
Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz. Predigt über Psalm 51,12-13
Von Hans Joachim Iwand
Psalm 51,12-13: Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen, gewissen Geist. Verwirf mich nicht von deinem Angesicht und nimm deinen heiligen Geist nicht von mir.
Mitten unter all denen, die je und je zu Gott gerufen haben, steht hier einer, der bittet: Schaff in mir, Gott, ein reines Herz! Was für Gebete sind zum Himmel gestiegen, steigen dorthin empor, Gebet um Heil und Wohlergehen, um ein ruhiges Leben, um Glück und Reichtum, um Erkenntnis und Freiheit. Wenn wir alle einmal das Ohr an das Herz der Menschheit legen könnten, um zu hören, was von dort zum Himmel schreit, wieviel Begierde, wieviel Verzweiflung! Und wir brauchen dazu nicht unser Ohr nach draußen zu richten, nicht jene Stimmen zu erlauschen, die dort zu vernehmen waren oder sind, wir hören ein wenig von der Vielfalt solcher Stimmen, wenn wir bei uns selbst einkehren. Was für Wünsche, was für Hoffnungen — aber auch was für Klage der Not und Verzweiflung steigt von da auf! Und wenn gar nichts mehr zu vernehmen ist, kein Rufen, kein Bitten, kein Verlangen, aber auch kein Fluchen, kein Hoffen, aber auch kein Verzweifeln, dann wissen wir es wohl: hier ist der Tod eingezogen. Hier ist alles still und leer geworden. Hier hat ein Herz es endgültig aufgegeben, sich noch rufend, bittend, flehend, vielleicht auch klagend und anklagend, murrend und hadernd an den zu wenden, auf den hin es geschaffen ist. Hier ist alles leer. Ach, meine Freunde, wir kennen doch wohl etwas davon und wenn wir noch am Anfang des ganzen Lebensweges stehen, so kennen wir es wie ein junger Krieger, der doch schon etwas ahnt von dem Grauen des Schlachtfeldes, das er betreten hat, der sieht, wie sie da liegen, die Erschlagenen, die innerlich Toten, die nicht mehr reden, beten, flehen, rufen — zu ihrem Gott. Und laßt mich darum eins am Anfang sagen: Schlimmer als alles Hadern, schlimmer als alles Fragen und Zweifeln, schlimmer als das lauteste und furchtbarste Nein ist eben doch dieses gänzliche Verstummen, dieses: wenn unser Herz wird wie eine klingende Schelle und ein tönendes Erz!
Aber wie es auch sei, dieses Gebet: Schaff in mir, Gott, ein reines Herz — geht auch daran nicht vorüber! Es geht auch an dem in seinem Grabe liegenden, dem der Verwesung preisgegebenen Menschen nicht vorüber! Es bezieht auch ihn ein. Es sagt nicht: Dieser Fall ist hoffnungslos. Es macht nicht eine Teilung zwischen den Lebenden, Suchenden, nach Gott noch immerhin Fragenden, um ihn Kreisenden, darum Wissenden — und jenen Anderen, den Verlorenen, Toten, Leeren, den Kalten und Rohen. Es ist selbst so tief hinabgestiegen, es weiß soviel von dem, was Sünde heißt, daß es wirklich aus der Tiefe, aus der letzten Tiefe ruft. Wir werden vielleicht fragen: Welcher Tote kann denn rufen? Welcher Erstorbene kann denn an die Mauern seines Grabes klopfen? Und doch — so würde ich sagen — müssen wir die Stimme, die wir hören, von dort her vernehmen, aus dieser äußersten, letzten Tiefe. Schaff in mir Gott ein reines Herz! So aus dem Nichts heraus, wie du die Welt und alles was ist, aus dem Nichts heraus geschaffen, hast. Es ist wirklich nicht mehr da, als eine vertrocknete Scherbe, als ein harter Stein, und ein durch nichts mehr zu erweichendes Etwas, das nenne ich die Mitte meines Lebens! Es geht wirklich in diesem Gebet um so etwas Ähnliches, wie um eine Auferstehung von den Toten! Das müßte geschehen, wenn mir geholfen werden könnte.
