
Helmut Gollwitzer (1908-1993) hatte 1988 am Sonntag Kantate in Berlin-Dahlem folgende Predigt zu Psalm 98,1 gehalten, die persönliche Frömmigkeit mit einer besonderen Israel-Sensibilität zusammenspricht:
„Singt dem Herrn einen neuen Gesang; denn Wunderbares hat er getan.“ Predigt über Psalm 98,1
Von Helmut Gollwitzer
Jetzt singen sie wieder, die Vögel nämlich, und wir freuen uns an ihren lieblichen Stimmen, den lieblichsten, die wir aus der sonst ja meist stummen Tierwelt vernehmen. Noch schöner aber ist die singende Menschenstimme – oder gibt es hier jemanden, der das bestreitet? Sie gehört zu den schönsten Gaben, die uns ins Leben mitgegeben sind. Luther war sogar der Meinung, alle Musik, die instrumentale und vokale, stamme vom Himmel. Im Unterschied zur mittelalterlichen Musiktheorie, in der man meinte, es gebe engelische und dämonische Musik, sagt Luther, die Musik ist rundherum eine himmlische Angelegenheit; sie kann natürlich zu üblen Zwecken und zu häßlichen Festen und für scheußliche Texte mißbraucht werden, aber als Musik selbst ist sie immer himmlischer Abstammung, ein Klingen aus der Engelwelt.
Ich denke, Luther hat recht gehabt. Deshalb gibt es kein Leben der Gemeinde Jesu ohne Singen, auch keinen schöneren Teil der Bibel als die Psalmen; und nichts ist selbstverständlicher, als daß in einem christlichen Gottesdienst gesungen werden muß. Und zwar zu allen Zeiten! So allgemein ist diese Aufforderung: cantate!, daß sie gar keine Rücksicht darauf nimmt, daß uns wahrscheinlich nicht zu allen Zeiten nach Singen zumute ist. Es werden uns im Gesangbuch zwar auch Klagelieder und Trauerlieder angeboten, und das ist gut. Aber es kann doch einmal der Fall eintreten, daß auch kein Klagelied uns über die Lippen will. Trauer und Schmerz ersticken uns; fremd und schweigend stehen wir inmitten der singenden Gemeinde. Sollen wir sie zum Schweigen bringen? Oder sollen wir sie trauernd verlassen? Oder sollen wir es dankbar als Gottes Fügung annehmen, daß die Glocken uns am Sonntag Cantate in die Mitte der singenden Gemeinde geführt haben, obwohl uns doch gar nicht nach Singen zumute ist. Nicht ihre Teilnahmslosigkeit, nicht ihr Mangel an Rücksicht auf die Trauernden in ihrer Mitte zwingt ja die Gemeinde zum Singen, sondern die Christen gehorchen der Aufforderung zum Singen, ohne danach zu fragen, ob ihnen zum Singen zumute ist; und auch für diejenigen singen sie mit, denen Schmerz und Kummer die Kehle zuschnüren.
Im Singen der Gemeinde ist eine Botschaft enthalten. Sie lautet: Es kann stehen, wie es will; es kann mit dir und mit mir und mit vielen einzelnen von uns ganz, ganz traurig stehen. Es können die Zeiten noch so dunkel sein und die Zukunft noch so schwarz verhangen. Trotzdem ist Grund zum Singen da, und gerade dann ist es notwendig, der Trauer und der Angst entgegenzusingen, ins Gesicht zu singen. Nicht aus Leichtsinn, nicht aus Mangel an Mitgefühl, sondern weil nicht besser als mit Singen wir uns daran erinnern und gegenseitig zurufen können: Das ist nicht das Ganze! Was uns zum Weinen bringt und was uns Angst einjagt, ist nicht das Ganze. Den weinenden Frauen, denen mit der Ermordung Jesu alles Licht genommen war, das er in ihr Leben gebracht hatte, ist der lebendige Herr erschienen, und von da an wußten sie: Es kann ihn niemand mehr auslöschen, niemand mehr aus ihrem Leben wegnehmen. Ein ostererfülltes Leben umgriff sie und ihre Freunde, die Jünger, und ließ sie nicht mehr los, auch nicht auf dem Weg in die Gefängnisse und zur Hinrichtung, und machte ihre Erzählung von Jesus so stark, so mitreißend, so voll von Auferstehungsgeist, daß das durch die Jahrhunderte sich fortpflanzte, bis es auch zu uns gelangt ist und heute uns zugerufen wird, in unsere Traurigkeiten hinein, aber auch in unsere Langeweile, in unsere Abgestumpftheit, in unsere Müdigkeit und Erwartungslosigkeit hinein: Fangt neu an zu singen! Wie ihr auch dransein mögt, fangt neu an zu singen, laßt euch mitnehmen ins Singen, ins Gotteslob, ins Lob dieses Gottes – trotz allem, was ihr gegen ihn auf dem Herzen habt, trotz aller Klagen und Beschwerden gegen ihn –, macht mit bei den Lobgesängen! Ihr werdet sehen, wie wohl das euch tut, wie das euren geschlagenen, verstummten Herzen hilft, wie auch ihr allmählich wieder mit hineingezogen werdet ins Singen, ins Danken, ins Loben.
