„Umkehr ist Freude, Gott recht geben ist Freude“ – Evangelische Metanoia nach Julius Schniewind

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Rembrandt – Die Rückkehr des verlorenen Sohnes (1669)

Der Neutestamentler Julius Schniewind (1883-1948) war es, der auf die Missverständlichkeit von „Buße“ aufmerksam gemacht und das Evangelium mit der Umkehr zusammengebracht hat. So heißt es in seinem Vortrag „Evangelische Metanoia“ von 1935:

Wir reden von Metanoia, ausdrücklich und absichtlich nicht von Buße. Das Wort Buße ist nämlich mit Vorstellungen behaftet, die genau an dem vorbeiführen, was die Bibel mit Metanoia meint. Buße heißt in unserer Sprache zunächst soviel wie Strafe. In Süddeutschland ist es noch gebräuchlich, von einer Geldbuße zu reden, wenn man Strafe zahlen muß, und in ganz Deutschland ge­braucht man noch so das Verbum, wenn wir von abbüßen reden: ich mache etwas wieder gut, indem ich es abbüße, indem ich willig die verdiente Strafe trage. Dies Abbüßen und Strafetra­gen hat dann in einer langen Geschichte der Bußdisziplin und der Bußübung in unserer Kirche die uns allen bekannte Form gewonnen: Buße ist Stimmung, Gefühl, Erregt-Sein, Angst; Buße heißt Tränen vergießen – so klingt es weithin durch unser Gesangbuch, so singt es die Arie der Matthäus-Passion, so gestalten es unsere Sitten beim Bußtag, am Karfreitag, am Syl­vester, so bestimmt es unsere Evangelisation. Aber dies alles geht an dem, was die Bibel mit Metanoia meint, noch ganz vorbei. Es kann ja sein, daß es, mehr als man oft denkt, so etwas wie Strafe gibt in unser aller Leben. Aber das Neue Testament ist merkwürdig sparsam im Gebrauch dieses Wortes und ähnlicher Worte; und wenn von Strafe gesprochen wird, so ist gemeint, daß das, was Abfall von Gott heißt, sich bis in die letzten Folgerungen in unserm Leben auswirkt (vgl. Röm 1, 20 ff.). Und es kann wohl sein, daß Umkehr und Buße auch Trauer, ja Tränen bedeutet (vgl. 2. Kor. 7, 9 f.). Aber das ist nur Begleiterscheinung einer bestimmten Wendung auf Gott hin. Die Begleiterscheinung kann völlig fehlen und die Wen­dung doch da sein. Es geht bei der Metanoia um Gott und nicht um Strafe oder Trauer.

Metanoia ist auch weit mehr als „Sinnesänderung“. Diese Übersetzung des griechischen Wor­tes, auf die man sich noch etwas zugute tut, ist einfach falsch. Kein Mensch hat in der Zeit des Neuen Testaments noch an die Etymologie des Wortes Metanoia gedacht, das Wort ist ebenso abgegriffen wie unser Wort Buße. Zudem ist Sinnesänderung etwas viel zu Harmloses, eine Verfälschung der biblischen Metanoia: Wir denken dabei an unsern Sinn, an unsere Psyche; stolz wendet sich der Mensch vom Äußerlichen ab und ändert seinen Sinn. Aber Gott begnügt sich nicht mit unserm Sinn, sondern er fordert die ganze Tat, all unser Tun bis ins kleinste; ja und er fordert auch unsern Sinn, unser innerstes Herz, aber nicht so, daß sich hier ein vortreff­licher, neugesinnter Mensch darstellt, sondern so, daß sich Sinn und Herz wie Tat und Werk zu Gott wenden. Metanoia heißt Wendung zu Gott. […]

Umkehr ist Freude! Bei Jesus ist, nun anders als beim Täufer, der Bußruf schrankenlos Evan­gelium, Freudenwort. Umkehr ist Freude, Gott recht geben ist Freude. Bei den Umkehrenden beginnt die Freude der messianischen Zeit, die Hochzeit, das Freuden-Mahl (Mk. 2, 15 ff.). Es ist Freude, daß von Gott her die Dinge zurecht gebracht werden, die verwirrt und ver­kehrt waren (Lk. 19, 6 ff.). Ja, der Bußruf selbst ist Freude. Die Bergrede, das Bußwort vor allen andern Worten der Bibel, sie ist umschlungen von Freude, sie ist Seligpreisung derer, die nichts haben, die vor Gott arm, niedrig, hungernd sind; die Trauernden und Wartenden werden seliggepriesen. Von da aus erst bekommen all die furchtbaren Worte ihren Klang, die Worte von der Hölle und vom Fluch und von der Schuld: Es gibt ja kein Wort der Spruchreihe von Mt. 5, 21 ff., das nicht den Hörer schrankenlos verurteilte. Zugleich aber klingen all diese Worte aus dem schrankenlosen Ja. Es ist wirklich möglich, daß das Auge ausgerissen wird, daß die rechte Hand nicht weiß, was die linke tut, daß wirklich vergeben wird, wie der Vater vergibt, daß wirklich Worte geredet werden, die am Jüngsten Gericht bestehen, daß wirklich der Feind gesegnet und nicht verflucht wird: denn die Gotteskindschaft ist jetzt da. Was jeder Jude als ein Postulat, als ein Sein-Sollendes schon kennt, daß jeder einzelne vor Gott steht wie ein Sohn vor dem Vater, es wird hier als Wirklichkeit zugesprochen (Mt. 5, 16. 45. 48). Er, Jesus, der eine Sohn, spricht die Gotteskindschaft zu. Er spricht sie eben denen zu, deren Haß und Argheit nichts verdient hätte als das ewige Feuer, den ewigen Tod (Mt. 5, 45; 7, 11; 5, 21 ff.).

