
Ein wunderschön geschriebener Text über die Freiheit stammt von Johann Baptist Metz aus dem Jahr 1963. Im Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen zeichnet er feinsinnig die Versehrtheit menschlicher Freiheit nach:
Verhüllte Freiheit. Meditationsgedanken zum Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen
Von Johann Baptist Metz
Noch ein anderes Gleichnis legte Jesus seinen Jüngern vor und sprach: Das Himmelreich gleicht einem Manne, der guten Samen auf seinen Acker säte. Doch während die Leute schliefen, kam sein Feind, säte Unkraut unter den Weizen und ging davon. Als nun die Saat aufging und Frucht brachte, da zeigte sich auch das Unkraut. Da kamen die Knechte des Hausherrn und sagten zu ihm: „Herr, hast du nicht guten Samen auf deinen Acker gesät? Woher hat er nun das Unkraut?“ Er erwiderte ihnen: „Ein Feind hat das getan!“ Da sagten die Knechte zu ihm: „Willst du nun, daß wir hingehen und es zusammensuchen?“ Er aber erwiderte: „Nein, damit ihr nicht, wenn ihr das Unkraut zusammensucht, zugleich mit ihm den Weizen ausreißt. Laßt beides miteinander wachsen bis zur Ernte, und zur Zeit der Ernte will ich den Schnittern sagen: ‚Suchet zuerst das Unkraut zusammen und bindet es in Bündel, damit es verbrannt werde, den Weizen aber sammelt in meine Scheune!‘“ (Mt 13,24-30).
Wir lesen das Gleichnis von der Weizensaat, die bis zum Tag der Ernte ungeschieden, ja unscheidbar vom Unkraut wachsen und reifen muß. Welche Sicht öffnet es uns auf die Geschichte unseres Daseins vor Gott?
Allem Anschein nach verbirgt sich darin zunächst ein kleines Stück Theologie der Geschichte überhaupt. Es ist, als wollte uns der Herr sagen: Nie richtet die Geschichte sich selbst, nie ist die Welt-Geschichte das Welt-Gericht, nie kann sie aus und an sich selbst Gut und Böse end-gültig scheiden und sich selbst ins reine Gute hinein befreien; nie kann sie ungetrübt ihre eigenen goldenen Früchte bewundern und genießen; immer bleibt das geglückte Gute an ihr letztlich vor sich selbst verhüllt durch das „Ver-[221]hängnis“ des Bösen, das sie aus eigener Kraft nie ganz auflichten und endgültig verscheuchen kann. Ja, nie tun Menschen einander so viel Böses an, als wenn sie ungeduldig das rein Gute verwirklichen wollen, wenn sie sich selbst zum Richter erheben in verfrühter Stunde. Der Gang der Geschichte beweist es uns immer wieder: wie im Namen von Utopien des innerweltlichen Heils, von Ideologien des reinen Guten die Knechte, die nicht von Gott gesandt waren, auszogen, um alles Unkraut zu jäten und dabei den Weizen Gottes furchtbar zerstörten. Alle Revolutionen, die mit dem Pathos des großen endgültigen Gerichtes über der Menschheit heraufzogen – bis herein in unsere jüngste Zeit –, endeten mit der radikalen Bedrohung des Guten, das unscheinbar wächst, das viel zu sehr – bis in seine Wurzeln hinein – verflochten ist mit dem Gestrüpp der Schuld und des Versagens, als daß es sich selbst aus dieser schmerzlichen Verstrickung und verhängnisvollen Zweideutigkeit befreien könnte.
„Laßt beides miteinander wachsen bis zur Ernte!“ Die Geschichte der Welt kann sich nicht selbst ins Reine bringen, sich nicht selbst erlösen. Auch die Geschichte der Kirche nicht; auch für sie gilt das Gesetz unseres Gleichnisses; auch in ihr muß immer wieder jenen Knechten widerstanden werden, die sich im Namen einer „reinen“ Kirche zum eigenmächtigen Gericht erheben und die Geduld Gottes, dessen allein das Gericht und die Rache ist, versuchen. Denn zuletzt steigt aus diesem Willen der Geschichte, sich selbst ins reine Gute zu befreien, ein gefährlicher Protest gegen ihr eigenes „göttliches Geheimnis“ (vgl. Offb 10,7): der immer neue und immer vergebliche Versuch, sich in einem autonom ausgerufenen Gericht zu absolvieren von ihrer schmerzlichen Unverfügbarkeit und dunklen Unüberschaubarkeit, aus der ihr allein das wahre Gericht zukommt als die unwägbare heilige Zukunft Gottes selbst.
