Darf man als Pfarrer eigentlich einem „Kirchenausgetretenen“ das Abendmahl darreichen? Ich habe dies am 2. März getan. Um mich von dem Verdacht einer Amtspflichtverletzung zu entlasten, habe ich am 8. April beim Landeskirchenrat der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern die Einleitung eines Disziplinarverfahrens nach § 24 Abs. 3 Disziplinargesetz der EKD gegen mich beantragt. In einer idea-Pressemeldung wird nun der Fall publik gemacht. Eine Begründung für mein Handeln findet sich hier:
Ein aktives Gemeindeglied ist im Januar dieses Jahres standesamtlich aus der Kirche ausgetreten (ohne dass ich selbst irgendeine Kirchensteuerproblematik innerhalb unserer Gemeinde thematisiert hatte) und unmittelbar danach auf mich zugekommen. Sie teilte mir mit, dass dieser Austritt nicht unserer Kirchengemeinde gälte. Der Austritt beziehe sich allein auf die Landeskirche und die landeskirchliche Steuerpflicht. Sie werde zukünftig auf freiwilliger Basis einen entsprechenden Geldbetrag (durch ihren Steuerberater berechnet) regelmäßig unserer Kirchengemeinde direkt zukommen lassen.
Nach den Leitlinien kirchlichen Lebens der VELKD (LkL) hat der standesamtliche Kirchenaustritt generell den Ausschluss vom Abendmahl zur Folge (A 3 Nr. 3 Abs. 6 bzw. C 1 Nr. 5 LkL i. V. m. § 1 LkLAnwG; ähnlich Art. 38 Abs. 3 Ordnung des kirchlichen Lebens der EKU). Ich sehe mich jedoch nicht im Stande, in dem oben geschilderten Fall die Exkommunikation zu vollziehen. Demzufolge habe ich am Sonntag Okuli (2. März) dem betreffenden Gemeindeglied das Abendmahl dargereicht und den Kirchenvorstand unserer Gemeinde am 20. März darüber in Kenntnis gesetzt.
Ich weiß, dass ich als Pfarrer grundsätzlich verpflichtet bin, meinen Dienst nach den Ordnungen der Kirche auszuführen (§ 3 Abs. 2 PfDG.EKD). Meine Ordination bindet mich jedoch daran, das mir anvertraute Amt in Übereinstimmung mit Schrift und Bekenntnis auszuführen. Da die oben genannte kirchenrechtliche Bestimmung zur Exkommunikation offenkundig im Widerspruch zum Evangelium Jesu Christi und zu unseren Bekenntnisschriften steht, sehe ich mich außer Stande, ihr Folge zu leisten.
Gemäß dem Wort unseres Herrn Jesus Christus (Mt 18,15-17; vgl. 1Kor 5,1-5) kann die Exkommunikation von getauften Kirchengliedern nur in der Gemeinde und durch die Gemeinde ausgesprochen werden. Ihr hat ein geschwisterliches Gespräch mit der betreffenden Person vorauszugehen. Somit kann ein Rechtsakt, der nach staatlichem Recht auf dem Standesamt und damit außerhalb der Kirche vollzogen wird, innerhalb der Kirche keine Exkommunikation zur Folge haben. In den Schmalkaldischen Artikeln (Teil III, Art. 9) ist zudem festgehalten, dass der christliche Bann – und damit der Ausschluss vom Altarsakrament – nur bei offenkundigen, halsstarrigen Sündern als Besserungsmaßnahme zum Einsatz kommen kann. Prediger dürfen diese geistliche Strafe nicht mit weltlicher Strafe vermengen. Ich vermag nicht zu erkennen, dass das Gemeindeglied, das ihren Beitrag zum Unterhalt der Kirche weiterhin in freiwilliger Weise leisten will und sich selbst explizit nicht von der Kirchengemeinschaft losgesagt hat, als halsstarrige Sünderin zu gelten hat.
Durch den standesamtlichen Kirchenaustritt hat das betreffende Gemeindeglied sich offensichtlich der Verpflichtung entzogen, „den Dienst der Kirche durch Leistung der gesetzlich geordneten kirchlichen Abgaben mitzutragen und staatlichen wie kirchlichen Stellen die in diesem Zusammenhang erforderlichen Angaben zu machen.“ (C 1 Nr. 3 Abs. 3 LkL). Für einen solchen Schritt kann jedoch das Gemeindeglied geltend machen, dass eine durch die Kirche selbst erhobene Zwangsabgabe (kirchliche Kirchensteuer im Unterschied zu einer staatlichen Kirchen- oder Kultussteuer) im Widerspruch zum Evangelium Jesu Christi bzw. zu unseren Bekenntnisschriften steht.
