Gerhard Sauter über Gerhard Sauter: „Von Martin Luther habe ich gelernt, daß Theologie weder erdacht noch handlungsmäßig hervorgebracht werden kann, son­dern erfahren werden will. Doch den Tod und seine Überwindung hat Jesus Christus allein erfahren, und indem wir in seine Geschichte ver­setzt werden, kommt Gottes richtendes und rettendes Urteil über die Wirklichkeit unseres Tuns und Lassens zum Zuge: das Urteil, welches als Verheißung über unserem Leben und Sterben steht.“

Gerhard Sauter über Gerhard Sauter

In dem von Christian Henning und Karsten Lehmkühler herausgegebenen Band Systematische Theologie der Gegenwart in Selbstdarstellungen von 1998 schreibt Gerhard Sauter über seinen Werdegang und sein theologisches Anliegen Folgendes:

Am 4. Mai 1935 wurde ich als erstes Kind des Pfarrers Hermann Sauter und seiner Ehefrau Adelheid, geb. Rohde in Kassel geboren. Meine Fa­milie stammt väterlicherseits von Schweizer Mennoniten ab, die im 17. Jh. aus ihrer Heimat vertrieben worden waren, sich in der Pfalz niedergelassen hatten und anfänglich von Kriegsdienst und Eideslei­stung befreit waren. Der Vater meiner Mutter war ein ausgeprägter Kur­hesse, wurde Missionar der Basler Mission in China und hat den Boxer­aufstand miterlebt; seine Frau kam aus einer württembergischen Mis­sionarsfamilie, die vor allem in Afrika tätig war.

Ich wuchs in einer kleinen nordhessischen Stadt auf. Im Mittelalter war sie Mittelpunkt der deutschen Glasindustrie gewesen, im 19. Jh. entwickelte sich dort eine bedeutende Tonindustrie (mit der Produktion feuerfester Steine), allerdings um den Preis wachsender sozialer Spannungen. So habe ich schon früh die Folgen von Ausbeutung und Verelendung kennengelernt. (In der letzten Klasse des humanistischen Gymnasiums, das ich in Kassel besuchte, schrieb ich eine Jahresarbeit über »Christentum und soziale Frage« anhand der Schriften Johann Hinrich Wicherns, Adolf Stoeckers und Friedrich Naumanns, die mein Interesse für Kirchengeschichte und Sozialethik weckten.) Zu den Be­gleiterscheinungen gehörten auch Sektenwesen und Spaltungen inner­halb christlicher Gruppen. In dieser Kleinstadt mit ca. 3500 Einwoh­nern, von denen manche ältere nie weit über den Umkreis ihres Heimat­ortes hinausgekommen waren – es sei denn als Soldaten – , gab es in meiner Kindheit eine evangelische Gemeinde, in der drei Parteien, zwei davon mit unterschiedlich pietistischer Prägung, einander verbissen bekämpften, außerdem eine methodistische und baptistische Gemein­schaft, Anhänger der Pfingstbewegung und weitere Gruppen mit eige­nen Predigern. Vielleicht ist mir deshalb die Frage nach der Einheit der Kirche in Fleisch und Blut übergegangen.

Politische Auseinandersetzungen kamen hinzu. In meiner Heimat­stadt befehdeten sich Anfang der 30er Jahre Kommunisten und Natio­nalsozialisten aufs heftigste, und dieser radikale Antagonismus schwel­te auch während des Dritten Reiches weiter. Mein Vater gehörte der Bekennenden Kirche an, wurde in seiner Arbeit erheblich behindert, denunziert und war mehrmals von Verhaftung bedroht. Dies und die Kämpfe in der Gemeinde haben seine Kräfte verzehrt. Im Januar 1945 brach er, erst 45jährig, tot zusammen. Drei Monate später wurde beim Rückzug der deutschen Truppen das Pfarrhaus fast völlig zerstört. Daß meine kranke Mutter, meine Geschwister und ich mit dem Leben da­vonkamen, verdanken wir Nachbarn, die uns aufgenommen hatten.

