
Von der politischen Verantwortung des Christen in der heutigen Welt
Von Martin Niemöller
In dem Problem, wie es uns durch unser Thema gestellt ist, geht es um das Verhältnis des Christen, d. h. des Menschen, der seine wahre Existenz im Glauben hat, zu der Welt, in der er seine wirkliche Existenz hat.
Tatsächlich lebt der Christ zur gleichen Zeit in zwei Welten. Er ist nicht etwa ein Wanderer zwischen den beiden Welten, nicht ein Reisender, der sich einmal hier und einmal dort aufhielte, sondern er ist im strengen Sinne beiden Welten angehörig. — Sein Leben als Christ kann nirgendwo anders gelebt werden als in dieser gegenwärtigen Welt; und wiederum: als Christ kann er nicht in dieser gegenwärtigen Welt leben, wenn er nicht zugleich in der Welt des Glaubens lebt. Als Glaubender gehört der Christ dem Reiche Gottes an; als Mensch, der „noch im Leibe lebt“ (Hebr. 13, 3), gehört er ins Reich dieser Welt.
Die Schwierigkeit liegt darin, daß diese beiden Reiche wirklich zwei verschiedene Welten sind, daß sie nicht nur in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen, sondern in einem echten Gegensatz, weil wir es im Reiche Gottes einerseits und in den Reichen dieser Welt andererseits mit verschiedenen Herrschaftsansprüchen zu tun bekommen; und dort, wo sich ein Konflikt ergibt, kann der Glaube diesem Konflikt nicht ausweichen, ohne sich selber aufzugeben: „Man muß Gott mehr gehorchen denn den Menschen“ (Ap. Gesch. 5, 29). — Und hier ist der Konfliktsfall die Regel, weshalb wir Christen im Neuen Testament wieder und wieder ermahnt werden, daß wir nicht etwa in der Feindschaft der Welt etwas Abnormes sehen dürfen: „Ihr müsset gehaßt werden von jedermann um meines Namens willen“ (Matth. 10, 22). „Haben sie den Hausvater Beelzebub geheißen, wie viel mehr werden sie seine Hausgenossen also heißen!“ (Matth. 10, 25) „Verwundert euch nicht, liebe Brüder, wenn euch die Welt haßt!“ (1. Joh. 3, 13). — Inmitten dieser Welt und ihrer Herrschaftsbereiche sind wir [220] Christen darum ein elendes Häuflein: „Hoffen wir allein in diesem Leben auf Christum, so sind wir die Elendesten unter allen Menschen!“ (1. Kor. 15, 19); und es ist nur zu begreiflich, daß wir ständig versucht sind, uns dieser Feindschaft auf irgend eine Weise zu entziehen oder sie uns zu erleichtern.
Hierzu bieten sich uns zwei entgegengesetzte Wege als Möglichkeiten an, die denn auch in der Geschichte der Christenheit bis auf diesen Tag immer wieder versucht worden sind und noch versucht werden.
Der einfachste Weg, wie man der Feindschaft der Welt ledig werden kann, ist der Weg der Kapitulation vor ihrem Herrschaftsanspruch: der Christ wird weltförmig und läßt sich seine Verhaltungsweise vorschreiben durch das, was in der Welt als Norm und Gesetz gilt. Das kann je nach dem betreffenden Reich dieser Welt, in dem man gerade lebt, sehr verschieden aussehen; das kann ein hoch anständiges und moralisch einwandfreies Recht sein, nach welchem man sein Leben in Übereinstimmung mit der weltlichen Herrschaft ordnet und einrichtet, etwa auf der Grundlage eines „christlich“ genannten Naturrechts oder eines sorgfältig gehüteten und beobachteten „positiven“ Rechts. — Das kann aber auch ein Zurückweichen vor bloßer Gewalt und Willkür bedeuten, für welches gar keine moralische Rechtfertigung mehr gesucht wird, weil der bloße Herrschaftsanspruch der herrschenden Gewalten als ausreichende Begründung für den Gehorsam — auch des „Christen“ — anerkannt wird. Es darf als bekannt vorausgesetzt werden, wie solche Kapitulation biblisch mit Römer 13: „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat“, theologisch mit der „Lehre von den zwei Reichen“ und soziologisch mit dem Grundsatz der „Eigengesetzlichkeit“ der verschiedenen weltlichen Lebensgebiete begründet worden ist: die Welt des Glaubens wird auf eine einzige Provinz des menschlichen Lebens in dieser