Hans Christoph Hahn, Über Freimut und Zuversicht im Neuen Testament: „Da die Verwirklichung der Redefreiheit bisweilen auf Widerstände stößt, erklärt sich Unerschrockenheit, Freimü­tigkeit als weiterer Bedeutungsgehalt von parrhesia.“

Raphael - Der Apostel Paulus predigt auf dem Areopag in Athen (1515)
Raffael – Paulus auf dem Areopag 1515 (Tempera auf Papier befestigt auf Leinwand Victore und Albert Museum London)

Parrhesia, auf Deutsch „Freimut“ bzw. „Zuversicht“ ist ein neutestamentlicher Begriff, der für die politische Ethik eine besondere Relevanz hat, auch wenn er im deutschen Sprachraum weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Das Historische Wörterbuch der Philosophie bzw. der Rhetorik verzeichnen ihn nicht als eigenen Eintrag. Ebenso fehlt er in der RGG4 bzw. der LTHK3. Dabei bringt er eine Tugend zur Sprache, die in der Gegenwart gefragt ist, nämlich das verantwortete Wahrsprechen. So hat Michel Foucault die parrhesia sowohl in seinen Berkeley-Vorlesungen 1983 wie auch in seinen letzten Vorlesungen am Collège de France 1983/84 zum Thema gemacht. „parrhesia ist eine verbale Tätigkeit, bei der der Sprecher seine persönliche Beziehung zur Wahrheit ausdrückt und sein Leben aufs Spiel setzt, weil er das Wahrsprechen als eine Pflicht erkennt, um anderen Menschen (so wie sich selber) zu helfen oder sie zu verbessern. Bei parrhesia gebraucht der Sprecher seine Freiheit und wählt Offenheit anstelle von Überredung, die Wahrheit anstelle von Falschheit oder Schweigen, das Risiko des Todes anstelle von Leben und Sicherheit, die Kritik anstelle von Schmeichelei, und die moralische Pflicht anstelle von Eigennutz und moralischer Gleichgültigkeit.“ (Michel Foucault, Diskurs und Wahrheit. Berkeley-Vorlesungen 1983, aus dem Englischen übersetzt von Mira Köller, Berlin: Merve Verlag 1996, S. 19.) Die parrhesia widersetzt sich dikatorischer Verstummung, ideologischer Bevormundung, narzisstischer Selbstgerechtigkeit, populistischer Verdummung, suprematischer Hassrede wie auch fatalistischer Untergangsbeschwörung. Nur dort wo eine eschatologische Zuversicht vorhanden ist, lässt sich auf Dauer freimütig reden.

Hier der Artikel zur parrhesia aus dem Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament, der auf Heinrich Schliers Artikel zur parrhesia aus dem ThWNT (Bd. 5, 869-884) fußt:

parrēsía Freimut, Offenheit, Öffentlichkeit parresiázomai freimütig, offen reden; Mut gewinnen zum Sprechen

Von Hans Christoph Hahn

I. 1) parrēsía bezeichnet seinem urspr. Wortgehalt nach (pan und rḗsis, zu eírō aus Wurzel wer-, lat. verbum, vielleicht dt. »Wort«) die Freiheit, alles zu sagen. Da die Verwirklichung dieser Redefreiheit bisweilen auf Widerstände stößt, erklärt sich Unerschrockenheit, Freimü­tigkeit als weiterer Bedeutungsgehalt von parrēsía. Ebenso ist die negative Bedeutung des Wortes Dreistigkeit, Unverschämtheit im Reden verständlich als Bezeichnung des Miß­brauchs der Redefreiheit.

2) Die erst seit Euripides (Hipp 422) und Aristophanes (Thes 541) im Profangriech. auftau­chende Wortgruppe gehört zunächst in die Sphäre des Politischen. Sie bezeichnet das demo­krati­sche Recht eines Vollbürgers (nicht des Sklaven oder Fremden) der griech. Polis, in der Volksver­sammlung (ekklēsía) seine Meinung frei herauszusagen (vgl. z.B. Polybius 2,38,6). Dieses Recht ist geradezu ein Charakteristikum der Demokratie; freilich liegt die Gefahr des Mißbrauchs in ihm, wie Plato zeigt (Resp 8,557b). Eine wichtige Rolle spielt die parrēsía auch im privaten Bereich, wo sie etwa im Rahmen der philía-Lehre die Freimütigkeit meint, mit der einer dem Bruder oder Freunde begegnet (vgl. z.B. Aristot EthNic 9,2, 1165a29). Im Laufe der ge­schichtlichen Entwicklung wird schließlich aus dem urspr. politischen ein mehr moralischer Be­griff, der als Korrelat zu eleuthería, Freiheit, bes. im Kynismus von zentraler Be­deutung ist: parrēsía ist hier nicht mehr ein Bürgerrecht, sondern ein Kennzeichen des moralisch Freien, der die Öffentlichkeit nicht scheut.

II. 1) In der LXX kommt die Wortgruppe nur selten vor (Subst. 12mal, Verb 5mal). Gegen­über dem profangriech. Gebrauch neu ist die Anwendung des Begriffes auf Gott und den Menschen, der Gott gegenübertritt. Von der parrēsía Gottes ist in Ps 93(94),1 die Rede, wo parresiázomai als Übers, des hebr. jāfā’ (hif. = aufstrahlen, im Lichtglanz erscheinen; vgl. 1QH 7,24; 9,26; CD 20,25; ein bes. in bezug auf JHWH-Epiphanien gebrauchtes Wort, vgl. ThWNT V, 874f) dient: Gott soll als Rächer offen hervortreten und den Gottlosen ihren Fre­vel vergelten. Daß ein solches Auftreten Gottes (vgl. LXX Ps 11,6) mit seiner Wortmächtig­keit zu tun hat, zeigt sich auch Spr 1,20f, wo es von der göttlichen Weisheit (sophía) heißt: »Sie ruft an den To­ren, und auf den Plätzen führt sie eine unverhüllte Rede« (parrēsían ágei).