Dem Evangelium nach Matthäus zufolge hat Jesus Christus die Kinder Gottes von der Zahlung einer Zwangsabgabe im Neuen Bund freigesprochen (17,25f). Die Zahlung der Tempelsteuer gilt dem Opferdienst im Alten Bund und damit nicht für Christen. Zudem lässt Jesus die Steuerschuld nicht aus dem eigenen Vermögen bzw. Einkommen, sondern mittels maritimer Fremdfinanzierung begleichen. Im Neuen Bund, der durch die Selbsthingabe unseres Herrn Jesus Christus gestiftet ist, darf es für die Kinder Gottes keine Zwangsverhältnisse geben. Die kirchliche Kirchensteuer, die per Definition eine Zwangsabgabe ist (LThK3 VI, 63; EStL3 I, 1695; EStL NA, 1224), steht nicht im Einklang mit dem Reich Gottes, macht sie doch Christen zu tributpflichtigen Subjekten. Mag man im Hinblick auf die jüdische Tempelsteuer von einer göttlichen Weisung zum finanziellen Unterhalt des Tempeldienstes sprechen, so ist für Christen diese Weisung definitiv aufgehoben. Der stellvertretenden Lebenshingabe des Gottessohnes ist menschlicherseits nichts hinzuzufügen. Sowohl der Tempel als gottbestimmter Vermittlungsort wie auch das menschenmögliche Opfer als Vermittlungsgabe haben sich in Christus ein für alle Mal erübrigt (vgl. Hebr 9,1-10,18). Wo Heil nicht in eigenen Werken oder Leistungen, sondern allein im Glauben an das Pascha-Mysterium Christi zugesagt ist, gilt für die Kinder Gottes die Freiheit des eigenen, uneigennützigen Gebens. Mit Paulus gesprochen: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!“ (Gal 5,1)
Das Evangelium wird unentgeltlich verkündet und sakramental präsentiert (vgl. Mt 10,8-10). Bei den Menschen, die ihm vertrauen und sich als Kirche Christi sammeln, bringt es Frucht, die zur Gabe wird (vgl. Kol 1,6). Wo Menschen in die Gemeinschaft mit dem dreieinigen Gott hineingenommen sind, werden sie als Kinder Gottes zur eigenen Hingabe und zum ganzheitlichen Opfer befähigt (vgl. Röm 12,1-2; 2Kor 8,5). Das freiwillige finanzielle Opfer folgt also dem Empfang des Evangeliums: „Jeder aber gebe, wie er es sich im Herzen vorgenommen hat, ohne Bedauern und ohne Zwang; denn einen fröhlichen Geber hat Gott lieb.“ (2Kor 9,7) Aus diesem Grund ist der genuine Ort der christlichen Gabe der Gottesdienst, und insbesondere die eucharistische Feier des Passah-Mysteriums Christi. Nur diejenigen, die selbst das „Brot des Lebens“ (Joh 6,35) empfangen haben, sollen und können geben, sowohl für den Dienst des Evangeliums als auch für den Dienst an Bedürftigen.
Wenn sich nun unsere Landeskirche für eine aliturgische Vorfinanzierung staatlicher Vollzugsgewalt bedient, steht dies nicht im Einklang mit dem eigenen Bekenntnis. Artikel 28 des Augsburger Bekenntnisses widerspricht einer Vermengung von geistlicher und weltlicher Gewalt. Innerhalb der Kirche darf kein Zwang, sondern nur eine „Wortgewalt“ zum Einsatz kommen (sine vi humana, sed verbo). Außerdem dürfen Kirchenleitungen „nicht Macht haben, etwas wider das Evangelium zu setzen und aufzurichten“.
