Als Martin Niemöller 1938 im Konzentrationslager Sachenshausen in Isolationshaft genommen wurde und vom Evangelischen Oberkirchenrat (EOK) seine Entfernung von der Pfarrstelle in Berlin-Dahlem betrieben wurde, setzte sich Niemöller intensiv mit der Lehrautorität der evangelischen Landeskirchen auseinander. Zwei Papier aus dem Frühjahr bzw. Sommer 1939 ließ er seinem Bruder Wilhelm in Bielefeld zukommen, in denen er sich der römisch-katholischen Lehre von der Kirche annähert:
Gedanken zu dem Thema: Evangelisch oder Katholisch?
Von Martin Niemöller
I.
Worin besteht eigentlich der Unterschied? Der Durchschnittsmensch von heute — wenn er »gebildet« ist —wird sagen: Autoritär gebundener »Dogmenglaube« dort — und »Gewissensfreiheit« bei uns. — Was der Ungebildete sagen wird, wollen wir später sehen. — Was ist nun von dieser Behauptung zu halten? (der »wissenschaftliche« Ausdruck heißt ja wohl »Heteronomie« und »Autonomie« in Sachen des Glaubens.)
Historisch ist dazu zu sagen: Eine »Autonomie« im Sinne der franz. Aufklärung gibt es weder bei Luther noch bei sonst einem der Reformatoren, natürlich erst recht nicht in einer der reformatorischen »Bekenntnisschriften«. Luther beruft sich in Worms ausdrücklich auf sein »in Gottes Wort gebundenes« Gewissen. Er ist nie der Meinung gewesen, der Mensch könne aus sich — autonom — die Wahrheit seines Lebens als eines Lebens unter und vor Gott finden, sondern er weiß sich in diesem Streben vollkommen von einer Autorität abhängig: Gott muß sich zu erkennen geben, wenn ich ihn soll erkennen können. Keine irgendwie geartete »Freiheit« setzt mich in die Lage, mir etwas zu verschaffen, was Gott nicht gibt; die unter den Reformatoren nicht ausgekämpfte Frage blieb nur die, ob der Mensch die »Freiheit« hat, etwas von sich abzuweisen, was Gott ihm geben will (praedestinatio duplex oder simplex oder wie man das immer nennen mag!). Die »Heteronomie« als »Theonomie« gegenüber allen »Autonomie« — Ansprüchen des Menschen ist also bei den Reformatoren gerade stärker betont als im Lehrsystem der Katholischen Kirche, die gegenüber der reformatorischen Erbsündentheorie gerade die »Willensfreiheit« als unveräußerliches Naturgut des Menschen verteidigte. — Stellen wir also zunächst fest, daß es nach evangelischer Lehre keine Autonomie des Menschen in Glaubensdingen gibt, da aller Glaube auf dem objektiv gegebenen und allein autoritären »Wort Gottes« beruht. Nimmt man dieses eine autoritäre »Dogma« der evangelischen »Kirche« fort, so bleibt überhaupt nichts Einigendes, nichts Verbindendes übrig, wie die Geschichte bis in diese Tage mit Deutlichkeit erweist: Es gibt keine evangelische Kirche, es gibt keine evangelischen Christen, es gibt nur eine protestantische Zweckgemeinschaft mit ständig wechselnden Interessen, die auf dem Gebiet der Politik (Heckel[1]), der Philosophie (Hirsch[2]), der Wirtschaft oder sonstwo [450] liegen mögen. — Man wird sagen müssen: Der reformatorische Glaube ist Dogmenglaube par excellence, indem er sich auf das eine Dogma von dem einen, unveränderlich für alle Zeiten gegebenen Gotteswort der Bibel stützt. Fällt der Glaube an dies Dogma, bleibt nur noch eine hohle Schale ohne Inhalt. —
Was hat es nun mit der »Glaubens-« oder »Gewissensfreiheit« auf sich?
Hierbei handelt es sich lediglich um eine Frage der seelsorgerlichen Methode. In Glaubensdingen — so meint es Luther — darf kein menschlicher Zwang auf das Gewissen des andern ausgeübt werden, weil hier nur die eigene Überzeugung gilt. Es ist also verwerflich, durch Aussicht auf Lohn zu locken oder durch Aussicht auf Strafe zu drohen? Aber auch das ist schon zuviel gesagt. »Gottes Wort« selber lockt ja durch Aussicht auf zeitlichen wie ewigen Lohn; »Gottes Wort« selber droht ja mit zeitlichen und ewigen Strafen. — Es soll sich nur nicht der Mensch oder eine menschliche Gemeinschaft das Recht nehmen, von sich aus und für ihn gut scheinende Zwecke diese Vollmacht des »göttlichen Wortes« in Anspruch zu nehmen. Diese Forderung wird keineswegs von allen »Reformatoren« erhoben; aber Grundsatz der Reformation wird es je länger desto klarer: In Glaubensdingen soll keine andere Autorität als die des »Wortes Gottes« zur Wirkung gebracht werden; ob einer es darauf wagen kann und will, ist eine Entscheidung, die ihm allein obliegt, und jeder menschliche Eingriff in diese Entscheidung ist verwerflich.