Welt, nämlich auf die „religiöse Provinz“ reduziert mit dem Effekt, daß der Glaube für den ganzen übrigen Bereich des menschlichen Daseins irrelevant wird. Ein Konflikt wird — strenggenommen — unmöglich; denn der christliche „Glaube“ wird nun in der Tat zur „Privatsache“. Der Christ verhält sich in dieser Welt wie jeder andere Weltbürger auch; denn das Ethos der Berg-[221]predigt ist außer Kraft gesetzt und unterliegt jenem Moratorium, das von den Theologen während des ersten Weltkrieges postuliert wurde, nur daß es zeitlich in gar keiner Weise begrenzt wird. Das „Christentum“ wird hier zu einem religiösen Traumbild, dem keine Wirklichkeit entspricht; und der Christ, der sich trotzdem in einen Gegensatz zu den herrschenden Gewalten dieser Welt begibt und dafür Verfolgung erfährt, kann allenfalls als ein armer, irrender „Schwärmer“ bemitleidet werden. — Hier ist also ein modus vivendi gefunden; und ich behaupte wohl nicht zuviel, wenn ich sage, daß der Friede, dessen die Christenheit sich heute in der Welt erfreut — und zwar im Westen wie im Osten —, fast durchgängig auf solch einer Kapitulation beruht: der Christ verliert sich an die Welt.
Der andere Weg für den Christen, sich der Feindschaft der Welt zu entziehen, besteht darin, daß man sich von der Welt und ihrem Herrschaftsbereich distanziert. — Der Rückzug aus der Welt, die Weltflucht, galt durch lange Jahrhunderte als der eigentliche, christlich legitime Weg: da man innerhalb der Welt und ihrer Reiche als Christ nicht unangefochten leben kann, da man sich andererseits gewarnt sah: „Stellet euch nicht dieser Welt gleich!“ (Römer 12, 2), so meinte man, die volle christliche Existenz nur in der Distanz gegenüber der Welt verwirklichen zu können, in der Einsamkeit des Eremitentums, in der spezifisch christlichen Gemeinschaft eines Ordens, wo man — ohne mit der Welt in Konflikt zu geraten — den Herrschaftsanspruch des Gottesreiches glaubte ernstnehmen zu können. Hier brauchte man das Ethos Jesu nicht von vornherein als Traumbild zu verleugnen; hier konnte es als Vollkommenheitsideal festgehalten und im Rahmen des Menschenmöglichen realisiert werden, ohne daß daraus alsbald und in jedem Fall ein Konflikt mit den Herrschern dieser Welt zu werden brauchte. — Freilich ergab sich hieraus jene doppelte christliche Ethik — die eine für den normalen Durchschnittschristen und die andere für die „Vollkommenen“ —, die von der Reformation als unevangelisch bestritten und abgetan wurde. Der Versuch aber, dem Konflikt mit der Welt durch Distanzierung zu entgehen, hat damit nicht etwa aufgehört. Die „Stillen im Lande“, die versuchen, sich aus den Händeln dieser Welt herauszuhalten und die sich so „von der Welt unbefleckt [222] erhalten“ (Jak. 1, 27) wollen, gibt es heute wie einst; und diese Gruppen sind sowohl im bolschewistischen Rußland wie im nazistischen Deutschland zur Zeit der Verfolgung verhältnismäßig glimpflich durchgekommen. Sie stellen in der heutigen Christenheit eine immerhin beachtliche Minorität dar und besonders dort, wo im Zusammenbruch weltlicher Planungen und Systeme eine ernsthafte Rückbesinnung auf die christlichen Werte ausgelöst worden ist, ohne daß die akute Gefährdung durch einen möglichen Konflikt beseitigt wäre: der Christ distanziert sich von der Welt!
Beide Wege, wie sie hier aufgezeigt wurden, sind jedoch dem Christen verwehrt: Er darf sich weder dieser Welt ausliefern, noch darf er dieser Welt ausweichen; denn in beiden Fällen würde der Christ seine Bestimmung verleugnen. Die Gemeinde Jesu ist vielmehr in die Welt hineingesandt, nicht um in der Welt aufzugehen, sondern um an der Welt einen Auftrag auszurichten, so daß es für sie weder einen Rückzug noch eine Kapitulation gibt, sondern nur eine Sendung und einen Auftrag. — Und wir werden uns nun der Frage zuzuwenden haben, wie es um diese Sendung und um diesen Auftrag bestellt ist.
