehung zur Wahrheit ausdrückt und sein Leben aufs Spiel setzt, weil er das Wahrsprechen als eine Pflicht erkennt, um anderen Menschen (so wie sich selber) zu helfen oder sie zu verbessern. Bei parrhesia gebraucht der Sprecher seine Freiheit und wählt Offenheit anstelle von Überredung, die Wahrheit anstelle von Falschheit oder Schweigen, das Risiko des Todes anstelle von Leben und Sicherheit, die Kritik anstelle von Schmeichelei, und die moralische Pflicht anstelle von Eigennutz und moralischer Gleichgültigkeit.“ (Michel Foucault, Diskurs und Wahrheit. Berkeley-Vorlesungen 1983, aus dem Englischen übersetzt von Mira Köller, Berlin: Merve Verlag 1996, S. 19.) Die parrhesia widersetzt sich dikatorischer Verstummung, ideologischer Bevormundung, narzisstischer Selbstgerechtigkeit, populistischer Verdummung, suprematischer Hassrede wie auch fatalistischer Untergangsbeschwörung. Nur dort wo eine eschatologische Zuversicht vorhanden ist, lässt sich auf Dauer freimütig reden.
Hier der Artikel zur parrhesia aus dem Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament, der auf Heinrich Schliers Artikel zur parrhesia aus dem ThWNT (Bd. 5, 869-884) fußt:
Von Hans Christoph Hahn
I. 1) parrēsía bezeichnet seinem urspr. Wortgehalt nach (pan und rḗsis, zu eírō aus Wurzel wer-, lat. verbum, vielleicht dt. »Wort«) die Freiheit, alles zu sagen. Da die Verwirklichung dieser Redefreiheit bisweilen auf Widerstände stößt, erklärt sich Unerschrockenheit, Freimütigkeit als weiterer Bedeutungsgehalt von parrēsía. Ebenso ist die negative Bedeutung des Wortes Dreistigkeit, Unverschämtheit im Reden verständlich als Bezeichnung des Mißbrauchs der Redefreiheit.
2) Die erst seit Euripides (Hipp 422) und Aristophanes (Thes 541) im Profangriech. auftauchende Wortgruppe gehört zunächst in die Sphäre des Politischen. Sie bezeichnet das demokratische Recht eines Vollbürgers (nicht des Sklaven oder Fremden) der griech. Polis, in der Volksversammlung (ekklēsía) seine Meinung frei herauszusagen (vgl. z.B. Polybius 2,38,6). Dieses Recht ist geradezu ein Charakteristikum der Demokratie; freilich liegt die Gefahr des Mißbrauchs in ihm, wie Plato zeigt (Resp 8,557b). Eine wichtige Rolle spielt die parrēsía auch im privaten Bereich, wo sie etwa im Rahmen der philía-Lehre die Freimütigkeit meint, mit der einer dem Bruder oder Freunde begegnet (vgl. z.B. Aristot EthNic 9,2, 1165a29). Im Laufe der geschichtlichen Entwicklung wird schließlich aus dem urspr. politischen ein mehr moralischer Begriff, der als Korrelat zu eleuthería, Freiheit, bes. im Kynismus von zentraler Bedeutung ist: parrēsía ist hier nicht mehr ein Bürgerrecht, sondern ein Kennzeichen des moralisch Freien, der die Öffentlichkeit nicht scheut.
II. 1) In der LXX kommt die Wortgruppe nur selten vor (Subst. 12mal, Verb 5mal). Gegenüber dem profangriech. Gebrauch neu ist die Anwendung des Begriffes auf Gott und den Menschen, der Gott gegenübertritt. Von der parrēsía Gottes ist in Ps 93(94),1 die Rede, wo parresiázomai als Übers, des hebr. jāfā’ (hif. = aufstrahlen, im Lichtglanz erscheinen; vgl. 1QH 7,24; 9,26; CD 20,25; ein bes. in bezug auf JHWH-Epiphanien gebrauchtes Wort, vgl. ThWNT V, 874f) dient: Gott soll als Rächer offen hervortreten und den Gottlosen ihren Frevel vergelten. Daß ein solches Auftreten Gottes (vgl. LXX Ps 11,6) mit seiner Wortmächtigkeit zu tun hat, zeigt sich auch Spr 1,20f, wo es von der göttlichen Weisheit (sophía) heißt: »Sie ruft an den Toren, und auf den Plätzen führt sie eine unverhüllte Rede« (parrēsían ágei).
Zur Veranschaulichung der Haltung des Menschen vor Gott wird parrēsía in Ijob 22,26 u. 27,10 benutzt. Beide Male weist parrēsía über die Freiheit des Beters hinaus auf ein Element der Freude (parrēsía steht hier für hebr. ‘ānāg hit. = Freude haben an), das zum freien Umgang des Menschen mit Gott gehört und das dem Gerechten selbst im Gericht noch bleiben wird (Weish 5,1).