Man kann fragen, wie denn noch die Kindertaufe und die »christliche Erziehung« zu rechtfertigen seien; man kann darauf auch nur antworten, wenn man die übergeordnete Autorität des »Wortes Gottes« festhält, die eben durch ihre starke einseitige Bindung alle anderen Bindungen und Autoritäten auflöst. —
So konnte es schon zu dem Mißverständnis kommen, die Reformation fordere die religiös-ethische Autonomie und löse alle dogmatischen Bindungen. Aber da der Mensch selbst im Durchschnitt keine religiöse Schöpferphantasie entwickelt, waren die Wege [frei] für neue Autoritäten, die je nach den Umständen größere oder kleinere Einflußsphären in der »evangelischen Christenheit« besetzten.
Die erste neue Autorität war wohl die Bibel als Buch oder als »papierner Papst«. — Machte z. B. Luther einen deutlichen, wenn auch schwer zu verdeutlichenden Unterschied zwischen »Wort Gottes« und »Bibel«, so mußte praktisch dieser Unterschied schwinden, weil er dem einfältigen Gemüt nicht klarzumachen war. Die »Verbalinspiration« mußte helfen. Und diese Autorität gilt ja heute noch bei weitaus den meisten Angehörigen der evangelischen Kirchen, die als »Stille im Lande« Christen geblieben sind.
Eine weitere Autorität, die sich nun erhob, waren jene Abschnitte aus der Bibel, die den sonntäglichen Predigten zugrundegelegt wurden — die »Perikopen« und mehr noch als die Abschnitte selbst eher ihre predigtmäßige Auslegung, [451] die durch 400 Jahre d.h. von Luthers Tagen bis heute trotz aller »Strömungen« erstaunlich gleichartig geblieben ist. Diese Auslegungen sind für den Teil der evangelischen Christenheit, die wir »Kirchliche Kreise« nennen, geradezu an die Stelle der Bibel getreten. Außer den »Perikopen« und gewissen Reminiszenzen an den Religionsunterricht der Jugendzeit wissen unsere »Kirchlichen Kreise« von der Bibel oder etwaigen anderen Grundlagen unseres christlichen Glaubens nichts.
Die Autorität, die sich aber mit größtem und ständig wachsendem Erfolge in den Vordergrund zu schieben verstand, war die weltliche Macht. War sie zunächst die materielle Nutznießerin der Reformation durch die Vereinnahmung der Kirchengüter geworden in einer Entwicklung, die z. B. Luther mit Wohlwollen erst, dann mit Schrecken, endlich mit Zorn und Wut begleitete, weil die weltlichen Stände gar nicht daran dachten, diese Güter bestimmungsgemäß zu verwenden —, so wurden je länger je mehr die weltlichen Gewalten auch Nutznießer der geistigen Emanzipation. — Rom und sein Klerus fallen als Vormünder aus, die evangelische Kirchliche Organisation bleibt in den Anfängen und Schwierigkeiten des Neubaus stecken; ohne Vormünder und Autorität kann die Menge der getauften Christen aber nicht bleiben: es ergibt sich — wie von selbst — das landesherrliche Kirchenregiment. — Die Entwicklung geht geradlinig bis zur Gegenwart: »Thron und Altar« heißt die Parole. — »Gottes Wort«, »Bibel«, »Predigt« sind gut für Kaisersgeburtstagsfeiern pp. im Frieden und für Feldgottesdienste und feierliche Begräbnisse im Kriege. Von christlichem Urbestand ist bei diesen »Kirchenfreundlichen Kreisen« (»natürlich bin ich kein Kirchgänger — aber: dem Volke muß die ›Religion‹ erhalten werden«) nichts mehr übrig geblieben als die Redensart: »Mit Gott für König und Vaterland! «
Neben diesen drei Strömungen, die für die Entwicklung der evangelischen »Kirche« noch immer irgendwie »positiv« gewertet werden wollten, kam dann noch die Fülle liberaler, individualistischer Wege, die von einzelnen und ihrem kleineren oder größeren Anhang eingeschlagen wurden und von denen keiner mehr heimkehrte. Hier bot sich die erforderliche Autorität in irgendeinem philosophischen System, in irgendeiner neueren oder älteren idealistischen Weltanschauung. Keine Christen mehr, auch keine »kirchlichen« oder auch nur »kirchenfreundlichen« Kreise; nur noch »Protestanten«, »Freunde der evangelischen Freiheit«, die mit dem Grundsatz »Religion ist Privatsache« — ob politische Marxisten oder politische Konservative — der Loslösung unseres Volkes vom Christentum die Bahn mit Energie freimachten: Jede Religion — oder auch keine Religion — ist uns recht, wenn wir mit ihr unseren Zielen ein Stück näher kommen. Auf Grund dieser summarischen Übersicht mag es deut-[452] lich werden, daß christlicher Glaube als lebenstragende und lebensgestaltende Kraft nur in wenigen kleinen Kreisen der sog. evangelischen Christenheit vorhanden sein kann, weil die große Menge der Getauften seit Jahrhunderten geistlich unterernährt dahinlebt. Nehmen wir das Gebet als notwendige Lebensäußerung des Glaubens, so dürfen wir annehmen, daß nur ein kleiner Bruchteil der sonntäglichen Kirchenbesucher betet! Schon für Luther (Tischreden) war diese Feststellung und Vorstellung eine quälende Pein. —
Es ist so, als wäre dem evangelischen Teil der Christenheit von Anfang an das zum Leben notwendige Licht vorenthalten worden, obgleich die Meinung der Reformatoren gerade die war, sie hätten das lebenspendende »Evangelium« wieder zum Leuchten gebracht. —
Wie steht es nun mit den lebenzeugenden Kräften für die evangelische Christenheit? Wir haben sie, so lehrt die Reformation aller Schattierungen, in der Heiligen Schrift alten und neuen Testaments. Jede andere Autorität (päpstliche Dekrete, Kanones, Synodalbeschlüsse der Konzilien, mit einem Wort: die »Tradition«) wird abgelehnt als fehlsam. — Aber auch die Bibel gilt nur (nach Luther), soweit sie »Christum treibt«. So ordnet z.B. Luther die biblischen Bücher in ihrer Reihen=(Rang=)folge um und scheidet die Apokryphen aus. — So steht vor uns die Frage: Welches sind denn nun die wirklichen »heiligen Schriften«?