Ach, meine Freunde, daß wir uns nie bis an dieses Äußerste wagen! Daß wir immer noch meinen, es gehe nicht ums Schaffen, sondern nur um das Wiederherstellen, um das Aufrichten, um ein bißchen Zufuhr an Kraft, an Gnade, an Erkenntnis, an Zucht, an Freude. Nein, diese Stimme, die da in uns einbricht, in die Mitte unseres Lebens einbricht, sagt: Schaffe! Und damit spricht sie zugleich ein Urteil nicht über das, was wir sind, sondern auch über das andere, was wir vermögen. Es ist eine wunderbare, eine neue, eine so ganz und gar nicht aus uns und unserer Selbstbeobachtung, aus unserer Buße und Beichte sich erhebende Stimme. Es ist eine fremde Stimme, die aber unsere Stimme werden möchte. Es ist jene Stimme, die dort laut wird, wo menschlich gesehen alles zu Ende ist, wo wir den Tod, das Ende, das tiefe, geistliche Zuendesein in unserem Leben schmecken, und sie ihre Schatten über alle unsere Lichter legt. An dieser Grenze des Lebens, da wartet dieses Gebet auf uns. Da möchte es von uns ergriffen, gesprochen, nachgesprochen und nachgebetet werden. Und der, der so betet, die Zunge, die das nachbuchstabiert, das Herz, das dieses Wort in sich aufnimmt — der ist hindurch! Das tote Herz lebt, das steinerne Herz ist aus unserem Leib herausgenommen, und wir haben wieder ein Herz, das fühlt und leidet, hofft und bittet: damit fängt alles Leben an. Das wahre, das neue, das ewige Leben: Schaff in mir, Gott, ein reines Herz! Wir haben es versucht, aber wir vermögen es nicht. Wir haben versucht, alles Böse, Häßliche, Gemeine und Niedrige von ihm fern zu halten, wir haben es versucht, weil wir den Spiegel rein halten wollten, der uns dein Angesicht spiegelt, den Anblick des Guten in der bösen Welt, der Ewigkeit in der Zeit, bis wir sahen, daß die Trübungen auf diesem Spiegel nicht von außen kamen, sondern von innen, daß die Quelle nicht rein war, bis wir erkannten, daß dein Sohn recht hat, daß alles, was den Menschen unrein macht, von innen her kommt. Bis wir erkannten, daß diese, wie wir meinten, reine, wahre, heilige Innerlichkeit nicht das ist, was wir von ihr dachten. Sie bringt all dieses Geröll mit sich, was uns dann so schwer auf der Seele liegt, sie muß ihren Quell in einem dunklen Grunde haben, denn das Wasser, das hier fließt, ist kein Wasser des Lebens. Wer aus dieser Quelle trinkt, der wird sterben, ob er gleich lebt. Aus diesem, unserem Inneren, aus dem, was unser Herz bewegt, können wir nicht leben.
Seht, meine Freunde, wenn wir heute hier zusammentreten und uns fragen, welches wohl die beste und hilfreichste Erkenntnis sein würde, die wir in diesem Ablauf unserer Lebensbahn gewonnen — wenn wir uns fragen, welche Erkenntnis wir den Brüdern vermittelt haben: Sollte es nicht dieses sein: daß wir herangeführt wurden an diese eine Stimme, die wir immer wieder hören, wenn wir durch die Heilige Schrift hindurchgehen, nicht immer so rein und klar wie hier im 51. Psalm, aber doch eben diese Stimme, ob das nun die Stimme des Berufenen ist, der da redet: Ich bin unreiner Lippen und komme von einem Volk mit unreinen Lippen, ob es die Stimme des ist, der da sagte: Herr, gehe hinaus von mir, denn ich bin ein sündiger Mensch, oder die Stimme der Frau am Brunnen: Herr, gib mir zu trinken von diesem Wasser, oder die Stimme des, der da rief: Herr, gedenke an mich, wenn du im Paradiese sein wirst — das ist die durchgehende Stimme des Volkes Gottes, jenes: aus der Tiefe schreie ich zu dir. Mit diesem Ruf beginnt und endet unser aller Leben, über ihn kommen wir nicht hinaus. Er ist der Sinn aller Erkenntnis. Es muß Gott uns helfen. Er muß, er kann und er will helfen. Er ist der, der hilft. Es gibt einen Ruf, den kann Gott nicht ins Leere gehen lassen, der reißt alle Türen auf und durchbricht alle Wände und Räume, vor ihm schrumpft der ungeheure Unterschied von Zeit und Ewigkeit in ein Nichts zusammen, und wir sehen die Engel des Himmels herauf und herabsteigen. Wo so gerufen wird, da ist Gott bei seinem Namen gerufen, da ist er wirklich gemeint, er, der kommt und hilft. Da ist seine Gabe gemeint, die Gabe, um deretwillen er ans Kreuz gegangen ist. Da öffnet sich das Grab des Lazarus, da wird der Blinde sehend, da wird die Erde, da wird mein Leben, mein armes sündiges, ganz und gar in sich selbst versunkenes Leben zur Stätte des Handelns, der Gnade, der Wunder des lebendigen Gottes. Denn selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.