Er spricht den Gewinn des Lebens dem zu, der das Leben verliert (Mt. 16, 25), nein, vielmehr denen, die das Leben verloren haben, deren Leben dem Tod verfallen ist (Mt. 16, 26), für sie aber tritt er ein mit dem Einsatz des eigenen Lebens (Mk. 10, 45). Der selbst vor Gott gering und arm ist (Mt. 11, 29), der selbst ohne Trost, verlassen und hilflos ist (Mk. 14, 32ff.; 15, 34), Er, der Gekreuzigte, er selbst ist der Träger aller Seligpreisungen: der Tröster, der Evan­gelist, der Friedebringer, der eine Sohn. Er selbst ist unsere Umkehr zu Gott.

Evangelische Metanoia

Von Julius Schniewind

In den Vorbesprechungen zu unserer Tagung wurde als die Frage dieses Vortrags das eine herausgestellt: wie soll, was evangelische Verkündigung und evangelische Theologie bedeutet, in unserem Alltagsleben wirken? Die Mehrzahl unter uns steht noch nicht in der Aufgabe des Verkündens: was hat dann das Gehörte für unser Alltagsleben zu bedeuten? Bei uns andern, deren Lebensaufgabe Verkündigung heißt, steht neben der Verkündigung der Alltag und seine Arbeit und Mühe, seine aufreibende Unruhe und sein Kampf; und die Verkündigung selbst und ihre Vorbereitung ist zunächst einmal alles dies: Arbeit, Mühe, Kampf und Ringen, aufreibender Kampf.

So wird also die Frage unseres Alltags gestellt, für uns alle. Und nun suchten wir in unserer Vorbesprechung das biblische Wort, mit dem das uns bewegende Anliegen am besten umschrieben wird. Man könnte von Heiligung reden, vom Werk, vom Wandel. Aber nun sollte, wie von evangelischer Verkündigung und evangelischer Theologie, so auch vom Evangelium in Tun und Treue des Alltags gesprochen werden. Und das Wort, das uns zu solcher Beziehung des Alltags auf das Evangelium geboten wird, heißt im Neuen Testament: Metanoia. „Was sollen wir tun?“ fragen die Leute am Pfingsttag, da Petrus’ Rede ihre Herzen durchbohrt; und die Antwort lautet: „Kehret um (Apg. 2, 37 f.), ein jeder von euch lasse sich taufen auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung eurer Sünden, und dann werdet ihr die Gabe des heiligen Geistes empfangen.“

1.

„Was sollen wir tun?“ „Kehret um“, tí poiḗsōmen; metanoḗsate. Wir reden von Metanoia, ausdrücklich und absichtlich nicht von Buße. Das Wort Buße ist nämlich mit Vorstellungen behaftet, die genau an dem vorbeiführen, was die Bibel mit Metanoia meint. Buße heißt in unserer Sprache zunächst soviel wie Strafe. In Süddeutschland ist es noch gebräuchlich, von einer Geldbuße zu reden, [10] wenn man Strafe zahlen muß, und in ganz Deutschland gebraucht man noch so das Verbum, wenn wir von ab-büßen reden: ich mache etwas wieder gut, indem ich es abbüße, indem ich willig die verdiente Strafe trage. Dies Abbüßen und Strafetragen hat dann in einer langen Geschichte der Bußdisziplin und der Bußübung in unserer Kirche die uns allen bekannte Form gewonnen: Buße ist Stimmung, Gefühl, Erregt-Sein, Angst; Buße heißt Tränen vergießen – so klingt es weithin durch unser Gesangbuch, so singt es die Arie der Matthäus-Passion, so gestalten es unsere Sitten beim Bußtag, am Karfreitag, am Sylvester, so bestimmt es unsere Evangelisation. Aber dies alles geht an dem, was die Bibel mit Metanoia meint, noch ganz vorbei. Es kann ja sein, daß es, mehr als man oft denkt, so etwas wie Strafe gibt in unser aller Leben. Aber das Neue Testament ist merkwürdig sparsam im Gebrauch dieses Wortes und ähnlicher Worte; und wenn von Strafe gesprochen wird, so ist gemeint, daß das, was Abfall von Gott heißt, sich bis in die letzten Folgerungen in unserm Leben auswirkt (vgl. Röm 1, 20 ff.). Und es kann wohl sein, daß Umkehr und Buße auch Trauer, ja Tränen bedeutet (vgl. 2. Kor. 7, 9 f.). Aber das ist nur Begleiterscheinung einer bestimmten Wendung auf Gott hin. Die Begleiterscheinung kann völlig fehlen und die Wendung doch da sein. Es geht bei der Metanoia um Gott und nicht um Strafe oder Trauer.

Metanoia ist auch weit mehr als „Sinnesänderung“. Diese Übersetzung des griechischen Wortes, auf die man sich noch etwas zugute tut, ist einfach falsch. Kein Mensch hat in der Zeit des Neuen Testaments noch an die Etymologie des Wortes Metanoia gedacht, das Wort ist ebenso abgegriffen wie unser Wort Buße. Zudem ist Sinnesänderung etwas viel zu Harmloses, eine Verfälschung der biblischen Metanoia: Wir denken dabei an unsern Sinn, an unsere Psyche; stolz wendet sich der Mensch vom Äußerlichen ab und ändert seinen Sinn. Aber Gott begnügt sich nicht mit unserm Sinn, sondern er fordert die ganze Tat, all unser Tun bis ins kleinste; ja und er fordert auch unsern Sinn, unser innerstes Herz, aber nicht so, daß sich hier ein vortrefflicher, neugesinnter Mensch darstellt, sondern so, daß sich Sinn und Herz wie Tat und Werk zu Gott wenden. Metanoia heißt Wendung zu Gott.