Wir Christen sind ausgesandt in diese Welt hinein als Künder einer Botschaft, und diese Botschaft besagt, daß das „Reich Gottes“ herbeigekommen ist; und wir sagen diese Botschaft weiter an Menschen, die nichts anderes wissen und kennen als die „Reiche dieser Welt“, und wir sagen diese Botschaft weiter als eine Freudenbotschaft, die Befreiung und Rettung bringt. — Es ist nicht so, als träte die Herrschaft Gottes neben die Mächte, die hier in der Welt regieren, um sie weiterhin ungestört ihre Herrschaft üben und ihre Macht gebrauchen zu lassen; diese Gottesherrschaft will sich ausbreiten, und zwar auf Kosten der Herren dieser Welt; sie stellt deren Autorität in Frage und setzt den Herrschaftswillen Gottes dagegen. Und diesem Gottesreich gehört der Sieg: Es ist das kommende Reich, das bereits im Kommen ist, während die Reiche dieser Welt die vergehenden Reiche sind, die bereits im Gehen begriffen sind! — Es ist — für den Glauben — durchaus nicht etwa ein Gebot der Klugheit, sich den bestehenden Mächten anzupassen; denn sie sind ja die Gehenden! Für den Christen als den Glaubenden ist das Gesetz des Gottesreiches, wie es etwa in Jesu [223] Bergpredigt entfaltet wird, nicht eine Utopie, sondern der Wille dessen, der im Kommen ist und den Sieg bereits errungen hat. Diese „eschatologische Ethik“ ist nicht etwa ein Gesetz, das noch erst in Kraft gesetzt werden müßte und das einstweilen noch unter einem Moratorium steht, so daß es heute noch nicht gälte, daß wir unsere Feinde lieben und das Böse durch Gutes überwinden sollen. Wohl ist der Christ jetzt Bürger zweier Welten, aber er ist nicht mehr ein Kind dieser Welt, sondern er ist schon ein Kind Gottes, und er vertritt mitten in dieser Welt, „mitten unter dem verkehrten Geschlecht“ (Phil. 2,15) das bereits geltende Recht, die „bessere Gerechtigkeit“ (Matth. 5, 20) des Gottesreichs. — Damit zieht er sich zwar die Feindschaft und den Haß der zu Tode getroffenen Mächte zu; und er muß sich von ihnen als Narren oder auch als Verbrecher schelten lassen; aber er weiß im Glauben bereits um die Ohnmacht dieser „Mächte“ und um den Sieg dessen, der den neuen Himmel und die neue Erde schaffen wird, „in welchen Gerechtigkeit wohnt“ (2. Petr. 3, 13).
Es kann wohl nicht anders sein, als daß dies Verhalten des Christen in der Welt als Torheit beurteilt wird; und wir werden uns selber Rechenschaft darüber zu geben haben, weshalb wir denn eigentlich so handeln. Es ist ja keineswegs überzeugend deutlich, daß diese Herrschaft Gottes, von der wir reden, wirklich im Kommen ist. Es geht hierbei wahrhaftig um Glauben und nicht um Schauen; und es ist die Frage, die wir uns selber zu stellen haben, ob dieser unser Glaube das ist, was er zu sein behauptet, nämlich „eine gewisse Zuversicht des, das man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, das man nicht sieht“ (Hebr. 11, 1). Mit andern Worten: woher nimmt unser Glaube an das Kommen und an den Sieg der Herrschaft Gottes eigentlich seine Gewißheit? Woran und weshalb glauben wir? Inwiefern ist die Botschaft vom Reich Gottes überhaupt eine frohe, eine befreiende und rettende Botschaft?