Offensichtlich entscheidet darüber das glaubende, an Christus gebundene Einzelgewissen! Jedenfalls ist Luther nach dem Grundsatz verfahren, während die lutherische »Kirche« Luthers Entscheidung — wenn auch nicht irgendwelche Synodalbeschlüsse — als für sich und für die Zukunft bindend anerkannt und postuliert hat. Wir haben hier also eine neue, in evangelischer Grundauffassung nicht begründete »Tradition« vor uns. — Was die Bischöfe und Vertreter der Kirche früher einmal festgesetzt haben, wird als nicht bindend beiseite gesetzt, was die neuen Kirchenlehrer in sehr zweifelhafter Einmütigkeit und oft unter starken politischen Rücksichten (Augsburg 1530) festsetzen, wird als bindend erklärt! — Und was ist die landläufige Kirchliche Predigt anderes als eine tatsächliche neue »Tradition«, denn die »selbständigen« Prediger sind, wie zu allen Zeiten, seltene Ausnahmen. Nur daß die Erzeugnisse dieser selbständigen Geister in der alten Kirche einer erheblichen kirchlichen Kontrolle unterworfen waren, ehe sie zu Bestandteilen der Tradition wurden, während bei uns »Protestanten« alles wild wächst. Und jeder Prediger pflückt sich sein Sträußlein, wie es sein Geschmack ist, ohne viel zu fragen, ob und wie viele Giftblüten dazwischen sein mögen! —
Aber wir müssen noch einen Schritt weitergehen! — Die »Bibel« selbst ist ja ein Produkt der »Tradition«. Der sogenannte »Kanon« war ja nicht auf einmal da, [453] sondern ist geworden. Aus vorhandenen und gerade entstehenden alttestamentlich-israelitisch-jüdischen Schriften und christlichen Schriften haben Kirchenmänner und. Gemeinden eine Auswahl getroffen; man hat darüber gesprochen und verhandelt, welche Schriften als kanonisch anzusehen seien; man hat hin- und hergestritten, bis endlich unser »Kanon« dalag. Wessen Autorität sagt für ihn gut? Wie kommen wir dazu, ihn als gültig anzunehmen, beizubehalten und weiterzugeben? — Ich weiß dafür keine andre Erklärung, als daß die Christenheit eben doch ihrer »Tradition« traut, d.h. sie ist davon überzeugt, daß in diesen den Glauben betreffenden Entscheidungen der Kirche der heilige Geist trotz alles menschlichen Streitens das letzte Wort behält und in puncto »Kanon« auch behalten hat. Die »heilige Schrift« könnte nicht Grundlage der Erkenntnis Gottes sein, wenn nicht die »Kirche«, die die »heilige Schrift« als solche proklamiert hat, schon von der Erkenntnis Gottes geleitet gewesen wäre. »Heilige Schrift« und »Tradition« sind also keine ausschließenden Gegensätze, sondern sie bedingen einander. Wie die »heilige Schrift« ohne eine »lebendige Kirche« tot sein kann (s. die Zeit seit Luther), so kann auch die »Kirche«, nein sie muß ohne die »hl. Schrift« vorübergehend »tot« sein. Denn wie das Wort vom Christus die Kirche begründet, so muß doch dieses Wort von der Kirche verkündet werden! — Und wie das Wort vom Kreuz Grundlage der Kirche bleibt, so bleibt doch zugleich die Kirche »Pfeiler und Grundfeste der Wahrheit« (1. Tim. 2, V. 15). Das »Wort« bleibt stumm, es sei denn, die »Kirche« nehme es verkündigend in ihren Mund; die »Kirche« bleibt taub, es sei denn, das »Wort« rede zu ihr.