Weiterhin wird mit der kirchenrechtlich angeordneten Exkommunikation von „kirchenausgetretenen“ Gemeindegliedern ein Junktim zwischen einer gesetzlichen Zwangsabgabe und dem Empfang des Altarsakraments geschaffen. Eine gesetzliche Kirchensteuerpflicht wird für Kirchenglieder zur notwendigen Vorbedingung für den Empfang des Altarsakraments: Ich muss also zunächst das Werk des Gesetzes erbringen (die Kirchensteuer), um sakramentale Heilsgemeinschaft in Jesus Christus zu erlangen. Mit solch einem Junktim werden innerhalb unserer Kirche Gesetz und Evangelium vermengt und die Lehre von der Rechtfertigung des Sünders allein durch Glauben an das Evangelium Jesu Christi in Frage gestellt. Gemäß den Artikeln 15 und 28 des Augsburger Bekenntnisses können Kirchenordnungen, die einen menschenmöglichen Gnadenverdienst durch Gesetzesobservanz statuieren, in der Kirche Jesu Christi keine Geltung finden.
Entzieht sich also ein Gemeindeglied einer kirchlichen Kirchensteuerpflicht, kann es sich zu Recht auf Schrift und Bekenntnis berufen. Unserer Kirche steht es damit nicht zu, Gemeindeglieder, die nach staatlichen Recht aus einer Körperschaft des öffentliches Rechts austreten und sich dennoch zur Kirche Jesu Christi halten, mit einer vermeintlichen Kirchenstrafe „Ausschluss vom Abendmahl“ zu belegen. Als ordentlich berufener Diener des Evangeliums ist es mir nicht möglich, in dem genannten Fall den Ausschluss des betreffenden Gemeindegliedes von der leiblichen Gemeinschaft mit Christus auszusprechen. Durch mein Ordinationsgelübde bin ich daran gebunden, entsprechenden kirchenrechtlichen Bestimmungen zuwiderzuhandeln.
Im Übrigen weise ich darauf hin, dass sowohl innerhalb der EKD als auch in der Öffentlichkeit Rechtsauffassungen gängig sind, die meiner eigenen Überzeugung entsprechen. So hat der Pressesprecher der EKD, Oberkirchenrat Reinhard Mawick, am 27. September 2012 in einem Interview mit süddeutsche.de erklärt: „Die Teilnahme am Abendmahl ist bei uns nicht an die Mitgliedschaft geknüpft, sondern an die Taufe, und die bleibt immer erhalten. Da können Sie austreten wie Sie wollen, wir laden Sie trotzdem immer wieder ein.“ Und im Focus-Artikel „Tebartz-Effekt? Deutsche fliehen aus der Kirche“ vom 7. November 2013 heißt es abschließend: „Auch Protestanten verlieren mit einem Austritt das Recht auf kirchliche Amtshandlungen wie Taufe [sic!] oder Hochzeit. Ein kirchliches Begräbnis steht aber im Ermessen des zuständigen evangelischen Pfarrers. Vom Abendmahl sind sie nicht ausgeschlossen – generell sind dazu alle Getauften eingeladen.“
Schließlich mache ich darauf aufmerksam, dass das von unserer Landessynode am 6. Dezember 2004 verabschiedete Kirchengesetz zur Anwendung der Leitlinien kirchlichen Lebens der VELKD (LkLAnwG) noch weitreichendere Ausschlussbestimmungen enthält. § 1 dieses Gesetzes sieht nämlich vor, dass Gemeindeglieder mit dem Kirchenaustritt „die kirchlichen Rechte im Sinne von C 1 Nr. 3 der Leitlinien kirchlichen Lebens“ verlieren. Wenn Personen, die nach staatlichem Recht ausgetreten sind, laut Kirchengesetz nicht länger „am kirchlichen Leben“ teilnehmen bzw. „den Dienst der Verkündigung, Spendung der Sakramente, Amtshandlung, Seelsorge oder Diakonie“ (C 1 Nr. 3 Abs. 1 LkL) in Anspruch nehmen können, müsste ich als Pfarrer in meiner Gemeinde „Ausgetretene“ nicht nur vom Empfang des Abendmahls, sondern auch von der Teilnahme an einem kirchlichen Gottesdienst oder aber von einer Evangelisationsveranstaltung fernhalten. Zudem dürften „Ausgetretene“ in unserer Gemeinde weder pastorale Seelsorge erfahren noch diakonische Unterstützung erhalten. Wie solche Rechtsfolgen mit dem Evangelium Jesu Christi zu vereinbaren sind, vermag ich nicht zu erkennen.