Wir heißen Christen, weil wir die Antwort auf diese Frage in Jesus Christus hören als in dem einen und entscheidenden Wort, das Gott an uns richtet. — In dem Mann von Nazareth ist das Reich Gottes „mitten unter uns“ (Luk. 17, 21); er ist keiner fremden Macht hörig außer Gott allein: „Meine Speise ist, daß ich tue den Willen des, der mich ge-[224]sandt hat“ (Joh. 4,34); er „ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes“ (Kol. 1,15), der Menschensohn, der wahr» haft Gottes Sohn ist, der „zweite Adam“, der gehorsam bleibt und sich nicht gegen Gottes Herrschaft auflehnt (1. Kor. 15, 47), der das „große Gebot“ (Matth. 22, 37-39) erfüllt, indem er Gott und seinen Nächsten liebt. Hier ist der wahre Mensch, vor dem wir unserer Schuld innewerden den wir nicht ertragen können, weil er gut ist, weil er menschlich und göttlich ist: „Wir wollen nicht, daß dieser über uns herrsche“ (Luk. 19,14). Wir müssen ihn loswer» den, und deshalb muß er ans Kreuz; doch wir werden ihn nicht los, weil er uns nicht losläßt und nicht preisgibt, sondern uns mit seiner Vergebung festhält: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Luk. 23,34). Und weil er als unser Bruder Vergebung für uns erbittet, deshalb vergibt Gott um seinetwillen als unser Vater — als unser Vater um seinetwillen! — Da zerreißt „der Vorhang im Tempel“ (Matth. 27, 51), da „erbebt die Erde“, da werden die Toten lebendig; denn nun bricht das Gottesreich an für alle, die glauben, die an Gottes Vergebung glauben. Und es ist eine frohe, befreiende und rettende Botschaft, daß Gott vergibt um dieses einen wahren Bruders willen, daß Gott unser Vater und König wird, daß Gott uns diesen unsern Bruder zum lebendigen Herrn gibt, daß Gott in ihm über alle Mächte, denen wir verfallen waren, den Sieg davonträgt. — Und der Glaube, der dieser Botschaft traut, trägt seine Gewißheit in sich selber; und in diesem Glauben sind wir Christen, nur so!
Nun wissen wir und bezeugen es, daß im Kreuz Christi das Gericht Gottes über die Reiche und Mächte dieser Welt ergangen ist: Sie zittern und beben, sie krachen und bersten; und keine Ideologie und keine Weltanschauung, keine Planung und kein System kann ihnen Dauer und Bestand geben; wir brauchen sie nicht mehr zu fürchten, und wir können uns nicht mehr an sie verlieren. Denn ihre Stunde hat geschlagen: „Kindlein, es ist die letzte Stunde!“ (1. Joh. 2,18). Die sogenannte „Eschatologie“ ist keine bloße Zukunftsmusik; wir stehen mitten drin, ob die Welt es wahr» haben mag oder nicht: „Unsere Erlösung naht“ (Luk. 21, 28); und wir haben es den Reichen dieser Welt zu bescheinigen, daß sie vergehen. — Zugleich aber wissen wir, [225] daß Gott diese vergehende Welt — noch — erhält, damit sie seinem Plan und Vorhaben diene und Gelegenheit dafür schaffe, daß Gottes Menschenkinder die rettende Botschaft hören, weil „Gott will, daß allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen“ (1. Tim. 2,4). Und diese letzte Spanne Zeit haben wir Christen zu nutzen als „Gottes Mitarbeiter“ (1. Kor. 5, 9), um die Botschaft auszurichten. Dazu bedient sich Gott mittelbar nun auch der Reiche dieser Welt, solange er sie bestehen läßt, und ihr Tun in aller Art von „Politik“ soll im letzten Grunde dazu dienen, den Menschenkindern das Leben und damit die Möglichkeit zu erhalten, daß sie die Botschaft zu ihrer Rettung hören können. Gott ist es nicht darum zu tun, die Reiche dieser Welt zu erhalten oder irgend etwas von ihren vermeintlichen Errungenschaften; Gott geht es nur um die Menschen: die will er retten und hinüberretten in seine neue Schöpfung; deshalb machte er sich selbst als Mensch zu uns auf, starb als Mensch unsern Tod und schenkte uns durch seine Vergebung den neuen Anfang und das neue Leben. — Von daher haben wir Christen auch einen Auftrag an die Mächte dieser Welt, daß wir sie nämlich daran erinnern, daß sie nach Gottes Willen dazu da sind und darum erhalten werden, damit sie ihren Dienst für die Menschen tun; und von daher hat der Christ die Möglichkeit und gegebenenfalls die Pflicht, selber in den „Reichen dieser Welt“ und in ihren Aufgaben tätig zu werden. —
