
In der aktuellen Ausgabe von Christ in der Gegenwart (CiG) ist von mir der Artikel „Das Kreuz – nachösterlich“ erschienen. Darin begründe ich, warum Kruzifixe – im Unterschied zu Kreuzen – in Gerichtssälen unangebracht sind. Hier meine ursprüngliche Textfassung:
Was für ein Bild – der Richter Klaus-Jürgen Schmid hält ein Kruzifix in seinen Händen, das er als Amtsgerichtsdirektor – vorübergehend – aus dem Sitzungssaal des oberbayerischen Amtsgerichts in Miesbach entfernt hatte. Dem vorangegangen war Mitte Januar eine Verhandlung in einem Strafprozess gegen einen 21-Jährigen afghanischen Muslim, weil dieser einen zum Christentum konvertierten Landsmann wohl mit dem Tode bedroht hatte. Begründet hatte der Richter diese Maßnahmen, um „dem Angeklagten zu verdeutlichen, dass kein religiös motiviertes, sondern ein von religiösen Ansichten und Überzeugungen völlig unabhängiges Verfahren der dritten Gewalt, der Justiz, stattfindet, in einem Staat, der unter keinen Umständen Gewalt oder Gewaltandrohungen toleriert.“
Auf breites Unverständnis und Empörung ist die richterliche Abhängung gestoßen, nicht nur in der BILD-Zeitung. So schrieb beispielsweise der bekannte Fernsehmoderator Peter Hahne: „Mir ist es nicht egal, ob ein Richter, der auf dem Boden des Grundgesetzes zu stehen hat, das Symbol unserer Kultur einfach nach Belieben auf- und abhängt.“
Erleichtert war meiner Frau, als sie bei meinem Amtsantritt als Gemeindepfarrer 2009 in Vöhringen/Iller feststellen konnte, dass in unserem Kirchengebäude ein großes Kreuz, nicht aber ein Kruzifix hing. Für sie als baptistische Christin aus Nordostindien stammend wie auch für die Mehrheit der protestantischen Christen in Südamerika, Afrika und Asien ist die plastische Darstellung Christi am Kreuz ein Unding. In der reformierten Tradition gilt nämlich – entsprechend der biblischen Zählweise – das Bilderverbot als zweites der zehn Gebote: „Du sollst dir kein Gottesbild machen noch irgendein Abbild von etwas, was oben im Himmel, was unten auf der Erde oder was im Wasser unter der Erde ist. Du sollst dich nicht niederwerfen vor ihnen und ihnen nicht dienen, denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott“ (Exodus 20,4-5).
Vorbehalte gegenüber einer plastischen Christusdarstellung am Kreuz existieren auch in der orthodoxen Kirche, wo das alttestamentliche Bilderverbot ebenfalls als zweites Gebot in Geltung steht. In der Regel enthalten orthodoxe Kirchengebäude weder Skulpturen noch Vollplastiken. Die Christus-Ikone als Tafelbild hingegen finden ihre Legitimation in der Lehre von der Menschwerdung des Gottessohnes. Sie stellt eine Abbildung Christi in seiner menschlichen Natur dar, in der die göttliche Wirklichkeit gleichsam wie durch ein Fenster „ewigkeitsräumlich“ hindurchscheint.
Genau diese göttliche Transparenz ist jedoch bei einer Plastik bzw. Statue, die eigenräumlich umgriffen werden kann, ausgeschlossen. So sind es gerade hölzerne, metallene oder steinerne Figuren, Plastiken und Statuen, die im alttestamentlichen Bilderverbot angesprochen sind. Deren undurchsichtige Repräsentanz göttlicher Potenz lässt diese für menschliches Begehren und Wunschdenken einnehmen. Schließlich heißt es ja im Buch Genesis nach dem Sündenfall aus Gottessicht, „dass die Bosheit des Menschen groß war auf Erden und dass alles Sinnen und Trachten seines Herzens allezeit nur böse war.“ (Genesis 6,5)
Nun ist in der Tat das Kruzifix ein plastisches Schnitzwerk. Aber in seiner Darstellung des Kreuzgeschehens verweigert es sich – zumindest als Dreinagelkruzifix – einer „abgöttischen“ Machtvereinnahmung durch Menschen. Das Kruzifix zielt nicht auf einen „anbetlichen“ (adorationalen) oder „dienstbaren“ (latreutischen) Handlungsgewinn für religiöse Verehrer, wie ihn Kultstatuen auf Sockel oder Thron in fremdreligiösen Tempeln Asiens anbieten. Wird die tödliche Passion des Gottessohnes am Kreuz von Golgota mimetisch zur Schau stellt, kann diesem Ohnmachtsanblick nichts Eigensinniges abgewonnen werden. Gesucht ist vielmehr die bußfertige Hingabe des Sünders an dieses Geschehen zum eigenen Heil, so wie dies Christian Fürchtegott Gellert poetisch zu Wort gebracht hat: „Herr, stärke mich, dein Leiden zu bedenken, mich in das Meer der Liebe zu versenken, die dich bewog, von aller Schuld des Bösen uns zu erlösen.“
Der Gottessohn hängt nicht symbolisch am Kreuz. Daher vermag das Kruzifix eben kein Kultursymbol zu sein, und seien damit auch christliche Werte wie Barmherzigkeit und Nächstenliebe gemeint. Öffentlich kann es Christen nur als Bekenntniszeichen für den stellvertretenden Versöhnungstod des Gottessohnes zu gelten. Allein im geistgewirkten Glauben an das Evangelium und damit innerhalb der Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen lässt sich diesem Zeichen eine heilsame Bedeutung abgewinnen. Für Außenstehende muss es „ungläubiges Staunen“ (Navid Kermani) hervorrufen oder hat mit den Worten des Apostels Paulus „Torheit“ bzw. „Ärgernis“ (1Korinther 1,23) zu sein.