Da sehen wir nun auch, was ein reines Herz ist. Wir haben ja immerzu gemeint, wir müßten die Flecken tilgen, die sich auf diesem Spiegel zeigten, und haben versucht, ihn blank zu putzen. Wir haben versucht, unser Herz auszuschütten, dem oder jenem und haben gemeint, damit die Dinge loszuwerden, die uns Last machen. Und wir haben vielleicht auch dann und wann erlebt, daß der Bruder Mensch seinen eigenen Weg suchte, wenn er spürte, daß wir einen suchten, dem wir unser Herz öffnen konnten. Es gibt eine letzte Grenze, bis zu der kein Mensch den anderen begleiten kann, weil er selbst vor dieser letzten Wahrheit und letzten Grenze Angst hat. Es gibt einen Punkt, auf den muß man ganz allein zugehen, wie auf den Tod. Da kann uns niemand begleiten. Da, wo es gilt, reines Herzens zu werden, sind wir immer allein.
Wir sind allein, um zu glauben! Wir sind Sterbende und siehe, wir leben. Wir laufen alle auf dieser Bahn, aber einer, immer nur einer, erlangt das Kleinod. Immer nur einer. Wo Gott ein neues Herz schafft, da sind wir immer nur einer! Einer von ihm und einer durch ihn. Ein reines Herz —das heißt eben dieses: ein Herz, in dem nichts, aber gar nichts anderes sich spiegelt als — Gott! Ein unreines Herz, das nichts anderes kennt, als ihn, ein totes Herz, das zur Wohnung des Lebendigen wird. Wie ein Auge ganz leer sein muß, damit die Sonne des Leibes Licht sein kann, und ein kleines Stäubchen, das ins Auge fliegt, die Finsternis über unser ganzes Wesen ausbreitet, so daß wir nicht sehen, wohin wir schreiten, so muß auch unser Herz ganz rein sein — rein sein von allem Dünkel, als könnten wir uns selbst helfen. Dann schauen wir Gott. Dann schauen wir ihn, wie er uns nahe ist, wie er sich niederbeugt zu dem unter die Räuber gefallenen, wie er sich aufmacht und dem verlorenen Schaf nachgeht, wie er mitten unter uns ist in der Gestalt, die unser Herz zu fassen, die sie in sich aufzunehmen vermag. Wir schauen ihn, wie er zum Kreuz geht, und wir schauen ihn, wie er zum Zeichen, daß er der Herr des Todes, auch unseres inneren Todes ist, die Siegel des Grabes bricht und frei und lebendig aufersteht. Unser Herz schaut ihn. Das heißt: Dieses Gebet ist erhört: das Gebet des alten Bundes, das Norm und Ziel unseres Betens geworden ist, führt nicht ins Leere. Es ist erfüllt — höher und vollkommener, als je unser Denken und Verstehen sich seine Erfüllung zu denken wagte. Denn, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört, und was in keines Menschen Herz gekommen ist, das hat Gott bereitet denen, die ihn lieben.
Gehalten am 21. Juni 1959 im Universitätsgottesdienst in Bonn.