Indem wir nämlich glaubend die Vergebung Gottes um Christi willen annehmen, wird nicht nur unser Verhältnis zu Gott grundlegend umgewandelt, sondern zugleich unser Verhältnis zu den Menschen, zu allen Menschen, zu Freund und Feind, zu Guten und Bösen, zu Gerechten und Ungerechten. Wir können ja gar nicht glauben, daß Gott uns Vergebung gewährt, wenn wir nicht glauben, daß dies Angebot wahrhaftig allen gilt. So wird uns im Glauben jeder Mensch zum „Bruder, um deswillen Christus gestorben ist“ (1. Kor. 8, 11); so wird jeder Mensch in seiner Not unser Herr, der Anspruch hat auf unsern Dienst, ja: in dem Jesus Christus selber unsern Dienst und unsere Hilfe fordert. Wir können ihm gar nicht anders dienen als eben in dem Menschenbruder, der unseres Dienstes und Beistandes bedarf — und zwar in den irdisch-zeitlichen, alltäglichen Nöten dieses ver-[226]gänglichen Lebens in der Welt. „Ich bin hungrig gewesen und ihr habt mich gespeist; ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich getränkt“ (Matth. 25, 35). Wo der Menschenbruder hier — inmitten der Reiche dieser Welt — leidet, da erweist es sich, ob wir glauben oder nicht glauben, da entscheidet sich unser ewiges Geschick; denn „wer seinen Bruder nicht liebt, der bleibt im Tode“ (1. Joh. 3, 14). Wo also Menschen leiden, da erwächst dem Glauben eine absolute Verpflichtung; denn hier leidet Christus, und hier erweist sich der Glaube als Glaube, indem er liebt, und „die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung“ (Römer 13, 10). Damit stehen wir an der Stelle, wo der Christ, jeder Christ, an dem Geschehen in der Welt, in der wir leben, mitverantwortlich wird und wo er sich schlechterdings nicht als desinteressiert erklären kann. Wo Menschenkinder Hunger oder Durst leiden, wo sie Kleidung oder Obdach nötig haben, wo sie krank oder gefangen sind, wo sie unter ihrer Last seufzen, schreien oder stumm verzweifeln, da ist der Christenmensch um seines Glaubens willen gefordert, und zwar ganz gefordert mit allem, was ihm an Kräften und an Möglichkeiten zu Gebote steht. Da kann er sich nicht mehr auf seine christliche Überzeugung oder auf sein gutes und mitfühlendes Herz hinausreden, und da hilft ihm kein „Herr, Herr sagen“ (Matth. 7, 21) mehr. Da sind wir mit einem Schlage in der Praxis, ja mitten in der sogenannten „Politik“, in der Staatspolitik, in der Wirtschaftspolitik, in der Sozialpolitik. Und nun ist es nicht mehr genug, daß wir andere — etwa die zuständigen Stellen — auf die menschliche Not, die vor unsern Augen auf gebrochen ist, als auf ihre Verantwortung hinweisen; sondern jetzt haben wir selber Hand anzulegen und zwar ganz unmittelbar um Jesu Christi, um unseres Glaubens willen. —
Sie erwarten an diesem Abend von mir eine Erklärung darüber, weshalb ich mich als Mann der Kirche seit über zwei Jahren mit lauter Stimme in meiner Heimat zu einer so hochpolitischen Frage, wie es die Wiederbewaffnung in Westdeutschland ist, geäußert habe. Vielleicht vermuten Sie dahinter eine grundsätzlich pazifistische Einstellung; aber das wäre eine völlig irrige Vermutung, obwohl mich oft die Frage bewegt, ob wir Christen nicht viel ernster hinhören müßten, wenn wir vor dem Gedanken an Vergeltung und [227] Gewaltanwendung gewarnt werden: „Wisset ihr nicht, wes Geistes Kinder ihr seid?!“ (Luk. 9, 55). Doch wir sind auch da nicht unter dem Gesetz des Buchstabens, sondern unter dem alleinigen Gesetz, dessen Erfüllung Liebe heißt. Und deshalb glaube ich an kein Prinzip, sondern allein an die Möglichkeit christlicher Entscheidung aus der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist. — Vielleicht vermuten Sie dahinter sogar Schlimmeres, nämlich ein nationalistisches Interesse an der Wiedervereinigung des deutschen Volkes und an der Wiederaufrichtung des deutschen Reiches. An letzterem bin ich gar nicht interessiert und an ersterem nicht um der Wiedervereinigung als solcher willen, weil ich längst der