Versteht man also unter »Tradition« das, was die Kirche sagt und tut und als gültig hinstellt, auf der Grundlage des ihr anvertrauten »Wortes Gottes«, so ist solche »Tradition« nicht nur nicht überflüssig, sondern lebensnotwendig für das Leben der Christenheit. Und die Forderung, daß neben der schriftlichen Überlieferung der hl. Schriften auch die mündlichen Traditionen nicht beiseite geschafft werden dürfen, sofern sie von der schriftl. Tradition nicht widerlegt werden, scheint mir durchaus begründet; wie ich auch nicht zu bezweifeln wage, daß der hörenden und predigenden Kirche die Leitung des Geistes zuteil wird, die »in alle Wahrheit« führen soll. Es ist demnach zweifelhaft, wo der Rückhalt liegen soll für die reformatorische Forderung: Sola scriptura! — Welches ist diese scriptura? Die Bibel mit oder ohne Apokryphen? Die Bibel mit oder ohne Jakobus- und Hebräerbrief, mit oder ohne Apokalypse? — Ohne Anerkennung entweder dieser oder jener Tradition oder Schaffung einer neuen Tradition ist die Frage, was denn »Scriptura« sei, gar nicht zu beantworten. Die gleiche Schwierigkeit ergibt sich für alle anderen reformatorischen Parolen: sola fide z.B.. Ist das die fides in caritate formata, wie die altkirchliche [454] Tradition und in ihrem Gefolge das tridentinische Konzil lehrt oder ist es die fides, die auch von nachfolgenden Werken nichts weiß oder wissen soll, wie reformatorische Traditionen wollen? — Sola gratia: ist das die gratia praeveniens oder die gratia irrestibilis? Welche »Tradition« gilt? — Solus Christus: ist das der Christus der altkirchlichen Tradition, der ernstlich als Lehrer, Sühner und König an uns wirkt, oder ist es der Christus, dessen Amt sich in Kreuz und Auferstehung erschöpft, wie man es aus einem Teil der hl. Schriften als lutherische Tradition behauptet hat? Und wem ist nun bei diesen Differenzen zu glauben? Der Kirche oder den einzelnen Theologen? — Man mag den Grundsatz: Quod semper, quod ubique, quod ab omnibus creditum est — ablehnen; aber daß der Kirche als Gemeinde und nicht jemand einzelnem für sich der hl. Geist verheißen ist, ergibt sich wohl als einhellige biblische Meinung!
Zusammenfassend muß ich also sagen: Wenn wir nicht nur »Protestanten«, sondern »Evangelische Christen« sein wollen, so wird uns eine dogmatische Bindung an menschliche Entscheidungen in Gestalt der »Tradition« zugemutet, die erheblich drückender werden kann als die dogmatische Bindung an die Kirchlichen Entscheidungen in Gestalt der katholischen »Tradition«. Von »Autonomie« kann beide Male keine Rede sein; wir stehen unter dem Gesetz der Offenbarung Gottes an uns in Christus, die durch die Kirche als Zeugnis zu uns kommt. Dies Zeugnis fragt nach unserm Glauben, um uns zu erfüllen und unser Leben zu gestalten. Welchem Zeugnis geben wir nach Prüfung seiner Grundlagen den Vorzug? — Oder dürfen wir noch einen Schritt weiter gehen? Dürfen wir auf Mt. 7, V. 16 verweisen und nach den »Früchten« fragen? Das müßte dann heißen: Wo wird Gottes Wort wirklich als Gottes Wort geehrt? Wo wird seine Gnade fröhlicher geglaubt? Wo wird mit Christus dem Lebendigen gelebt? — Ganz primitiv: Wo wird der Ruf Gottes, den die Kirche ausrichtet, gehört, und wo empfängt er im Gebet sein lebendiges Echo?
Ich bin überzeugt, daß der katholische Christ mehr von der Bibel kennt als der evangelische; ich bin überzeugt, daß sie ihm für sein Leben mehr bedeutet; und ich bin endlich überzeugt, daß er mehr und ernster betet. — Von daher muß ich fragen, ob wir auf dem rechten Weg sind. — Vor 20 Jahren erschienen zwei Schriften; wenn ich nicht irre, lautete der Titel der ersten: »Zurück zur Kirche!« — Sicher lautete die Überschrift der zweiten (ich glaube, der Verfasser war der evang. Theologieprofessor Loofs[3]): »Vorwärts zum Glauben!« — Ob es nicht am Ende so ist, daß beides sich decken wird, daß wir auf dem Weg »vorwärts zum Glauben« »zurück zur Kirche« kommen und auf dem Weg »zurück zur Kirche« »vorwärts zum Glauben« gelangen?! Eine reformatorische »Kirche« hat es ja in der Tat nie gegeben und wir sollten es heute sehen, daß es sie auch nicht geben wird; die Reformation hat bestenfalls in Gemeinden, oft aber nur in [455] Zirkeln und Häusern gelebt. Der Grund dafür war bei näherem Zusehen die Fülle der verschiedenen »Traditionen«. Wenn wir diese Fülle gelten lassen, weshalb sollen wir nicht die eine Tradition der alten Kirche gelten lassen? — Das sind meine Gedanken und Fragen, die nicht von gestern auf heute aufgetaucht sind, sondern mich lange begleiten und mich soweit geführt haben, daß ich — falls mir nicht irgendwie ein Irrweg meiner Gedanken deutlich gemacht wird — mit dem Anschluß an die alte Kirche nicht mehr zögern werde. Dafür und z.T. auch dagegen sprechen natürlich noch viele andre Überlegungen, Erkenntnisse und Zweifel; aber hier sitzt wohl der eigentliche Kernpunkt, auf den ich immer wieder zurückkomme. Deshalb bitte ich, meine Darlegungen zu prüfen und mir eine möglichst grundsätzliche Stellungnahme zukommen zu lassen.