Dies nämlich bedeutet das hebräische oder aramäische Wort, das Johannes der Täufer, das Jesus gebraucht (Mt. 3, 2; 4, 17). Das Wort heißt schubu und bedeutet „Kehret um“, „Bekehrt euch“. Luther beschreibt, wie es ihm eine befreiende Entdeckung war, daß das Wort „tut Buße“ zu übersetzen sei mit „convertimini“ und nicht mit „poenitentiam agite“[1]. „Wendet euch zu Gott, kehret [11] euch zu Gott“, das heißt „tut Buße“. Buße heißt Umkehr, Bekehrung; und so übersetzt Luther auch die entsprechenden hebräischen Worte bei den Propheten und im ganzen Alten Testament. „Willst du dich, Israel, bekehren, spricht der Herr, so bekehre dich zu mir“ (Jer. 4, 1). „Bekehre mich du, so werde ich bekehrt, denn du Herr bist mein Gott“ (Jer. 31, 18). „Laßt uns forschen und prüfen unser Wesen und uns zum Herrn bekehren“ (Klgl. 3, 40). „Der Gottlose lasse von seinem Wege und der Übeltäter seine Gedanken und bekehre sich zum Herrn, so wird er sich sein erbarmen, und zu unserm Gott, denn bei ihm ist viel Vergebung“ (Jes. 55, 7); und dann wird davon gesprochen, daß Gottes Gedanken hoch über den unsern sind, wie der Himmel über der Erde, daß sein Wort, wie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und die Erde fruchtbar macht, wirksam gesendet, Gottes Werk und Gottes Tat vollzieht. Gott also ist es, der die Bekehrung selber bewirkt. Er kehrt sich zu uns, wendet sich zu uns, und die Antwort darauf ist unsere Umkehr und Wendung. Wendet euch zu Gott, denn Gott wendet sich zu euch, kehrt um, denn Gott kehrt sich zu euch.

Wir reden von evangelischer Metanoia. Wir sagen damit, daß Metanoia, Umkehr, vom Evangelium her geschehe, aus dem Evangelium heraus, durch das Evangelium gestaltet. Vom Evangelium her kommt die Buße, Umkehr, Bekehrung. So steht es gleich von Anfang des Neuen Testaments. Der Täufer kommt und spricht: „Kehret um, denn die Himmelsherrschaft hat sich genaht“ (Mt. 3, 2). Der ganze Akzent liegt auf dem „denn“. Weil Gottes Herrschaft naht und kommt, weil Gott die Herrschaft antritt und die Satansherrschaft besiegt, darum kann jetzt ein jeder zu Gott nahen, zu Gott kommen und umkehren. Darum tauft Johannes „eine Taufe der Umkehr zur Vergebung der Sünden“ (Mk. 1, 4). Taufe heißt untertauchen, begraben werden, in den Tod gegeben und verurteilt werden. So also verkündet der letzte Prophet die endgültige Umkehr zu Gott: Diese Umkehr heißt Sterben, dem Tode verfallen! Es ist jetzt wirklich möglich, diesem schrankenlosen Urteil Gottes recht zu geben (Lk. 7, 29), denn in der Taufe spricht Gott mit dem Todesurteil zugleich das Lebensurteil: gestorben, versenkt, begraben die alte Existenz, aber ein ganz Neues hebt jetzt an, da Gott die Herrschaft antritt. Gott läßt das Alte nicht gelten, er vergibt, und es gilt nur, diesem Urteil Gottes recht zu geben. – Johannes predigt und tauft auf den Kommenden hin. Alles ist Erwartung dessen, der jetzt kommt, der die Vergebung bringt und den Heiligen Geist, der Gegenwart und Herrschaft Gottes heraufführt. Einmal bei Lukas (3, 18) wird die Verkündigung des Täufers schon als ein Evangelisieren bezeichnet – in der Tat, schon die Verkündigung des Täufers geht von einer Freudenbotschaft aus: Gott selbst kommt jetzt und seine [12] Vergebung. Darum „kehret um“. Aber es ist noch ein Pro-Euangelion, es ist noch wartende, fragende Verkündigung: Bist du wirklich der Kommende, oder sollen wir eines andern warten? (Mt. 11, 3)

Jesus ist der Kommende. Es wird durchaus richtig sein, wenn bei Matthäus (4, 17) seine Verkündigung der des Täufers wörtlich gleichlautet: „Kehrt um, denn die Himmelsherrschaft hat sich genaht.“ Nur „wer Ohren hat zu hören“, der hört, daß in Jesu Wort und Tat der Kommende selbst spricht und handelt, der Kommende, dessen ganzes Wort Evangelium ist, Freudenruf. Bei Markus wird das ausdrücklich gesagt (1, 15): „Die Zeit ist erfüllet und Gottes Herrschaft hat sich genaht, kehrt um und traut auf die Freudenbotschaft.“ Wir verstehen es jetzt: hier wird nicht zweierlei gesagt, Buße und Glauben, Buße und Evangelium, sondern die Umkehr besteht eben darin, daß man der Freudenbotschaft traut; die Umkehr stammt ja daher, daß Gottes Herrschaft jetzt da ist.