Zur Veranschaulichung der Haltung des Menschen vor Gott wird parrēsía in Ijob 22,26 u. 27,10 be­nutzt. Beide Male weist parrēsía über die Freiheit des Beters hinaus auf ein Element der Freude (parrēsía steht hier für hebr. ‘ānāg hit. = Freude haben an), das zum freien Um­gang des Menschen mit Gott ge­hört und das dem Gerechten selbst im Gericht noch bleiben wird (Weish 5,1).

2) In der jüd.-hell. Lit. wird weithin das griech. Verständnis der parrēsía übernommen, aber mit atl. Elementen verbunden, etwa, wenn das gute Gewissen, das kein Gottloser haben kann, als Vor­aussetzung der parrēsía genannt wird. parrēsía findet sich auch hier zur Beschreibung der Gebetshaltung (z.B. Philo Her 5-29) und der bis ins Eschaton reichenden Zuversicht des Gerechten (z.B. 4Esr 7,98ff). parrēsía ging als Fremdwort in das tannaanitische Hebr. ein. [1949]

III. Im NT kommt parrēsía 31mal vor (13mal in den johanneischen Schriften, 8mal bei Pau­lus, 5mal in Apg, 4mal in Hebr, 1mal in Mk). Das Verb parresiázomai findet sich 9mal, und zwar nur in Apg (7mal) und bei Paulus (2mal). Die Bedeutungsnuancen der Wortgruppe be­wegen sich zwischen dem Sinngehalt von eleuthería = Freiheit und elpís = Hoffnung.

1) Zunächst und ganz bes. im JohEv wird von Jesus gesagt, daß er parrēsía wirkt, d.h., seine Verkündigung geschieht »im Bereich der Öffentlichkeit« (Joh 7,26; 11,14-54; 18,20). Wenn Jesus in parrēsía spricht, so kann das aber auch heißen, daß er unverhüllt und offen redet, d.h. nicht nur in Andeutungen (Joh 11,14; vgl. 10,24f; vgl. Mk 8,32). Doch nur für den Glauben­den redet Jesus so frei heraus (Joh 16,15.29); der Welt gegenüber spricht er in Gleichnissen paroimía), die sie ohne Glauben nicht versteht. So besteht zwischen parrēsía und paroimía eine Spannung, die dem johanneischen Entscheidungsdualismus (Tod-Leben, Wahrheit-Lüge etc.) entspricht und nur im Glauben ihre Auflösung findet.

2) Die parrēsía Jesu findet ihre Fortsetzung in dem entschiedenen Zeugnis der Apostel. Im­mer wieder weiß die Apg davon zu berichten, daß Petrus, Paulus oder andere Männer auftra­ten und furchtlos Juden oder Heiden gegenüber die Taten Gottes verkün­deten (z.B. Apg 2,29; 4,13; 9,27f u.ö). Dieser Verwunderung (Apg 4,13), Spaltung (Apg 14,3f) und Verfol­gung (vgl. Apg 9,27-29) hervorrufende Freimut ist freilich keine dem Menschen verfügbare Größe, sondern eine Frucht des Heiligen Geistes (Apg 4,31), die immer wieder erbeten werden muß (Apg 4,29).

3) So wird die parrēsía des Zeugen auch bei Paulus und Johannes gesehen. Sie kenn­zeichnet den Vollzug der rechten Predigt von dem Geheimnis des Evangeliums (Eph 6,19), die Ver­herrlichung Christi mit Leib und Seele (Phil 1,20). Da die Bewährung u.U. etwa in Gefangen­schaft gefordert wird (vgl. Eph 6,20), gewinnt parrēsía geradezu die Bedeu­tung Kühnheit, Mut (1Thess 2,2). Solchen Mut aber hat der Mensch nicht aus sich her­aus, sondern nur in Gott (1Thess 2,2) bzw. in Christus (Phlm 8).

4) Damit auch die Zukunft des Menschen nicht im Zeichen der Angst vor dem Strafge­richt steht, sondern im Zeichen der freien Zuversicht, der Offenheit zu Gott, der Hoffnung auf die Fülle der Herrlichkeit Gottes (vgl. 2Kor 3,11f), gilt es, bei Christus zu bleiben (1Joh 2,28; Hebr 3,6; 10,35), der ja schon über die Mächte öffentlich (en parrēsía) triumphiert (Kol 2,15) und einen Zugang zum Heiligtum geschaffen hat (Hebr 10,19; vgl. 4,16). Wer sich im Glau­ben und d.h. zugleich in der gelebten Liebe (vgl. 1Joh 4,17; vgl. auch die Betonung der parrē­sía auf Grund von guter Dienstleistung 1Tim 3,13) an Christus hält und wen darum das eige­ne Herz nicht verurteilt (1Joh 3,21), der wird die Zuversicht des Beters (1Joh 5,14) haben »und nicht zuschanden werden vor ihm bei seiner Wiederkunft« (1Joh 2,28 ZB). So schließt die parrēsía gleichermaßen »Vertrauen zu Gott, Heilsgewißheit, Überwindung des Schuldbe­wußtseins, Erlaubnis und Ermöglichung des Gebetes, Erwar­tung der Zukunft« in sich (O. Michel, KEK XIII, 178).

Quelle: Lothar Coenen/Klaus Haacker (Hrsg.), Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament, Wuppertal: R. Brockhaus Verlag-Neukirchener Verlag, 1997, 1948f.

Hier der Artikel als pdf.

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