geschrieben im Frühjahr 1939
II.
Seit Jahren macht mir der Begriff »unsichtbare Kirche« zu schaffen; in der Bibel findet sich weder der Name noch die dadurch bezeichnete Sache. Hier ist vielmehr Kirche — Gemeinde — Ekklesia nichts anderes als die communio sanctorum, die Gemeinschaft der Heiligen, d.h. der durchaus »sichtbare« Kreis der Getauften, die z. B. von Paulus als hagioi — sancti — Heilige bezeichnet werden (1. Kor. 1, V. 2). Man wird durch die Taufe darin aufgenommen und verbleibt darin bis zur Auferstehung; in dieser Gemeinschaft gibt es »Tote« (l. Kor. 11, V. 30) — die als Erstorbene sich von der Gemeinschaft getrennt haben; es gibt auch »Ausgestoßene«, die um ihret- wie um der Gemeinschaft willen »hinausgetan« sind als »böse« (l. Kor. 5). Das Letztere hängt wohl mit dem Auftrag Christi zusammen, »Sünden zu behalten« (Mat. 16, V.19, 18 V. 18, Joh. 20, V. 23). — Als Kennzeichen dieser Gemeinschaft »Kirche« mag also objektiv die Taufe und die Communio gelten, welch letztere in der Teilnahme an der »Kommunion«, dem gemeinsamen Gottesdienst ihren Ausdruck findet: Das ist dicht bei dem, was die Augustana über Kirche, Wort Gottes und Sakramente sagt. — Diese Kirche ist aber überdies subjektiv, in ihrem eigenen Bewußtsein nach dem apostolischen Zeugnis »Leib Christi« (l. Kor. 12, V. 27) und »Tempel des hl. Geistes« (l. Kor. 6, V. 19) d. h. ein lebendiger Organismus (den man also nicht durch ein künstliches Gebilde ersetzen kann) und Wirkungsstätte des lebendigen Christus (der hier und offenbar hier allein durch den hl. Geist tätig ist). In diesem Organismus ist der einzelne getaufte Christ ein (gesundes, krankes oder abgestorbenes) Glied, in dem der hl. Geist Leben und Tätigkeit — die Charismata — schafft. So verschieden die Funktionen und [456] Zustände der Glieder sein mögen: Der Leib ist einer, das Haupt ist eins; und so betrüblich der Gesamtzustand zu Zeiten sein mag, dieser eine Leib lebt, weil sein Haupt lebt (Mt. 16): die Pforten der Hölle können nicht dawider an! Die »Kirche« ist also die »Inkarnation« Christi, nicht eine gedachte oder erst hinter der sichtbaren Wirklichkeit zu erahnende Größe, sondern die höchst »reale« und durchaus sichtbare Gegenwart Christi hic et nunc, so real, wie Jesus realer Mensch gewesen ist, so sichtbar, wie er sichtbar durch Palästina gezogen ist. Zugleich aber hat diese Kirche teil an seiner Göttlichkeit als das »Reich Gottes auf Erden«, denn auch von diesem Leib Christi gilt die »Zweinaturenlehre«. Ich verstehe nicht, wie man sich über den Satz: extra ecclesiam nulla salus entsetzen kann, wenn man das Solus Christus bejaht (Mt. 16, V. 16). Wo anders soll uns denn seligmachender Glaube, der doch nach evangelischer Auffassung Gabe des hl. Geistes ist, zuteil werden als eben dort, wo der hl. Geist nach biblischem Zeugnis seine Werkstatt hat, d.h. in der Kirche?! Die Bibel kennt jedenfalls keine andere Weise der Geistesvermittlung als durch die Kirche, nämlich durch die Apostel und Ältesten (Act. 8, V. 17, Act. 19, V. 6, 1. Tim. 4, V. 14), d. h. durch das Amt und die Amtsträger der Kirche! Außerdem noch die Geistes-»Ausgießung« auf die Juden (Act. 2) und Heiden (Act. 10). Diese haben kirchenbegründenden Charakter und sind nicht umsonst einmalig (Act. 11, V. 15). – Da die Geistesmitteilung nur durch »Handauflegung« erfolgt (Act. 19, V. 6), bedeutet diese für die apostolische »Sukzession« eine starke Stütze, denn es ist undenkbar, daß eine leibhaftige und lebendige Kirche neu entstehen sollte, solange die alte lebt und auf der die Verheißung steht. Jedenfalls müßte erst ein neues Wunder der unvermittelten Geistesausgießung stattfinden! Dem widerspricht alles biblische Zeugnis über die Kirche.