Indes, unser Gleichnis scheint nicht nur und nicht einmal in erster Linie von der großen Geschichte der Welt und der Kirche zu sprechen, sondern von der Geschichte unseres je eigenen Daseins vor Gott. Was aber will es uns dazu sagen? Ganz einfach dies: Wir sind nicht die Richter unseres in Freiheit getanen Daseins, nicht die verfügenden Herren unserer Freiheit selbst.
Wir haben es immer mit uns selbst zu tun, es geht uns in unserem Dasein um dieses selbst. Wir sind nicht fertig von Anbeginn, müssen vielmehr mit uns selber fertig werden; wir haben uns selbst vor uns, müssen auf uns selbst zugehen, uns selbst finden, im Gange unserer Freiheit „werden“, was wir „sind“. Immer schon sind wir unterwegs, immer schon hat das Werk unserer Freiheit eingesetzt, immer schon leben und erfahren wir unser Dasein aus einer ursprünglichen „Gefreitheit“ und damit aus einer anfänglichen „Gerichtetheit“ auf Gut oder Böse, auf Selbstlosigkeit oder Selbstverfallenheit. Doch nie können wir diese in Freiheit entworfene und eingenommene Richtung unseres Daseins ganz vor unsere Augen ziehen, nie können wir uns selbst zum Richter erheben über diese „Gerichtetheit“. Immer bleibt der Weg unserer Freiheit noch einmal in ihren eigenen Taten verborgen, bleibt ihr Aufbruch vor sich selbst verhüllt und ausgesetzt ins Unüberschaubare. Ist es nicht auf dem Acker unseres Lebens wie auf dem Acker der Welt: Weizen und Spreu, Hell und Dunkel, Gut und Böse, Gnade und Schuld, Aufschwung und Selbstverfallenheit – beide radikal verschieden und doch miteinander verschlungen und zwielichtig ineinander gespiegelt, wie Tag und Nacht in den Morgen- und Abendstunden ineinander verdämmernd? Beides, der große ragende Baum unseres himmelstürmenden Ja und die gekrümmte Schlingpflanze des Nein: beides erwachsend aus dem einen Grund unserer Freiheit zum Mischleib, zum nie geklärten Zwiegesicht unseres gefreiten Daseins? Immer wieder werden wir versucht sein, wie die Knechte des Evangeliums ungeduldig auszuziehen, um endlich reinen Tisch zu machen, die große Scheidung fein [222] säuberlich zu vollbringen, die lastende Zweideutigkeit zu verscheuchen, Gericht zu halten über die Richtung unserer Freiheit. Doch der Herr fällt uns in den Arm: „Laßt! Ich allein teile, was in euch verschlungen ist.“ Abgrund bleibt unser gefreites Leben, auf das scheidende und teilende Wort Gottes harrend wie die Erde am ersten Schöpfungstag – spiegelverkehrtes, spiegelverzerrtes Gleichnis der Abgründigkeit Gottes, Wildnis von Gut und Böse. Wer will sagen, auf welche Seite er sich im Gang seiner Freiheit schließlich geschlagen hat? Ist das vorgehaltene Gute unseres Daseins nicht immer unabweisbar in Frage gestellt? Wissen wir etwa, ob wir in unseren Gebeten wirklich von Gott und nicht bloß von einem heimlichen Mitleid mit uns selbst ergriffen und überwältigt sind? Wissen wir, ob unsere Selbstlosigkeit wirklich kristallisierte Liebe ist und nicht bloß eine raffinierte Form der verschleierten Selbstbehauptung, die sich gegen den andern dadurch durchsetzt, daß sie ihm scheinbar demütig in die Arme fällt? Wissen wir, ob wir tatsächlich aus der Lauterkeit eines unbezwingbaren Herzens die Menschen bestehen und den Gefahren widerstehen, oder ob wir nicht nur deswegen so unangefochten leben, weil wir uns nie ausgeliefert, unsere Seele nie „verloren“ haben (vgl. Joh 12,25) – weil wir längst die Falltüren hochgezogen