Alles, was Jesus ist und tut, heißt Umkehr; alles, was Jesus ist und tut, heißt Freudenbotschaft. Ihm begegnen, das heißt umkehren; er kann das Ziel seiner ganzen Predigt mit diesem Wort beschreiben; es wird etwa Mt. 11, 20; Lk. 13, 3 gebraucht, wo Luther, wohl zu schwach, „bessern“ statt „umkehren“ übersetzt. Wehe, wer ihn abweist! Hier ist mehr als Jona und als Salomo (Lk. 11, 29 ff.). Tyrus und Sidon, Sodom und Gomorrha wird es erträglicher ergehen als denen, die ihn abweisen (Lk. 10, 12 ff.). Denn hier ist mehr als alle Boten Gottes von Abraham an bis zu den Königen und Propheten (Lk. 10, 23 f.). Hier ist der eine Bote Gottes, der eine Freudenbote, in dem Gottes Herrschaft selber Gegenwart wird, in dem Gott selber kommt. Wehe, wer ihn abweist! Und noch seinen Jüngern gilt diese Vollmacht. Hier kommt die Herrschaft Gottes selbst, so kann die Jüngerpredigt beschrieben werden (Lk. 10, 9. 11); hier kommt der letzte Ruf zur Umkehr (Mk. 6, 12): wehe, wer Jesu Jünger abweist!

Jesus kommt und ruft die Sünder zur Umkehr (Lk. 5, 32), ruft die Sünder zu Gott – und nicht die Gerechten. „Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, die Gerechten bedürfen der Umkehr nicht“ (Lk. 15, 7). Man darf solche Worte nicht vorschnell als ironisch bezeichnen. Sie sind bitter ernst gemeint. Der älteste Sohn von Lk. 15 ist beim Vater geblieben und nicht weggegangen, und die von Tagesanbruch Arbeitenden haben dem Herrn den Dienst nicht geweigert (Mt. 20, 10-15). Ist es nicht wahr, sie sind gerecht und es fehlt ihnen nichts? – Sie wollen in ihrer wirklichen Gerechtigkeit, in ihrer wirklichen Frömmigkeit vor Gott ein Recht haben, und der andere hat unrecht! Ich bin besser als der jüngere Bruder, der so schmählich gelebt hat; ich bin besser als der träge Zuspät-[13]kommende, ich habe des Tages Last und Hitze getragen. Gott aber erwartete, daß der Gerechte sich über den Umkehrenden freute (Lk. 15, 24. 32), sich wie Gott freute. Gott will Erbarmen und nicht Opfer, dies Wort aus Hosea (6, 6) wird von Matthäus zweimal angeführt (Mt. 9, 13; 12, 7), um Jesu Kampf gegen die Pharisäer zu kennzeichnen. Ein Erbarmen sucht Gott, wie er selbst voll Erbarmen ist. Und wir kennen den Klang der biblischen Worte, die Luther mit Erbarmen oder „es jammerte ihn“ übersetzt: daß man die Not des andern nicht ansehen kann; sie bricht uns das Herz. So sieht ja Gott selbst die Not, so sieht Jesu sie an. – Und habe ich wirklich vor Gott recht? „Habe ich nicht das Recht, zu tun, was ich will an den Meinen“, spricht der Herr zum murrenden Knecht (Mt. 20, 15). „Du bist allzeit bei mir, und was mein ist, ist dein“, spricht der Vater zum zürnenden Sohn (Lk. 15, 31). Sie ist ja doch nur Gottes Gabe, du Gerechter, deine Gerechtigkeit. Du bist doch vor Gott nur der Empfangende und immer nur der Empfangende, und da gönnst du dem Sünder nicht, was er von Gott empfängt? Gönnst ihm nicht, daß auch er vor Gott der Empfangende, Begnadete ist? Vielleicht, daß ihr vor Gott gar nicht die Empfangenden sein wollt, daß ihr vor Gott ein Recht haben wollt und euch eben darüber erzürnt, daß die andern, die Zöllner und Sünder, Gott recht geben; ihr aber wollt ihm nicht recht geben (Lk. 7, 29 f.). „Die Zöllner und Huren gehen eher als ihr in Gottes Herrschaft ein“ (Mt. 21, 31). Hier beim Sünder kommt zutage, wie wir eigentlich alle vor Gott stehen! Nämlich als die, die vor ihm keine Rechte haben und seiner Verurteilung recht geben müssen. Das Gebet des Zöllners im Tempel (Lk. 18, 13) ist, so hat man mit Recht[2] gesagt, nicht ein Gebet neben anderen, sondern „die vor Gott einzig mögliche Haltung“.

Jesus selbst ist die Umkehr der Sünder. Dies sagt das ganze Kapitel Lukas 15. Jesus gibt hier nicht eine Lehre über die Bereitschaft Gottes, zu vergeben; diese „Lehre“ kennt schon das Alte Testament. Vielmehr geht es um Jesu Verhalten und Tun. Er ist „der Zöllner und der Sünder Freund“ (Mt. 11, 19). Er ist es, der die Hoffnung von Hesekiel 34 erfüllt: Ein Hirt wird kommen, der sich so erbarmt, wie Gott sich selbst erbarmt, der (wenn man es so ausdrücken darf) in Person die Bekehrung Gottes zu uns ist, die Wendung Gottes zu den Verlorenen; einer, der sich der Umkehrenden so freut, wie Gott selbst, wie der ganze Himmel sich freut (Lk. 15, 7. 10).