Wenn Aug. VII die »reine« Predigt des Evangeliums und die »stiftungsgemäße« Verwaltung der Sakramente als nota der Kirche für genügend hält, so erhebt sich die Frage, wo denn darüber entschieden wird, ob das Evangelium »rein« gepredigt, ob die Sakramente »stiftungsgemäß« verwaltet werden. Es besteht weder über das Evangelium noch über die Sakramente eine allgemein menschliche Übereinstimmung, ja nicht einmal eine allgemein evangelische Übereinstimmung, und die luth. Kirche muß sich praktisch doch wieder selbst zum Schiedsrichter setzen, indem sie dekretiert, was Evangelium ist und welches die Sakramente sind (die alte Kirche sagt über beides etwas Anderes aus!). — Bleiben wir bei der Bibel, so sehen wir, daß dort die Apostel das Recht in Anspruch genommen und ausgeübt haben, über Lehre und Wandel bindende Erklärungen für die Gemeinden abzugeben (Act. 15, 1. Tim. 3, V. 15); sie haben nicht etwa auf die hl. Schriften als einzige Autorität verwiesen — weder für die damalige Gegenwart (trotz Joh. 5, V. 39, 2. Tim. 3, V. 15-17) noch für die [457] Zukunft, sondern sich der Verheißung getröstet, daß der hl. Geist sie leiten werde (Joh. 16, V. 13, Act. 15, V. 28, 1. Kor. 7, V. 40) und daß unter seiner Leitung die Kirche »Pfeiler und Grundfeste der Wahrheit« ist und bleibt, da sie »Gemeinde des lebendigen Gottes« ist (1. Tim. 3, V. 15) und zwar als die sichtbare inkarnierte Kirche (Eph. 5, V. 32), von der allein die Apostel wußten.
Damit komme ich zu einem Zweiten: Bei uns Evangelischen herrscht der Eindruck — und er hat sich in hunderten von »Sekten« praktische Auswirkung verschafft —, daß am Anfang des Christentums mit der »Urgemeinde« ein Musterbild vor uns hingestellt sei, zu dem wir an Hand von Wort und Sakrament freihändig in jeder Generation etwa Parallelen und Kopien schaffen könnten und sollten. Das nennen wir dann »Kirchen«. Diese Auffassung steht in un-versöhnlichem Gegensatz zu der biblischen »Lehre« von der Fleischwerdung Christi in seiner Kirche, von der Kirche als seinem lebendigen Leib, der die Pforten der Hölle (d. h. des Hades, des Todes) überwinden wird. Wir tun so, als ob eine Kirche die andere nach deren Ableben ablösen müsse: »Die Kirche ist tot, es lebe die Kirche!« — Was so zustande kommt, ist aber nie die Kirche Christi, sondern immer ein Zerrbild oder wenigstens nur ein Schatten, dem das eigene Leben fehlt. Wenn der Schatten sich bewegt, so daher, weil wir durch die Taufe und das gepredigte Zeugnis der Schrift — auch ohne es zuzugeben und darum als unvollkommene, geschwächte oder kranke Glieder — in die wahre christliche Kirche, d. h. in die apostolische, katholische, leiblich-reale und lebendige Kirche eingegliedert sind, deren Haupt Christus ist und in der der hl. Geist wirkt.
Diese wirkliche Kirche aber ist keineswegs ein Abklatsch der apostolischen, sondern sie ist diese selbst, jedoch in einem Zustand, der sich gegen die Zeit des Neuen Testaments geändert hat, wie sich der Erwachsene gegenüber dem Knaben verändert, der er war. Die Kirche ist lebendig, d. h. sie wächst. — Das ist hier keine Feststellung einer biologischen Tatsache, sondern es ist das Ernstnehmen und Erkennen der Verheißung (Joh. 16, V. 13): »Er wird euch in alle Wahrheit leiten«. Christus bleibt derselbe (Hebr. 13, V. 8), aber seine Kirche erfährt im Wachstum seiner Erkenntnis, die »stückweise« ist (1.Kor. 13), aber fortschreiten soll und fortschreiten muß (Eph. 2, V. 21, 4, V. 15, Hebr. 6) zum vollen Maß des Alters Christi (Eph. 4, V. 13). Und dazu ist das Amt in der Kirche von Christus gesetzt (ganz deutlich Eph. 4, V. 11-13). Die Gnade und Wahrheit »ist durch Jesus Christus geworden« (Joh. 1, V. 17). Diese Tatsache bleibt; was aber daraus für die Kirche erkennbar wird, das wächst auch über das bibl. Zeugnis hinaus unter dem Wirken des hl. Geistes (Joh. 16, V. 14). Es geht hier »von einer Klarheit zur andern« (2. Kor. 3, V. 18) »als vom Herrn, der der Geist ist«. — Die Offenbarung ist in Christus ganz da; aber es wird davon [458] immer etwas mehr »offenbart«, und Stätte dieser fortwirkenden Offenbarung ist die Kirche, die »lebendige Kirche« (was nichts mit Interesse, Betrieb pp. zu tun hat, sondern hier heißt das »Leben« Gegenwart des lebendigen Christus)!