An die Arbeit meines Vaters (z.B. war er vom Bruderrat der Hessi­schen Bekennenden Kirche mit einem Gutachten über Rudolf Bult­manns Entmythologisierungsprogramm beauftragt worden, das in »Kerygma und Mythos«, Bd. II, 1952, 41-65 abgedruckt worden ist, aller­dings nicht wortgetreu) habe ich naturgemäß nur wenige Erinnerungen. Später haben mir seine Freunde viel von ihm vermittelt, vor allem der Schriftsteller und Verleger Otto Salomon (Pseudonym Otto Bruder, 1889-1971). Er war Judenchrist, hatte eine Enkelin Christoph Blumhardts (des »jüngeren Blumhardt«) geheiratet, leitete zeitweise den Christian Kaiser Verlag München und konnte 1938 in letzter Minute in die Schweiz emigrieren; später war er in Zürich Verlagsleiter des Zwingli-Verlages (heute Theologischer Verlag Zürich). Er hat mich bis zu seinem Tode entscheidend geprägt, nach meinem Eindruck mehr als meine theologischen Lehrer. In ihm war der Geist der Propheten leben­dig – »nur wer erschüttert ist, bleibt unversehrt«, sagte er –, er glühte in der Erwartung des kommenden Christus und war ein scharfsichtiger Kritiker jeder kirchlichen Selbstzufriedenheit. Er hat mir auch die Schriften Johann Christoph Blumhardts und seines Sohnes Christoph erschlossen und mir unveröffentlichte Quellen aus dem Archiv in Bad Boll und von anderen Orten zugänglich gemacht.

Beim Schulabschluß im Friedrichs-Gymnasium in Kassel habe ich mir überlegt, ob ich nicht Altphilologie und neuere Geschichte oder Musikwissenschaft studieren und mich weiter im Klavier- und Orgel­spiel ausbilden lassen sollte. Ich habe mich dann für die Theologie ent­schieden, doch die Musik ist weit mehr als ein Hobby geblieben. Theo­logie ohne Musik kann ich mir nicht vorstellen, und manche meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wissen ein Lied davon zu singen; in vielen Gesprächen nimmt die Musik einen ebenso großen Raum ein wie die Theologie. Das schönste Kompliment, das ich jemals für meine Lehrtätigkeit erhalten habe, kam von einem älteren Musiker, der mir sagte, er höre meine Vorlesungen streckenweise wie Kompositionen von Johann Sebastian Bach.

1954-1956 studierte ich Theologie und (im Rahmen des Studium Universale) Philosophie in Tübingen, 1956-1959 in Göttingen. In Tü­bingen war ich auch in der Fachschaft Evangelische Theologie und in der Evangelischen Studentengemeinde tätig; in Göttingen schloß ich mich der Kirchengemeinde St. Albani als Kindergottesdiensthelfer an. 1956 wurde ich in die Studienstiftung des deutschen Volkes aufgenom­men.

Im Rückblick auf die beiden Tübinger Jahre denke ich besonders dankbar an die behutsame Einführung in die historisch-kritische Exegese durch Arthur Weiser und seinen Assistenten Otto Kaiser, an die För­derung durch Hanns Rückert, bei dem ich reformatorische Theologie aus der Perspektive der Holl-Schule kennenlernte, an die Vorlesungen des Existenzphilosophen Otto Friedrich Bollnow und des Philosophiehistorikers Erwin Metzke. Ich gewann erste Eindrücke von außerkanonischen jüdischen Schriften, die ich in Göttingen unter dem Einfluß von Joachim Jeremias vertiefen konnte, und gehörte einem Kreis an, in den Wolfgang Nauck und Heinz Liebing Studierende aus ihren Proseminaren zur kursorischen Lektüre philosophischer und theologischer Schrif­ten einluden; aus diesen Leseabenden entwickelten sich Studienfreund­schaften, z.B. mit Peter Stuhlmacher und seiner späteren Frau; zu einem anderen Freundeskreis gehörten Eckhard und Helga Lessing, die mir in Mainz wieder begegneten.

In Göttingen hat mich das Zusammenwirken exegetischer Einsich­ten und systematisch-theologischer Fragestellungen bei Walther Zimmerli, Ernst Käsemann und Otto Weber angezogen. Kirchen- und Dogmengeschichte studierte ich bei Ernst Wolf; seine von der Dialektischen Theologie bestimmte Auffassung wirkte nach Hanns Rückerts Sicht wie ein Wechselbad. Bei Joseph Klein lernte ich die thomistische Philoso­phie kennen. Von Martin Doerne empfing ich viele Impulse aus den Schriften Blaise Pascals und aus Theologie und Literatur des 19. Jh. Otto Weber wurde mein Lehrer nicht nur in Dogmatik, sondern auch in Homiletik. Er betreute meine Dissertation über »Die Theologie des Rei­ches Gottes beim älteren und jüngeren Blumhardt«, mit der ich 1961 promoviert wurde.