2) In der jüd.-hell. Lit. wird weithin das griech. Verständnis der parrēsía übernommen, aber mit atl. Elementen verbunden, etwa, wenn das gute Gewissen, das kein Gottloser haben kann, als Voraussetzung der parrēsía genannt wird. parrēsía findet sich auch hier zur Beschreibung der Gebetshaltung (z.B. Philo Her 5-29) und der bis ins Eschaton reichenden Zuversicht des Gerechten (z.B. 4Esr 7,98ff). parrēsía ging als Fremdwort in das tannaanitische Hebr. ein. [1949]
III. Im NT kommt parrēsía 31mal vor (13mal in den johanneischen Schriften, 8mal bei Paulus, 5mal in Apg, 4mal in Hebr, 1mal in Mk). Das Verb parresiázomai findet sich 9mal, und zwar nur in Apg (7mal) und bei Paulus (2mal). Die Bedeutungsnuancen der Wortgruppe bewegen sich zwischen dem Sinngehalt von eleuthería = Freiheit und elpís = Hoffnung.
1) Zunächst und ganz bes. im JohEv wird von Jesus gesagt, daß er parrēsía wirkt, d.h., seine Verkündigung geschieht »im Bereich der Öffentlichkeit« (Joh 7,26; 11,14-54; 18,20). Wenn Jesus in parrēsía spricht, so kann das aber auch heißen, daß er unverhüllt und offen redet, d.h. nicht nur in Andeutungen (Joh 11,14; vgl. 10,24f; vgl. Mk 8,32). Doch nur für den Glaubenden redet Jesus so frei heraus (Joh 16,15.29); der Welt gegenüber spricht er in Gleichnissen paroimía), die sie ohne Glauben nicht versteht. So besteht zwischen parrēsía und paroimía eine Spannung, die dem johanneischen Entscheidungsdualismus (Tod-Leben, Wahrheit-Lüge etc.) entspricht und nur im Glauben ihre Auflösung findet.
2) Die parrēsía Jesu findet ihre Fortsetzung in dem entschiedenen Zeugnis der Apostel. Immer wieder weiß die Apg davon zu berichten, daß Petrus, Paulus oder andere Männer auftraten und furchtlos Juden oder Heiden gegenüber die Taten Gottes verkündeten (z.B. Apg 2,29; 4,13; 9,27f u.ö). Dieser Verwunderung (Apg 4,13), Spaltung (Apg 14,3f) und Verfolgung (vgl. Apg 9,27-29) hervorrufende Freimut ist freilich keine dem Menschen verfügbare Größe, sondern eine Frucht des Heiligen Geistes (Apg 4,31), die immer wieder erbeten werden muß (Apg 4,29).
3) So wird die parrēsía des Zeugen auch bei Paulus und Johannes gesehen. Sie kennzeichnet den Vollzug der rechten Predigt von dem Geheimnis des Evangeliums (Eph 6,19), die Verherrlichung Christi mit Leib und Seele (Phil 1,20). Da die Bewährung u.U. etwa in Gefangenschaft gefordert wird (vgl. Eph 6,20), gewinnt parrēsía geradezu die Bedeutung Kühnheit, Mut (1Thess 2,2). Solchen Mut aber hat der Mensch nicht aus sich heraus, sondern nur in Gott (1Thess 2,2) bzw. in Christus (Phlm 8).
4) Damit auch die Zukunft des Menschen nicht im Zeichen der Angst vor dem Strafgericht steht, sondern im Zeichen der freien Zuversicht, der Offenheit zu Gott, der Hoffnung auf die Fülle der Herrlichkeit Gottes (vgl. 2Kor 3,11f), gilt es, bei Christus zu bleiben (1Joh 2,28; Hebr 3,6; 10,35), der ja schon über die Mächte öffentlich (en parrēsía) triumphiert (Kol 2,15) und einen Zugang zum Heiligtum geschaffen hat (Hebr 10,19; vgl. 4,16). Wer sich im Glauben und d.h. zugleich in der gelebten Liebe (vgl. 1Joh 4,17; vgl. auch die Betonung der parrēsía auf Grund von guter Dienstleistung 1Tim 3,13) an Christus hält und wen darum das eigene Herz nicht verurteilt (1Joh 3,21), der wird die Zuversicht des Beters (1Joh 5,14) haben »und nicht zuschanden werden vor ihm bei seiner Wiederkunft« (1Joh 2,28 ZB). So schließt die parrēsía gleichermaßen »Vertrauen zu Gott, Heilsgewißheit, Überwindung des Schuldbewußtseins, Erlaubnis und Ermöglichung des Gebetes, Erwartung der Zukunft« in sich (O. Michel, KEK XIII, 178).
Quelle: Lothar Coenen/Klaus Haacker (Hrsg.), Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament, Wuppertal: R. Brockhaus Verlag-Neukirchener Verlag, 1997, 1948f.