Wie soll nun das Kruzifix, das den Vollzug einer Todesstrafe abbildet, in einem staatlichen Gerichtssaal, wo ja Religionsneutralität geboten ist, Geltung finden können? [vgl. dazu Ernst-Wolfgang Böckenförde, Kreuze (Kruzifixe) in Gerichtssälen? – Zum Verhältnis von staatlicher Selbstdarstellung und religiös weltanschaulicher Neutralität des Staates, ZevKR 20 (1975), S. 119-147] Wenn der Richter am Kopfende unter einem Kruzifix sitzt, wirkt dieses auf die gegenübersitzenden Zuschauer wie ein Hoheitszeichen: Spricht ein Strafrichter in einem Strafprozess eine Verurteilung aus, so scheint dieses Urteil durch das Kreuz Christi hinter ihm als höhere göttliche Macht autorisiert worden zu sein. Damit wird die christliche Botschaft des Kruzifixes in das genaue Gegenteil verkehrt. Dem Evangelium zufolge hat Jesus Christus am Kreuz von Golgota die Strafschuld der Menschen auf sich genommen, auf dass diese im rechtfertigenden Glauben an ihn von der eigenen Verdammnis freigesprochen werden.
Was in einem Gerichtssaal von Staats wegen zu geschehen hat, mag für Christen seine Ermächtigung im göttlich autorisierten Gesetz finden, nicht aber im Evangelium. Eine „weltliche“ Bestrafung bzw. Verurteilung kann nicht in einen Zusammenhang mit der Kreuzigung Christi gebracht werden. Vielmehr heißt es ja für Christen mit den Worten Jesu: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben.“ (Lukas 6,35f)
Was für ein Bild. Da sitzt Mitte Januar der 30-Jähriger afghanische Muslim Hamidullah M. im Sitzungssaal des oberbayerischen Landgerichts Traunstein unter dem Kreuz. Er ist des Mordes angeklagt, weil er im Frühjahr 2017 die 38-Jährige Farima S. in Prien am Chiemsee erstochen hatte. Die Mutter von vier Kindern war acht Jahre zuvor in Afghanistan als Muslimin zum Christentum konvertiert.
In der öffentlichen Diskussion werden Kruzifix und Kreuz meist nicht unterschieden. Dabei bildet das Zeichen des (bloßen) Kreuzes eben kein Strafgeschehen ab, sondern symbolisiert in der christlichen Tradition das eschatologische Siegesgeschehen. Aus dem Tod und der Auferstehung Christi heraus ist die endzeitliche Gerechtigkeit Gottes angesagt, wie sie in Psalm 118 besungen wird: „Meine Stärke und mein Lied ist der HERR; er ist für mich zur Rettung geworden. Schall von Jubel und Rettung in den Zelten der Gerechten: Die Rechte des HERRN, Taten der Macht vollbringt sie, die Rechte des HERRN, sie erhöht, die Rechte des HERRN, Taten der Macht vollbringt sie. Ich werde nicht sterben, sondern leben, um die Taten des HERRN zu verkünden.“ (VV 14-17) In diesem Sinne mag ein Kreuz – kein Kruzifix – in einem Gerichtssaal doch angebracht sein: Was hier menschlich geurteilt wird, kann vor dem dreieinigen Gott nicht das letzte Wort haben.
Dennoch hat ein Amtsgerichtsdirektor mit der Abhängung eines Kruzifixes im Gerichtssaal dem Evangelium in anstößiger Weise einen Dienst erwiesen. Sollte das Kruzifix von Christen in apathischer Weise als christlich-abendländisches Kultursymbol ver-„wertet“ und in Stellung gegen Säkularismus, Atheismus und Islam gebracht werden, wäre es um das liturgische Geheimnis des Glaubens geschehen. Uns bliebe dann nur noch eine Kultur der defensiven Hoffnungslosigkeit.
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