haben, über die alle die anderen, die „Brüder“, die immer Unbewältigten und Beunruhigenden, in die Burg unseres Herzens und Geistes ziehen könnten? Wissen wir, ob wir wirklich die Schale unseres Ich durchstoßen haben, um ins Offene und Freie der Liebe zu kommen, ob uns der große Aufschwung wirklich gelang, oder ob das, was uns groß und weit anmutet, nicht nur die nach außen gewölbte, aufgeblähte, nie zersprengte, sondern immer nur gedehnte Enge unseres Daseins ist? Wissen wir, ob wir –im Letzten, aus der geheimnisvollen Tiefe unseres gefreiten Daseins – Weizen sind oder Spreu, Ja oder Nein, Gott anheimgegeben oder uns selbst verfallen? Wer weiß, wie sehr man Gott überspielen kann im Namen der Religion, wie sehr man ihn im Gebet noch einmal von sich distanzieren kann; wie sehr im geschulten Getriebe die großen Aufschwünge unversehens ersterben können; wie schnell man die Gnade, die leise und leichtfüßige, verscheuchen kann, wie lautlos und von ungefähr man die Stimme des eigenen Gewissens verschütten kann; wer weiß, wie tief die kleinen Dinge sitzen können, die scheinbar nur so dahingesagten, in denen plötzlich ein Abgrund klafft: der wird die große Zweideutigkeit verstehen, die über uns und unser frei eingenommenes Dasein verhängt ist und die der Mensch im Einsatz des Glaubens nicht verliert, sondern zuallererst in seiner schmerzlichen Unabweisbarkeit vor sich kommen läßt.
Nie kann sich unser Dasein ins Licht des reinen, fraglosen Guten erheben; ungeschieden sprossen Weizen und Spreu auf dem Acker unserer Freiheit, der unser Leben ist – bis zum Tag der Ernte, der nicht unser Tag ist. Und nicht die Religion, die wir haben, klärt das Zwielicht unseres frei getanen Daseins, sondern – Gott allein. „Laßt!“ Wir bleiben im Zwielicht, im letzten vor uns selbst verhüllt. Es gibt keinen Spiegel für das verhüllte Antlitz unserer Freiheit. Wir haben keinen Schlüssel in der Hand für die Komposition unseres Lebens; suchen wir ihre Melodie abzulauschen, so tun wir das immer schon unter einem bestimmten Vorzeichen, dessen Tonart wir nicht noch einmal überprüfen können. Nie können wir uns außerhalb des großen Spiels unserer Freiheit stellen, um es unbeteiligt zu verfolgen. Nie können wir den Strom unseres Lebens ans Land ziehen, um uns endlich seines Laufes genau zu vergewissern. Nie können wir die Richtung unseres in Freiheit gerichteten Daseins vor Augen bekommen, so sehr wir uns bemühen und rechtens uns bemühen. Denn der Ernst der Gewissenserforschung ist uns letztlich nicht geboten, um dieser großen Fragwürdigkeit endgültig zu entrinnen und die gelungene Flucht beruhigt zu genie-[223]ßen, sondern um uns immer lauterer, immer entschiedener auf jene schmerzliche Grenzerfahrung der Unüberschaubarkeit unseres gefreiten Daseins einzulassen, und um uns in dieser Erfahrung selbst immer gehorsamer als die großen Armen anzunehmen, die sich selbst je entschwinden ins Unverfügbare und Unbesitzbare hinein. Das Gewissen, in dem unsere Freiheit sich an sich selber weiß, hat so letztlich auch etwas Abweisendes an sich: es ist kein Wissen, in dem wir uns noch einmal mächtig und „reich“ über uns selbst erheben könnten, sondern ein unschuldiges Wissen, dessen Wahrheit sich uns nicht lichtet, wenn wir auf uns selber zurückblicken, sondern wenn wir uns in den Aufschwung der je neuen Tat hinein vergessen. „Nur wer die Wahrheit tut, kommt ans Licht“ (Joh 3,21).