Umkehr ist Freude! Bei Jesus ist, nun anders als beim Täufer, der Bußruf schrankenlos Evangelium, Freudenwort. Umkehr ist Freude, Gott recht geben ist Freude. Bei den Umkehrenden beginnt die [14] Freude der messianischen Zeit, die Hochzeit, das Freuden-Mahl (Mk. 2, 15 ff.). Es ist Freude, daß von Gott her die Dinge zurecht gebracht werden, die verwirrt und verkehrt waren (Lk. 19, 6 ff.). Ja, der Bußruf selbst ist Freude. Die Bergrede, das Bußwort vor allen andern Worten der Bibel, sie ist umschlungen von Freude, sie ist Seligpreisung derer, die nichts haben, die vor Gott arm, niedrig, hungernd sind; die Trauernden und Wartenden werden seliggepriesen. Von da aus erst bekommen all die furchtbaren Worte ihren Klang, die Worte von der Hölle und vom Fluch und von der Schuld: Es gibt ja kein Wort der Spruchreihe von Mt. 5, 21 ff., das nicht den Hörer schrankenlos verurteilte. Zugleich aber klingen all diese Worte aus dem schrankenlosen Ja. Es ist wirklich möglich, daß das Auge ausgerissen wird, daß die rechte Hand nicht weiß, was die linke tut, daß wirklich vergeben wird, wie der Vater vergibt, daß wirklich Worte geredet werden, die am Jüngsten Gericht bestehen, daß wirklich der Feind gesegnet und nicht verflucht wird: denn die Gotteskindschaft ist jetzt da. Was jeder Jude als ein Postulat, als ein Sein-Sollendes schon kennt, daß jeder einzelne vor Gott steht wie ein Sohn vor dem Vater, es wird hier als Wirklichkeit zugesprochen (Mt. 5, 16. 45. 48). Er, Jesus, der eine Sohn, spricht die Gotteskindschaft zu. Er spricht sie eben denen zu, deren Haß und Argheit nichts verdient hätte als das ewige Feuer, den ewigen Tod (Mt. 5, 45; 7, 11; 5, 21 ff.).

Er spricht den Gewinn des Lebens dem zu, der das Leben verliert (Mt. 16, 25), nein, vielmehr denen, die das Leben verloren haben, deren Leben dem Tod verfallen ist (Mt. 16, 26), für sie aber tritt er ein mit dem Einsatz des eigenen Lebens (Mk. 10, 45). Der selbst vor Gott gering und arm ist (Mt. 11, 29), der selbst ohne Trost, verlassen und hilflos ist (Mk. 14, 32ff.; 15, 34), Er, der Gekreuzigte, er selbst ist der Träger aller Seligpreisungen: der Tröster, der Evangelist, der Friedebringer, der eine Sohn. Er selbst ist unsere Umkehr zu Gott.

2.

Was er auf Erden und als der Gekreuzigte ist und tut, das ist und tut er auf die Auferstehung hin; ja, er tut es schon aus Vollmacht und Gewalt der Auferstehung (Mk. 2, 10; vgl. Mt. 28, 18), er handelt und spricht schon auf Erden von der Auferstehung her[3]. Er, der Auferstandene, ist die Umkehr, die Gott gibt. Gott gibt Israel Umkehr und Vergebung der Sünden (Apg. 5, 31), Gott gibt den Heiden Umkehr zum Leben (Apg. 11, 18). Die Umkehr besteht darin, daß man Vergebung empfängt, darin, daß man das ewige [15] Leben empfängt. Hier hat das Vorrecht der Juden ein Ende; aber auch umgekehrt, hier ist Israels Schuld noch nicht unabwendbar: „Laßt’s euch reuen und kehret um, daß eure Sünden ausgetilgt werden und die Zeiten der Erquickung, von Gott verheißen, kommen“ (Apg. 3, 19 f.).

Der Ruf zur Umkehr aber ist, wie eine Gabe von Gott, so zugleich ein Befehl. Gott gebietet allen umzukehren, ehe das Gericht kommt (Apg. 17, 30). Er läßt Juden wie Heiden die Umkehr noch einmal verkünden wie in einer feierlichen Proklamation: „… umzukehren und sich zu Gott zu wenden und Werke zu tun, die der Umkehr entsprechen“ (Apg. 26, 20). Und es ist nun das gleiche, zu Gott umzukehren (Apg. 14, 15; 15, 19) und zum Herrn umzukehren (Apg. 9, 35; 11, 21); von der Finsternis zum Licht, von der Gewalt des Satans zu Gott (26, 18). Oder es kann so bestimmt werden: Es wird den Juden wie den Griechen bezeugt, „die Umkehr zu Gott und der Glaube an unsern Herrn Jesus“ oder, wie es vielleicht noch kraftvoller heißt, „der durch ihn (d. h. unsern Herrn Jesus Christus) geschaffene Glaube“ (Apg. 20, 21). Oder die Missionsrede der ersten Christen hat davon gesprochen, daß jetzt die Wendung von den Idolen zum lebendigen und wahren Gott geschenkt wird und die freudige Erwartung des kommenden Weltenrichters, denn dieser ist Jesus, der Erretter vom kommenden Zorn (1. Thess. 1, 9. 10). Oder es wird gesprochen von der Umkehr zum Hirten und Hüter der Seelen (1. Petr. 3, 25), also ganz ähnlich wie in Lukas 15. – Und so steht es nun über der gesamten Verkündigung des Neuen Testaments: Jetzt ist es geschenkt, daß aus dem Tode heraus ein Umkehren möglich ist. „Umkehr, fort von den toten Werken“ nennt es einmal der Hebräerbrief (6, 1), fort von den Werken, die den Tod in sich tragen, schon in sich die Signatur der ewigen Scheidung von Gott tragen; Umkehr von dem Tode, wie es schon Johannes’ Taufe verkündete, wie die Umkehr des verlorenen Sohnes beschrieben wird (Lk. 15, 17 ff.), wie die Bergpredigt es schenkte. Und es ist jetzt noch ein Warten Gottes, ehe das endgültige Todesurteil, der Zorn, das Gericht kommt. Gott ist noch langmütig, er wartet noch zu, und gerade diese seine Langmut sollte zur Umkehr treiben (Röm 2, 4; 2. Petr. 3, 9).