So kommt es, daß die Lehre der Kirche über das, was man allenfalls »Lehre der Bibel« nennen könnte, weit hinaus wächst. In der Bibel gibt es jedenfalls kein unmißverständliches Lehrwort über die »Dreieinigkeit« oder über die »Zweinaturenlehre« — um nur diese zu nennen. Wenn diese Lehren später Kirchlicher Konzilien auch im Luthertum anerkannt wurden, so ist damit zugegeben, daß der hl. Geist die Kirche über die hl. Schrift hinaus mit Autorität ausgestattet hat; man könnte nämlich — außerhalb der Kirche — mit Schriftgründen auch gegen diese »Dogmen« argumentieren. Hier ist also kirchliche Tradition anerkannt! Und es ist damit zugegeben, daß Judas V. 3 und Hebr 1, V. 2 nicht bedeutet, daß die Glaubenserkenntnisse mit dem, was eindeutig in der Bibel steht, endgültig abgeschlossen sind. Die Kirche hat also unzweifelhaft ein autoritäres Lehramt, das unter der Leitung des hl. Geistes steht und so zu neuen, die Kirche bindenden Erkenntnissen gelangt. Gibt es Kennzeichen (notae) für dieses Lehramt oder gilt hier ein »allgemeines Priestertum«? Offenbar ist z. B. das Augsb. Bekenntnis eine ähnliche, autoritative Lehräußerung der luth. Kirche und nicht von einem erkennbaren Lehramt, sondern von freien Mitarbeitern geschaffen worden. Es beansprucht aber gleiche oder doch eine ähnliche Autorität wie das Nicänische Glaubensbekenntnis. — Ähnliche Vorgänge und Ansprüche finden wir bei den übrigen nicht-katholischen »Kirchen«-Gebilden. — Jeder behauptet, den echten Ring zu haben! Aber einer nur kann der echte sein — oder keiner! — Denn Christus hat eine Kirche gegründet, wie er einer ist; welche ist mit dieser identisch? Christus hat ein Apostolat gesetzt, wo ist es zu finden? — Hier habe ich zunächst auf Gal. 2, V. 2 zu verweisen: Paulus sucht die Übereinstimmung in Bezug auf das Evangelium mit den Säulenaposteln unter besonderer Erwähnung des Petrus! Er fürchtet sonst »vergeblich gelaufen zu sein«, d. h. umsonst gearbeitet zu haben! — Es darf auch nicht vergessen werden, daß neben Mt. 18, V. 18 noch Mt. 16, V. 19 steht und daß Lk. 22, V. 32 ebenso deutlich auf das besondere, für die übrigen stellvertretende Amt des Petrus weist. Außerdem hier: »Daß dein Glaube nicht aufhöre«. Es ist also gut biblisch, wenn sich die Kirche »apostolisch« nennt und auf die wesenhafte Verbindung mit den Aposteln Wert legt bzw. mit Petrus als dem Primus apostolorum. — Dem entspricht der Wert, den die erste Hälfte der Apostelgeschichte auf das Wirken des Petrus legt! — In der lutherischen Kirche haben wir das Amt nur als Auftrag, der »ordnungsgemäß« — rite — erteilt sein muß um der Ordnung willen. Worin dies »rite« besteht, ist nebelhaft bzw. in das Belieben der Kirchengesellschaft oder der Gemeinde gestellt. In der Apostelgeschichte [459] lesen wir von der Amtsübertragung an die Diakone (Act. 6, V. 6) und an die Missionare (Act. 13, V. 3), sowie von der Bestellung von Ältesten — presbyteroi — in den cilicischen Gemeinden (Act. 14, V. 23). Die Amtsübertragung erfolgt durch die Apostel bzw. Lehrer unter Handauflegung, die Ältesten werden den Gemeinden von den Aposteln geordnet. — Mit dieser Übung findet offenbar eine besondere Geistesbegabung bei der Handauflegung statt. Daher die Mahnung an Timotheus: »Daß du erweckest die Gabe Gottes, die in Dir ist durch die Auflegung meiner Hände« (2. Tim. 1, V. 6) und die Warnung, »die Hände niemand zu bald aufzulegen« (1. Tim. 5, V. 22). Vgl. auch die Aufgabe des Titus in Kreta (Tit. 1, V. 5), Älteste in den Städten einzusetzen. Zur besonderen Geistesausrüstung der Amtsträger vgl. Act. 20, V. 28: »der hl. Geist setzt zu Bischöfen«. Das Amt ist also ein Erzeugnis der lebendigen Kirche oder besser des in ihr wirkenden hl. Geistes; und von dieser Wirkung gilt »durch die Auflegung meiner (des Apostels) Hände«. — Ich sehe nicht, wie man von der Bibel her an der apostolischen Sukzession vorbeikommen will, man bestreite denn die Realität der Kirche und die Wahrheit des Wortes Jesu über sie! — Hier geht es doch nach Lk. 10, V. 16: »Wer euch hört, der hört mich!