Meinung bin, daß unsere Grenzen nicht neu aufgebaut, sondern abgebaut werden sollten. Doch auch das ist hier uninteressant. — Wenn ich mich gegen die Bewaffnung deutscher Menschen — übrigens in West und Ost — so nachdrücklich und anhaltend ausgesprochen habe, dann deshalb und deshalb allein, weil ich an die Menschen denke und weil ich nach dem Maß meiner Erkenntnis von solcher Wiederbewaffnung zwar für keinen Menschen eine Hilfe und Linderung seiner Not glaube erhoffen zu dürfen, wohl aber für zahllose Menschen neue Lasten und neue Leiden meine befürchten zu müssen. Ich habe ein unruhiges Gewissen — das darf ich hier wohl noch sagen, ohne damit in Einzelheiten gehen zu wollen —, ein unruhiges Gewissen im Blick auf jene 18 Millionen deutscher Menschen, die hinter dem sogenannten Eisernen Vorhang ihrem Schicksal überlassen sind und die seit sieben Jahren die ganze Last tragen und bezahlen müssen. Und leider werden sie auch im Falle einer Wiederbewaffnung in Deutschland die eigentliche und größere Last zu tragen bekommen. Einer muß wohl davon sprechen, wenn sich sonst niemand zum Mund der Stummen macht; einer muß wohl warnen, solange die Entscheidung noch nicht gefallen ist. Das habe ich getan, und das halte ich bis zu dieser Stunde für meine Christenpflicht, wie denn die Evangelische Kirche in Deutschland nicht müde geworden ist, die Mächtigen dieser Welt zu bitten, sie möchten sich um eine friedliche Verständigung und um eine gewaltlose Lösung dieser Schwierigkeiten auf dem Verhandlungswege bemühen. Und einen zweiten Grund für meine Haltung darf ich auch noch anführen; auch dieser Grund hat [228] es mit den Menschen und mit meiner christlichen Verantwortung, wie ich sie sehen muß, zu tun: Es ist die Sorge darum, daß wir wieder einmal in die Versuchung geführt werden — und wie viele Menschen unseres deutschen Volkes sind immer noch oder schon wieder für diese Versuchung anfällig! —, daß wir in das furchtbare Freund-Feind-Denken zurückfallen und es wieder als selbstverständlich betrachten, daß es dem Feinde gegenüber nichts anderes als das Schwert gäbe. Und wenn wir als Christen uns zu sorgen haben um alle diejenigen, die Unrecht leiden, müssen uns nicht erst recht diejenigen an unsere Verantwortung gemahnen, die wir vielleicht in die Versuchung führen, Unrecht zu tun?! — Dies sind die beiden Fragen, in denen ich mich heute und durch die gegenwärtigen Weltverhältnisse als Christ nach meiner Verantwortung, nach meiner politischen Verantwortung gefragt sehe. — Ich könnte fortfahren und auf das Gebiet der Sozialpolitik hinüberleiten; wir haben ja neun Millionen Heimatvertriebene in Westdeutschland leben: neun Millionen Menschen, die alles verloren haben, Heimat und Eigentum. Und was ist in diesen sechs Jahren aus ihnen geworden? „Ich bin ein Gast gewesen, und ihr habt mich nicht beherbergt. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich nicht gekleidet!“ — Ist unsere christliche Verantwortung dadurch etwa geringer geworden, weil es so viele sind; oder wird unsere Verantwortung dadurch nicht noch größer und schwerer: Neun Millionen Menschen, und für jeden von ihnen ist der Sohn Gottes als Bruder in den Tod gegangen?! — Ich bin nicht des Glaubens, daß unsere christliche Verantwortung dadurch geringer wird, daß wir sie anderen überlassen!
Wir können unser Christenleben nirgendwo anders leben als in dieser gegenwärtigen Welt; und hier stellen wir Christen uns unsere Aufgaben nicht selber: sie werden uns gestellt von ihm, der unser Herr und Bruder ist; und es steht bei ihm, wo er uns in der Hülle menschlicher Not fragend und fordernd begegnen will. Und wo immer das geschieht, da kommt es an den Tag, ob wir, die wir hier „noch im Leibe leben“, im Glauben hindurchgegangen sind durch die enge Pforte der Vergebung in das „Reich Gottes“, ob wir ihn in dem Menschenbruder mit seiner Not als unsern Herrn erkennen und anerkennen.
Vortrag gehalten in Genf am 24. 11. 1952.
Quelle: Martin Niemöller, Reden 1945-1954, Darmstadt: Stimme-Verlag 1958, S. 219-228.