Für die in meiner Studienzeit vorherrschende Aufnahme der Philoso­phie Martin Heideggers in die Theologie konnte ich mich nicht erwär­men. Deshalb habe ich vorwiegend philosophiegeschichtlich studiert und erst während der Vorbereitung meiner Habilitation stärker systema­tisch-philosophisch gearbeitet. In jenen Jahren war »Geschichtlichkeit« ein magisches Wort im theologischen Studium, ähnlich wie später »sozio-kulturell«, »Situation« oder »Kontext«. Wie sich selber rückhaltlos »geschichtlich verstehen«? Den eigenen Standort überblicken, statt so gut wie möglich weiterzugehen? Dies ist mir immer ein Rätsel geblie­ben, zu lösen wohl nur durch einen totalitären Denk- und Einordnungs­zwang. In der Auseinandersetzung mit dieser suggestiven Forderung habe ich mich jedoch mit dem Einfluß des Historismus auf die Theolo­gie beschäftigt; er erschien mir wie ein schleichendes Gift, wirksamer und gefährlicher noch als die Monotonie des Existentialismus. Im Rückblick nehme ich an, daß die Allergie, die die manische Berufung auf »Geschichtlichkeit« hervorrief, einer der Beweggründe für mein Interesse an der Eschatologie geworden ist; darüber und über andere Forschungsschwerpunkte (Wissenschaftstheorie, theologische Anthro­pologie) habe ich in der Selbstdarstellung »Eschatologische Rationali­tät« berichtet, zu der ich für den Band »Entwürfe der Theologie« (hg. von Johannes B. Bauer, 1985) gebeten worden war; wieder abgedruckt in meinem Aufsatz »In der Freiheit des Geistes« (1988).

1961/62 war ich Vikar in der Evangelischen Landeskirche von Kurhessen und Waldeck; in dem Pfarramt, dem ich zugewiesen wurde, habe ich zeitweise selbständig gearbeitet, weil mein »Vikarsvater« zahl­reiche außergemeindliche Verpflichtungen hatte. Im Herbst 1962 wurde ich zum Pfarrer ordiniert und zur wissenschaftlichen Weiterarbeit beur­laubt. Diesen Status habe ich beibehalten und verstehe meine Tätigkeit in theologischer Forschung und Lehre als ministerium verbi divini.

Seit Frühjahr 1962 bin ich mit der Lehrerin Annegrete, geb. Voigt verheiratet. Wir haben drei Töchter. Von der Berufsarbeit meiner Frau, die sie wegen der Familie nicht kontinuierlich ausüben konnte, möchte ich ihren Religions- und Konfirmandenunterricht an einer Schule für körperlich behinderte Kinder hervorheben, über den wir uns oft ausge­tauscht haben. Meine Frau hat meine Arbeit treu begleitet und mich u.a. in der Redaktion von Zeitschriften, zuletzt von »Verkündigung und For­schung«, unterstützt.

Schon vor meiner Ordination war von Göttingen aus meine Habili­tation im Fach Systematische Theologie angeregt worden. Sie wurde mir durch ein Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft er­möglicht. 1962-1964 arbeitete ich an einer Untersuchung über »Zu­kunft und Verheißung. Das Problem der Zukunft in der gegenwärtigen theologischen und philosophischen Diskussion«. Sie verlangte u.a. aus­gedehnte Studien zur Philosophie Ernst Blochs. Diese bildete allerdings nicht den Anstoß für meine Beschäftigung mit Fragestellungen der Eschatologie, die ich als unerledigt oder revisionsbedürftig ansah. Mit Bloch konnte ich damals auch persönlich in Verbindung treten. Meine Analyse seiner einschlägigen Schriften erkannte er an und äußerte zu­gleich Befremden über eine zu weitreichende Rezeption seiner Gedan­ken im theologischen Tagesgespräch jener Zeit. Er wunderte sich dar­über, daß die Erwartung Jesu Christi als des Kommenden keine lebendi­ge Hoffnung in der Christenheit mehr sei. Diese Erwartung war mir von beiden Blumhardt her vertraut. Dennoch habe ich da­mals versäumt, meine Überlegungen zur Eschatologie stärker christologisch zu entfal­ten; die Parole »christologische Begründung« im Umkreis Karl Barths, jedoch auch bei Schülern Rudolf Bultmanns war mir auf die Nerven gegangen. Das Verhältnis von Christologie und einem Messianismus, wie er von Bloch repräsentiert wurde und auf Theologie und Kirche übergeschwappt ist, zu klären: dies erscheint mir je länger desto mehr als eine dringliche Aufgabe.