Von da aus entstehen dann freilich ganz neue Werke, Werke, die der Umkehr entsprechen, wie es in der Apostelgeschichte und ebenso schon bei Johannes dem Täufer hieß (Apg. 26, 20; Mt. 3, 8); Werke, aus Gottes Wundermacht gewirkt (Mk.30,26f.; Eph.2,10; Mt. 5, 16), die wie die neue Frucht erwachsen, da der Baum neu wird (Mt. 3, 8; 7, 15 ff.; Gal. 5, 22). Solche Werke beziehen sich auf die konkreten Einzelheiten des Lebens: „Kehre um von dieser deiner Bosheit und bitte den Herrn, ob dir der Anschlag deines [16] Herzens vergeben werden möge“, so wird zu Simon Magus gesagt (Apg. 8, 22). Und von den Schrecken der apokalyptischen Zeiten heißt es (Offb. 9, 20. 21): „Die Menschen kehrten nicht um von den Werken ihrer Hände, daß sie die Dämonen nicht mehr angebetet hätten, noch die goldenen, silbernen, ehernen, steinernen und hölzernen Götzen, und kehrten nicht um von ihren Mordtaten, ihrer Zauberei, ihrer Unzucht und ihren Diebstählen.“ Aus der Übertretung des ersten Gebotes folgt die Übertretung aller andern Gebote, und die Umkehr von den Idolen zu Gott wäre zugleich die Umwandlung des ganzen Lebens.

Nicht anders aber wird zu den Christen geredet. „Ich fürchte“, schreibt Paulus nach Korinth (2. Kor. 12, 20. 21), „daß, wenn ich zu euch komme, bei euch Streit, Eifersucht, Zorn, Parteisuche, Verleumdungen, Unfrieden, Aufblähung, Unordnung herrsche und daß ich über viele von denen trauern muß, die früher gesündigt haben und nicht umgekehrt sind von ihrer Unreinheit und Unzucht und Ausschweifung, die sie getrieben haben.“ Oder das berühmte Wort im selben 2. Korinther-Brief (7, 9 f.) von der „göttlichen Traurigkeit“, die „eine Reue schafft, die niemand gereut“: So übersetzt Luther; aber vielleicht klingt der Text noch kraftvoller: betrübt auf Umkehr hin, und zwar nach Gottes Art betrübt, weil diese Betrübnis eine Umkehr wirkt, die ewiges Heil bedeutet, und diese Umkehr reut niemand. Hierin aber zeigt sich schon, daß diese Traurigkeit gerade das nicht meint, was wir üblicherweise unter Bußstimmung verstehen. Eben dies meint Paulus mit dem Satz: „Die Betrübnis der Welt wirkt den Tod.“ Das bloße Empfinden des Verfehlens ist ja selbst nur ein Zeichen des ewigen Todes, während die Umkehr von Gott her in sich ewige Seligkeit bedeutet. – An Christen sind auch die Sendschreiben der Johannes-Offenbarung gerichtet mit ihrem immer wiederkehrenden Ruf zur Umkehr: „kehre um und tu die ersten Werke“ (2, 5); „ich habe ihr Zeit gegeben zur Buße, aber sie will nicht umkehren“…, „siehe, ich werfe sie aufs Krankenbett, wenn sie nicht umkehren von ihren Werken“ (2, 21. 22). Der du tot bist, „denke daran, was du überkommen und gehört hast, halte es, kehre um!“ (3, 3). Damit ist das Wort gemeint, das mitten in den Tod hinein Leben, Vergebung und Seligkeit kündet; sich daran erinnern, hieße umkehren. Kehre um, sonst komme ich dir wie der Dieb in der Nacht (3, 3). Der du lau bist, wärest du doch kalt oder heiß! (3, 15). Die ich liebe, die strafe und züchtige ich; darum sei eifrig und kehre um! (3, 19). Gottes Strafe also ist gerade ein Zeichen dafür, daß es noch die Möglichkeit der Umkehr gibt! Also wieder das genaue Gegenteil von dem, was man aus Strafe und Buße in der christlichen Kirche gemacht hat. – Ebenso aber wie der 2. Korintherbrief und die Offenbarung redet der [17] ganze 1. Johannesbrief, der ganze 2. Petrusbrief, reden die Pastoralbriefe. Es ist der nie endende Kampf, der dann in der ganzen Kirchengeschichte weitergeht gegen die „Umkehrung der Gnade Gottes in Zuchtlosigkeit“ (Jud. 4), die Verdrehung der Gnadenlehre (Röm 6, 1. 15), ein Kampf, der von den ersten Anfängen der paulinischen Mission in Korinth an sichtbar durchgefochten wird und gerade, so oft die Freudenbotschaft neu und laut verkündet wird, am heftigsten neu entbrennt, besonders in den Kirchen der Reformation. Merkwürdig ist nur, wie stark die Hoffnung bleibt, auch im härtesten Kampf; daß Paulus hoffen kann, noch der ärgste Zerstörer der Gemeinde werde am Jüngsten Tag ewiges Heil finden (1. Kor. 3, 15; 5, 5), auch wenn er erst dem Satan übergeben war, auch wenn sein ganzes Werk verbrennen muß. Noch bei den ärgsten Gegnern bleibt die Hoffnung, „ob Gott ihnen wohl Umkehr zur Erkenntnis der Wahrheit schenken möge und sie wieder nüchtern würden, los von des Teufels Strick, von dem sie gefangen waren, seinem Willen dienlich zu sein“ (2. Tim. 2, 25. 26). Aber diese Hoffnung ist eins mit der Furcht, es könnte einmal zur Umkehr zu spät sein (Hebr. 12, 17; 6, 6), es möchte Sünde geschehen, der keine Vergebung mehr gilt (Mt. 12, 31 f.; Hebr. 10, 26 f.; 1. Joh. 5, 16).