So ist es mit uns, mit der Bewegung unseres Daseins. Wir können sie nicht richtend vor die Augen ziehen. Wir sind nicht die Götter des Gerichtes unseres in Freiheit „gerichteten“ Lebens. Wir können nicht end-gültig den Weizen von der Spreu sondern, immer begegnen wir uns im Spiegel unseres Bewußtseins als die, die gut und böse sind, obwohl unser Ende gut oder böse ist. Und so bleiben wir vor uns selbst die Zweideutigen, das Rätsel, das sich nicht selber reimen kann, das Antlitz ohne Spiegel, die wahrhaft Unheimlichen, die Ausgelieferten, die in dem, worin sie ganz sie selber sind, gerade nicht sich selbst gehören. Alles hängt daran, daß wir uns annehmen, wie das Gleichnis uns deutet: daß wir die Unheimlichkeit unseres frei getanen Daseins vor uns kommen lassen, daß wir uns bejahen als die Freiheit, die immer ungeschützt in die Hände Gottes sinkt. „Nimm hin, o Herr, meine Freiheit!“
Denn sein ist das Gericht. Und so gibt es in einem recht verstandenen Sinn schließlich auch nur eine Sünde, die schon auf den ersten Blättern der Schrift in schlichter Sprache aufgezeichnet ist, und die sich vom Anbeginn der Menschheit her in ungezählten Spielarten variiert: der Versuch nämlich, selbst endgültig verfügbar zu wissen, was gut und böse an uns ist, „das Gute und Böse zu erkennen“ (vgl. Gen 2,17; 3,5); die Armut der Ausgeliefertheit unserer Freiheit niederzuhalten, sich in der unverfügbaren Zweideutigkeit unseres gefreiten Daseins nicht anzunehmen, das endgültige Gericht vorwegzunehmen – entweder in einem pharisäischen oder skrupelhaften Willen zur Selbstgerechtigkeit; oder in einer gefährlichen „Sündenmystik“, in der wir das Unheimliche unserer Zweideutigkeit zwischen Gut und Böse dadurch verharmlosen, daß wir diesen Zwiespalt verabsolutieren; oder aber in einer endgültigen Verzweiflung über uns selbst. Denn auch diese Verzweiflung ist eine Art Vermessenheit, eine Vorwegnahme des Gerichtes, ein Protest gegen die Ausgeliefertheit unserer Freiheit: Wer keine Engel mehr annehmen will in all seinen Zusammenbrüchen, der hat Gott schon die Hände gebunden; wer sich zum Sünder, zum Verlorenen erklärt, wer seiner schuldig gewordenen Freiheit keine größere, heiligere Zukunft mehr gibt, hat ebenso verwegen in Gottes letztes Wort hineingeredet wie jener, der selbstgerecht auf die vergewisserte Reinheit seines Gewissens pocht. In jedem Fall sucht er sich selbst das letzte Wort zu geben und sich vor der Ausgesetztheit seines Daseins zu absolvieren. In Wahrheit aber bleibt nur eines: die Armut dieser unbefragbaren Ausgesetztheit, die wir selber sind, anzunehmen in der „Tugend der Armen“, in der Hoffnung. Denn immer gilt das Wort aus dem ersten Korintherbrief, in dem Paulus auf seine Art unser Gleichnis wiederholt: „Ich kann mich nicht einmal selbst richten: Ich bin mir ja keiner Sache bewußt; aber damit bin ich noch nicht gerechtfertigt, sondern der mich richtet, bleibt der Herr. Darum sollt ihr über nichts vor der Zeit richten, ehe der Herr kommt: Er wird ans Licht bringen, was im Finstern verborgen ist, wird offenbar machen die bewegenden Absichten der Herzen, und dann wird einem jeden sein Lob von Gott werden“ (4,4f.).
Quelle: Geist und Leben 36 (1963), Nr. 3, Seiten 220-223.