Zur selben Zeit wie ich an »Zukunft und Verheißung« schrieb Jürgen Moltmann, damals in Wuppertal, an seiner »Theologie der Hoffnung«. Während Moltmann sich anschließend einer politischen Hermeneutik der Theologie zuwandte, beschäftigte mich nach wie vor die Begrün­dung eschatologischen Redens im Blick auf Gottes Verheißungen, und zwar als Paradigma für theologische Aussagen überhaupt. Die Schwie­rigkeiten, von Künftigem zu reden, führten mich später zu sprachana­lytischen Studien und wissenschaftstheoretischen Überlegungen. – Im nachhinein mag es interessant sein zu verfolgen, warum zwei Schüler Otto Webers zur gleichen Zeit unabhängig voneinander Beiträge zu dem damals recht vernachlässigten Lehr­stück »Eschatologie« vorlegten und dabei verschiedene Wege gingen. Als weitere Berührungspunkte – ne­ben der Lektüre von Ernst Bloch, aber mit divergierenden Folgerungen – wäre vor allem Hans Joachim Iwands Aphorismus zu nennen, Gottes Wort habe »Ruf-Cha­rakter«, sei »Tatwort«, kein »Deutewort« wie der apophantische Logos (Nachgelassene Werke, Bd. 1: Glauben und Wissen, 1962, 200 f.). Auch die Pneumatologie des Holländers Albert Ar­nold van Ruler hat uns beide angeregt. Im Laufe der Jahre habe ich mich immer stärker an der Kategorie »Verheißung« orientiert, wie sie die re­formatorische Theologie charakterisiert: als Zuspruch des heilbringen­den, Glauben schaffenden Handelns Gottes. Wird »Verheißung« zu­gleich als die Zusage vernommen, mit der Gott Zukunft gewährt, dann weist diese eschatologische Ausrichtung auf das Ganze der Verheißun­gen, die Gott in Jesus Christus bestätigt hat (2. Kor 1,20), und zwar so, daß uns das Alte Testament eröffnet wird, damit wir es neu lesen lernen. Die Verheißungen des Lebens mit Gott, der Gerechtigkeit, des Friedens, der Gottesruhe und der Gotteserkenntnis haben in der Geschichte Jesu Christi eine neue Ge­stalt gewonnen: Gerechtigkeit als Glaubensgerech­tigkeit, Friede als Einheit im Glauben und als Versöhnung, mit der Gott ein unrettbar zerstörtes Verhältnis neu schafft. »Verhei­ßung« ist deshalb weder nur Zuspruch noch bloß Ansage oder gar Voraussage. Für nach wie vor wegweisend halte ich die außerordentlich fruchtbare Debatte über das Verhältnis von Altem und Neuem Testament Mitte der 50er Jahre, insbesondere Walther Zimmerlis Exegese von »Verheißung und Erfüllung«, auch als Schlüssel zum jüdisch-christlichen Gespräch.

Im Frühjahr 1965 wurde die Habilitation in Göttingen vollzogen. Das Erstgutachten für meine Habilitationsschrift hatte Ernst Wolf über­nommen, weil ich mich für die Systematische Theologie, nicht für Re­formierte Theologie habilitieren wollte, die Otto Weber vertrat. Einige Monate später wurde ich zum Universitätsdozenten ernannt.

1968 erhielt ich einen Ruf an die Kirchliche Hochschule Wuppertal und an die Johannes-Gutenberg-Universität Mainz (dort als Nachfolger Wolfhart Pannenbergs). Ich nahm den Ruf nach Mainz an und blieb dort bis zum Winter 1972/73. 1972 stand ich vor der Frage, nach Hamburg oder Bonn zu wechseln. Ich entschied mich für den Bonner Lehrstuhl, den zuvor Hans Joachim Iwand, Gerhard Gloege und Hans-Georg Geyer innegehabt hatten. 1976 wurde ich außerdem Direktor des Bonner Ökumenischen Institutes; mein Lehrgebiet erweiterte sich auf »Sy­stematische und Ökumenische Theologie«.