Woher die Zuversicht bei solcher Einladung, mit der wir hier empfangen werden, ganz gleich, wie wir dran sind? Der Psalm gibt hier eine Begründung an: „denn er tut Wunder“ (oder wörtlicher, damit wir nicht auf die törichte Diskussion kommen, ob es Wunder, d. h. etwas, was den Naturgesetzen widerspricht, wirklich gibt: „denn wunderbar hat er gehandelt“). Zweierlei wird uns damit gesagt:
- Wir sind mit dem, was wir erleben, nicht allein. Wir sind auch nicht die einzigen, die sich um uns kümmern. Laß dir sagen: Es kümmert sich um dich, um mich, um all die Millionen Menschen heute und früher, um jeden einzelnen von ihnen noch ein anderer: der, der dafür verantwortlich ist, daß es diese Millionen überhaupt gibt. Der steht zu seiner Verantwortung! Der hat jeden von uns im Auge. Es ist für uns ganz unmöglich, das jetzt in seinem ganzen Ausmaße zu erkennen; gerade nur stückweise, gerade nur andeutungsweise können wir, wenn wir uns vom Evangelium darauf aufmerksam machen lassen, einiges davon erkennen: Gottes Dabeisein, Gottes Für-uns-Sein, Gottes Gegenwart in unserem Leben.
- Er hat schon gehandelt, sagt uns der Psalmist, er hat schon wunderbar, staunenerregend gehandelt. Zunächst ist das hier für das Gottesvolk Israel ausgesprochen; dessen Blicke sollen zurückgelenkt werden auf den Weg, den es bis jetzt hinter sich hat. Auf ihn zurückblickend, müssen sie sagen: lauter wunderbare Errettungen! Der diesen Psalm dichtet, der will jetzt den Leuten um ihn her, damals in Israel, aber heute auch bei uns hier in Dahlem und in dieser Kirche, er will all denen die Augen öffnen für das Wunderbare in ihrem Leben. Lassen wir uns von ihm dazu anleiten aufzuspüren, wo in unserem Leben Bewahrungen geschehen sind und Beschenkungen, die Gedanken gerichtet auf das, worüber wir ohne Zweifel froh sein müssen und dankbar, und dann weiter auf die verborgenen Fälle, auch die scheinbaren Unglücksfälle, jedenfalls diejenigen, bei denen sich durch tieferes Nachdenken zeigt: das, was uns zunächst Klagen auspreßte, hat sich dann als ein Glück erwiesen, und in dem, was uns schweren Kummer machte, ist uns wunderbar geholfen worden. Fingen wir Älteren jetzt an, aus unserem Leben zu erzählen, dann gäbe es sicher bei jedem mehrfach Anlaß, da und da zu sagen: Wunderbar ist mir geholfen worden, und ich habe noch gar nicht richtig gedankt dafür.
Bei den Psalmen handelt es sich um Gebetslieder der Gemeinde Gottes, die der einzelne sich zu eigen machen darf, ebenso oft aber auch um Lieder von einzelnen aus ihren Erfahrungen, die dann der Gemeinde zur Verfügung gestellt werden. Unser Psalm spricht primär von den Erfahrungen Israels – und da freilich stockt heute unser Denken, wenn die Erfahrungen Israels in unserem Jahrhundert uns vor Augen treten. Zwar können viele Juden uns von wunderbaren Errettungen erzählen, und kein Jude kann anders als dankbar und stolz durch die Landschaft des Staates Israel fahren, dankbar und stolz darüber, was da für ein kräftiges junges Volk aus der Asche der Väter erstanden ist. Aber das läßt doch das Entsetzen nicht vergessen, das Entsetzliche, durch das dieses Volk hat hindurchgehen müssen, und das Entsetzen, das uns immer neu ergreift, wenn davon die Rede ist und wenn wir davon berichtet hören. Ich bringe es nicht fertig, einem Juden Anleitung zu geben, wie er diese Psalmverse und die Geschichte seines Volkes und seiner Familie in diesem unserem Jahrhundert zusammenbringt. Aber wir selbst stehen ja vor der gleichen Aufgabe. In unsere beiden Dahlemer Kirchen kann ich nicht gehen, ohne über das Wunder der Vergebung Gottes zu staunen. Wir dürfen hier am Sonntag Cantate uns versammeln und die Aufforderung „cantate!“ mit Singen befolgen, statt voll Scham verstummen zu müssen, weil wir damals unsere jüdischen Brüder und Schwestern, die Frau Kayser und die Johanna Sachs und den Bruder Hamburger und alle die anderen, deren Namen wir längst vergessen haben, in die Ermordung ziehen ließen, ohne mit ihnen zu gehen. Unser Überleben klagt uns an. Vergebung ist es, daß nach solchem Versagen noch eine christliche Gemeinde in unserm Land und hier in Dahlem Gottesdienst feiern darf, und Vergebung ist es, daß unser Volk, diese schuldbeladenen Deutschen, heute so reich und wohlhabend vor sich hin leben darf und aufs neue an all dem Bösen, an Rüstung und Ausbeutung, ohne Buße und Reue teilnehmen darf. Grenzenlose und wunderbare Vergebung!
So wollen wir jetzt unser ganzes Leben annehmen als Geschenk der Vergebung, aufmerksam auf alle die kleinen und großen Wunder, nichts mehr als selbstverständlich einstecken, als hätten wir Anspruch darauf, und also dankbar werden auch an schweren Tagen, und vertrauensvoll auch in schweren, hier noch unbeantworteten Fragen, und selbst unter Tränen uns immer wieder verlocken lassen, diese Aufforderung zu befolgen:
„Singt dem Herrn ein neues Lied;
denn er tut Wunder!“
Amen.