Sind das alles nur besondere Fälle, eine besondere Abirrung? Ist die erste These Luthers auch die These des Neuen Testaments: daß das ganze Leben der Gläubigen Buße sei? Man hat das oft bestritten; aber schon, was wir bisher erkannten, zeigt das Gegenteil. Warum werden die Thessalonicher (1. Thess. 1, 9. 10), warum werden die Leser des ersten Petrusbriefs (1. Petr. 2, 25) an ihre frühere Umkehr erinnert? Weil sie jetzt ihr Leben der Umkehr entsprechend gestalten können, gestalten sollen, „sich nicht anpassen ihrem früheren Begehren, dem sie früher, da sie noch unwissend waren, folgten“ (1. Petr. 1, 14). Der ganze erste Teil des Römerbriefs, so hat man erkannt, ist nichts als eine Wiederholung des Bußrufs, des Rufs zur Umkehr, wie ihn die Missionspredigt des Paulus gestaltete. Der Ruf zur Umkehr, der einst die Heiden wie die Juden traf, er trifft, da Paulus an sie schreibt, die Römergemeinde neu, angesichts der beständigen Gefahr, von der wir vorhin sprachen, die allen Christengemeinden beständig droht, da Gottes Gericht zu verziehen scheint und das Evangelium Freiheit predigt: „Aber weißt du nicht, daß dich Gottes Güte zur Umkehr treibt?“ (Röm 2,4). Ebenso aber geht der ganze Römerbrief weiter. Wie hebt Paulus an, da er zu dem übergeht, was wir „sittliche Mahnungen“ zu nennen pflegen? „Ich beschwöre euch beim Erbarmen Gottes, eure Leiber Gott zum Opfer darzubringen“ (Röm 12, 1). So gewiß das Erbarmen Gottes [18] gilt, steht sein Todesurteil (Johannes-Taufe! Bergrede!) über unserem ganzen Leben hier im Leibe und auf Erden. Gib dem Urteil Gottes recht! Gib Gott recht. „Und paßt euch nicht diesem Äon an, sondern verwandelt euch durch Erneuerung eures Verstandes, zu prüfen, was der Wille Gottes ist“ (Röm 12, 2). Es wird also für alle Christen vorausgesetzt, daß sie der beständigen Erneuerung bedürfen. Diese Erneuerung ist eine völlige Verwandlung, eine Metamorphose: die Gestalt der gegenwärtigen Welt (1. Kor. 7, 31b), in der wir doch leben (Joh. 17, 11. 15) und die uns beständig umgibt, bestimmt uns dennoch nicht. Und dies deshalb nicht, weil Verstand, Denken, Urteil neu bestimmt sind durch Gottes Urteil: uns selbst, der Sünde, diesem Weltlauf gestorben, lebend aber für Gott durch Christus. – Wir haben mit diesem letzten schon die Formulierung von Röm 6 aufgenommen. In Röm 6 wird von der Taufe her und vom Evangelium gesagt, daß die Neuheit ewigen Lebens (V. 4), das Urteil Gottes (V. 11), die Herrschaft Gottes (V. 13) die Unterwerfung unter ihn, seinen Gehorsam, sein Evangelium (V. 16. 17) die Freiheit vom Sündigen bedeutet. Gehorsam also, aber als beständig neue Mahnung; doch eine Mahnung vom Evangelium her, evangelische Metanoia! Dasselbe Röm 8. Man übersieht leicht, daß in diesem Kapitel der Widerstreit zwischen Fleisch und Geist so schroff beschrieben wird wie nur je der von Fleisch und „Vernunft“ in Röm 7 (Röm 8, 5 ff., 12 ff.). Der Geist aber hat Herrschaft und Recht; dies aber so, daß alles, was vom Geist gesagt ist, nur das eine bedeutet: in der Rechtfertigung stehen. Keine Sklavenfurcht mehr, beten können jenseits der eigenen Unfähigkeit (Röm 8, 16), das heißt unter dem Antrieb des Geistes stehen. Sein Eintreten für uns aber wird mit genau den gleichen Worten beschrieben wie das Eintreten des erhöhten Christus (Röm 8, 26. 34); und wenn es richtig ist, daß in unserm Kapitel „in Christus“ und „im Geist“ austauschbar stehen, so bedeutet dies, daß alles, was vom Geist gesagt wird, von Christus her verstanden wird. Wandel im Geist heißt: in der beständigen Rechtfertigung, unter dem Ruf Gottes stehen (Röm 8, 30; 8, 1 ; 8, 33; 1. Kor. 6, 11; Gal. 5, 13-25; 1. Thess. 4, 7. 8).

Wir müssen es uns versagen, das Gesagte durch die ganze Weite der Paulusbriefe, des Neuen Testamentes überhaupt durchzuführen. Wo man nur das Neue Testament aufschlägt, trifft man Mahnung und Imperativ, eine Mahnung, die immer auf das Letzte geht, die ganze Wendung zu Gott. Diese Mahnung aber bedeutet stets Zuspruch des Evangeliums: „Ihr seid gestorben“ – „Christus ist euer Leben“; darum: ein Leben, das von der andern Welt her bestimmt ist, und dies prägt sich in ganz bestimmten Einzelheiten des täglichen Lebens aus (Kol. 3, 1-4. 5 ff.). Oder: Ihr habt den Christus nicht so gelernt, daß bei ihm heidnischer Wandel möglich bleibt; vielmehr: [19] „Wahrheit ist es in Jesus geworden, daß ihr den alten Menschen, der dem früheren Wandel entspricht, ablegen könnt, daß ihr euch vielmehr erneut im Geist eures Denkens und den neuen Menschen anzieht, der nach Gott geschaffen ist in Gerechtigkeit und Heiligkeit, die aus der Wahrheit stammen“ (Eph. 4, 17 ff. 21-24). Es ist Wahrheit geworden, Realität, was seit Johannes’ Taufe verkündet wird: das alte Leben gilt als tot, und das Ebenbild Gottes, der neue Adam, ist mit Jesus Wahrheit und Wirklichkeit geworden. Dies ist Wahrheit; laß es gelten, richte Denken und Urteilen danach! Die gleiche Mahnung also wie in Röm 6, diesmal aber mit der einen Wirklichkeit begründet, die hinter allem stand, was wir aus dem ganzen Neuen Testament hörten: Jesus ist erschienen. Dies umfaßt Kreuz und Auferstehung in sich, Tötung und Neuheit des Lebens (2. Kor. 4, 10).