« — und nach Joh. 14, V. 16: »Daß er bei euch bleibe ewiglich«. Dies Argument für die Autorität der kirchl. Lehre pp. oder des Amtes scheint mir unwiderleglich. — Dazu kommen ja andere: »quod semper … ab omnibus credita est« — Dieser Grundsatz (des Vincenz v. Lérins) würde die Lehre der Kirche doch irgendwie den Historikern ausliefern. — Wesentlicher dürfte sein die »Beweisung des Geistes und der Kraft« (1. Kor. 2, V. 4), die aber nur für den Glauben zwingend ist, der diesen Erweis schauen kann (Eph. 1, V. 17-19). Jedenfalls sorgt das Amt der Apostel schon in biblischer Zeit für Einheit in Lehre, Leben und Ordnung der Kirche, d. h. ihrer einzelnen Gemeinden und untereinander (l. Kor. 11, V. 16, Act. 15, Tit. 1, V. 5 u. a.). — Die Geschichte der evangelischen Christenheit beweist heute, daß allein durch Wort und Sakrament ein leibliches, d. h. einheitliches kirchliches Gebilde nicht entstehen kann, sondern daß die Einheit in Predigt und Sakramentsübung von Schritt zu Schritt neue Bindungen von größerer oder geringerer Wichtigkeit nötig macht. Kommen sie nicht zustande, so zerfällt das Ganze, wie es heute am Tage ist! Die Augustana versucht eben, an die Stelle der realen — wenn auch in schlechtem Zustand befindlichen — (wahren) Kirche, eine spiritualisierte — und darum idealisierte — (Schein-)Kirche zu setzen; doch es gilt auch hier: »Die göttliche Schwachheit ist stärker als die Menschen sind«. — Es ringt etwas Totes mit etwas Lebendigem! — Aber die wirkliche Kirche ist auch die wahre, und auch in der Schwachheit lebendig-bleibende: denn hier tut der lebendige Gott sein Werk (Mt. 16)!
[572] Martin Niemöller (1892-1984), 1931 Pfarrer in Berlin-Dahlem, gründete 1933 den Pfarrernotbund, aus dem 1934 die Bekennende Kirche hervorging, 1937 verhaftet und bis 1945 u. a. im KZ Sachsenhausen und Dachau. Die Aufzeichnungen entstanden im KZ Sachsenhausen, der erste Teil im Frühjahr, der zweite wohl im Sommer 1939. Dazu schreibt uns Niemöllers Sohn Heinz Hermann: »Diese Beiträge wurden zunächst an den Bruder meines Vaters geschickt, den Pfarrer Wilhelm Niemöller in Bielefeld, offenbar in der Hoffnung, daß sich auf diesem Wege eine theologische Diskussion über die behandelten Fragen einleiten ließe. In begrenztem Umfange ist das auch geschehen. Die protestantischen Gegenpositionen wurden in einer Reihe von Briefen dargelegt, die meine Mutter an ihren Mann Martin schrieb und die ich 1984 (bald nach Vaters Tod) in einer Pappschachtel im Keller des Hauses Brentanostraße 3 in Wiesbaden gefunden habe. Diese in die Privatbriefe meiner Mutter eingeschobenen theologischen Diskurse stammten (nach meiner eigenen verläßlichen Kenntnis) von Hans Asmussen. Sie befinden sich im Archiv der Ev. Kirche von Hessen-Nassau in Darmstadt. Sie sind bisher nicht veröffentlicht. […] Mein Vater [hat] auf Anraten seiner Freunde seine Konversionsabsichten — nach langem Hin und Her — im Jahre 1941 aufgegeben, nachdem er im Zuge seiner Verlegung nach Dachau mit zwei, später mit drei katholischen Geistlichen zusammengeschlossen wurde.«
Wir danken Heinz Hermann Niemöller für die freundliche Genehmigung zum Abdruck dieser Dokumente aus dem Nachlaß Martin Niemöllers.
Quelle: Sinn und Form 53 (2001), Heft 4, S. 449-459.572.
[1] D. Theodor Heckel (1894-1967), Leiter des kirchlichen Außenamtes der Deutschen Evangelischen Kirche von 1934 bis 1945, stand der Bewegung »Deutsche Christen« nahe und betrieb die Auslandsarbeit der evangelischen Kirche in enger Abstimmung mit der Außenpolitik der nationalsozialistischen Reichsregierung. Dadurch wurde er zum erbitterten Feind von Dietrich Bonhoeffer, dessen ökumenische Kontakte er mit allen Mitteln zu behindern versuchte.
[2] Theologieprofessor Emanuel Hirsch, geb. 1888, Vertreter der liberalen theologischen Richtung, schloß sich frühzeitig den »Deutschen Christen« an, die das Christentum in Deutschland mit den Prinzipien der nationalsozialistischen Weltanschauung in Einklang bringen wollten.
[3] Friedrich Loofs (1858-1928), Professor für evangelische Theologie in Leipzig und Halle.