3.

Dominus et magister noster Jesus Christus dicendo Poenitentiam agite etc. omnem vitam fidelium poenitentiam esse voluit[4].Luther hat recht gehabt mit seiner These. Es geht um die ganze Wendung des ganzen Lebens zu Gott. Aber diese Wendung zu Gott heißt Jesus Christus, Gottes Hinkehr zu uns. Darum ist diese Wendung, die Umkehr, die Buße selbst die Vergebung, ist selbst das Glauben, und es ist also falsch, Buße und Glauben als zweierlei, als ein Nacheinander aufzufassen. Die Bekehrung ist selbst die nuda fiducia[5], die sich aufs Evangelium gründet, im Evangelium beschlossen liegt, am Evangelium entsteht.

Wie sich das vollzieht? Es ist gewiß so, daß, mehr als man denkt, eine subita conversio, ein einmaliges, besonderes Verstehenlernen, das erschließt, was nuda fiducia, was promissio evangelii ist. Dies auch in der Form, daß etwa in einer besonderen Epoche des Lebens, in einer besonderen Zeitspanne, das, was Evangelium heißt, uns erstmalig verständlich wird. Den sogenannten Kinderglauben gibt es nicht (Jesu Worte von den Kindern meinen etwas ganz anderes), es gibt kein Menschenleben, in dem nicht erst in den konkreten Dingen des Lebens das Fragen nach Gott erwachte. Und zwar geschieht das immer nur an konkreten Dingen, an konkreten Einzelheiten; so sagte es die Täuferpredigt wie die Bergrede wie die Mahnung aller Briefe: Umkehr zu Gott vom konkreten einzelnen Bösen weg. Laßt das „jetzt“, jetzt, da Christus erschienen ist (Joh. 4, 23; 12, 31; Röm 3, 21; 5, 11; 6, 22; 7, 6; 8, 1; 13, 11; 2. Kor. 6, 2; Eph. 2, 13); [20] kehrt um von der Lüge, als wären diese Dinge unvermeidlich, schön, berechtigt – wahr. Aber alles, was so in der Form einer conversio geschieht, ist ja niemals ein Wirken, eine Leistung, ein Entschluß des Menschen. Es ist das Auftun der Ohren und der Augen. Es heißt „Heilsgewißheit“ gewinnen, ein Ohr für das Evangelium gewinnen; verstehen lernen, was im Urteil Gottes über uns gesagt ist, in dem Urteil, das seit der Taufe über uns steht und im jeweiligen Wort neu über uns ausgesprochen ist.

Von da aus aber wird dann wirklich die conversio,die poenitentia, das ganze Leben lang währen, genau nach Luthers Wort. „Unter die Taufe kriechen“, nennt Luther das, was sich Tag um Tag bei uns vollzieht: sich täglich unter das Urteil begeben, das ein für allemal über uns ausgesprochen ist, und dies Urteil auf die Einzelheiten des Lebens anwenden. Evangelische Metanoia heißt (H. Girgensohn): von der Vergebung leben, vom Geschenk Gottes zu leben wagen. Und alles, was conversio heißen möchte, einmalige, plötzliche, dauernde, tägliche Umkehr, es ist ja nur ein Sich-Wenden zu dem, was Gott getan hat und tut. Jede plötzliche Bekehrung wäre das Lernen einer Haltung, die nun aber geübt sein will, täglich und stündlich, das Begreifen einer Wendung, die nun, im „Wandeln“, geübt sein will; der erste Schritt, dem jeweilig neue Schritte folgen auf dieser Bahn bis hin ans Ziel.

Gottes Wendung zu uns ist unsere Wendung zu ihm. Christus ist Gottes Wendung zu uns. Er ist das Evangelium. Er ist unsere Umkehr, er ist die evangelische Metanoia.

Vortrag auf einer Tagung der Theologischen Fachschaft der Universität Königsberg. Zuerst erschienen in: Herbert Girgensohn/Julius Schniewind, Evangelische Verkündigung heute! (Schriftenreihe »Bekennende Kirche«, Heft 25) München: Chr. Kaiser, 1935, S. 18-31.

Quelle: Julius Schniewind, Zur Erneuerung des Christenstands, hg. v. Hans-Joachim Kraus und Otto Michel, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1966, S. 9-20.


[1] WA. I, 525. Vgl. dazu E. Vogelsang, Die Bedeutung der neu veröffentlichten Hebr.-Vorlesung Luthers, S. 11 f.
[2] H. Greeven, Gebet und Eschatologie im Neuen Testament, 1931, S. 109.
[3] Das wäre im einzelnen an Worten wie „Menschensohn“ und „Gottesherrschaft“ zu zeigen.
[4] H. E. Weber, A. Schlatter.
[5] Als unser Herr und Meister Jesus Christus sprach: »Tut Buße etc.«, wollte er, daß das ganze Leben der Glaubenden Buße sei.

Hier der vollständige Text als pdf.

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