Die Mainzer Jahre waren durch starke hochschulpolitische Konflikte belastet; darauf wirkte sich auch die Nachbarschaft zu Frankfurt und der »Frankfurter Schule« (Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas) aus. Ich erlebte die rapide Krise der historisch-kriti­schen Methode und das Vordringen von Sozialphilosophie, Soziologie und Psychologie in allen theologischen Fächern. Mit dieser Entwicklung versuchte ich mich 1969/70 in der Schrift »Vor einem neuen Methoden­streit in der Theologie?« auseinanderzusetzen. Dieses Buch half eine wissenschaftstheoretische Klärung anzuregen; sie war nach dem fol­genlosen Anstoß, den Heinrich Scholz Anfang der 30er Jahre an die Adresse Barths gegeben hatte, aus dem Blickfeld geraten. Bei meinen Ansätzen zu einer Theorie der Theologie fand ich einen Gesprächspart­ner in Wolfhart Pannenberg, wenn wir auch hinsichtlich der Begrün­dung der Theologie grundverschieden dachten (vgl. die gemeinsame Publikation »Grundlagen der Theologie – ein Diskurs«, 1974). Pannen­bergs Buch »Wissenschaftstheorie und Theologie« erschien 1973 fast gleichzeitig mit dem Band »Wissenschaftstheoretische Kritik der Theologie. Die Theologie und die neuere wissenschaftstheoretische Diskussion«, den meine Mitarbeiter und ich verfaßt hatten. Daß dieses Buch eine Gemeinschaftsarbeit wurde, ist kein Zufall. In Göttingen hat­te ich Studierende aus meinen Seminaren eingeladen, ähnlich wie sei­nerzeit in Tübingen kursorisch Texte zu lesen, u.a. von Friedrich Nietz­sche, Edmund Husserl, Ludwig Wittgenstein. In Mainz und den ersten Bonner Jahren beschäftigten uns Hegel, Marx und die Theoriebildung in Soziologie und Psychologie. Später habe ich mit meinen Doktoran­den und Doktorandinnen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und aus­gewählten Studierenden andere Formen kontinuierlicher Gespräche ohne didaktische Rücksichten erprobt und immer wieder auch eigene größere Projekte zur Diskussion gestellt; dieser Zusammenarbeit ver­danke ich sehr viel.

Meine wissenschaftstheoretischen Interessen wurden durch die Be­gegnung mit Vertretern des sog. Neopositivismus und seines deutschen Ablegers, des »Kritischen Rationalismus«, ver­stärkt. 1969 und 1974 war ich eingeladen, die Theologie bei den Alpbacher Hochschulwochen zu vertreten. Diese Sommerakademie war in einem kleinen Tiroler Dorf nach dem Zweiten Weltkrieg begründet worden, um totalitärem Denken in europäischem Geist entgegenzuwirken. Beim Alpbacher Forum ka­men die Natur-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften stärker als bei vergleichbaren Tagungen zu Wort; philosophisch beherrschend waren Karl Raimund Popper, Hans Albert und ihre Freunde. Hier lernte ich einen völlig anderen Denkstil kennen, als ich ihn von meiner historisch-hermeneutischen Ausbildung gewohnt war – eine Denkwei­se, die ihre Absage an die Tradition des Deutschen Idealismus nicht selten durch einen rationalistischen Fundamentalismus erkauft. Die Gespräche in Alpbach haben mich trotzdem angeregt, Vorzüge und Grenzen eines analytischen Denkstils in der Theologie zu erproben. Dazu rechne ich eine möglichst detaillierte Beschreibung theologischer Argumenta­tionsgänge, sorgsame Rechenschaft über die Schritte theologischer Ur­teilsbildung, Unterscheidungsvermögen für Diskursebenen (Objektsprache/Metasprache), Sensibilität für den Wechsel zwischen analyti­scher Sondierung, hermeneutischer Einfühlung, dogmatischer Präzi­sion (»Dogmen« aufgefaßt als axiomatisch tragfähige Grundsätze, nicht als traditionelle Lehrsätze) und »direkter Rede« in der theologi­schen Gedankenführung.

Dies alles kann auch die theologische Propädeutik bereichern, die ich in meinem Studium vor allem für die Systematische Theologie vermißt hatte. Proseminare und Seminare in diesem Fach waren von denen in Historischer Theologie eigentlich nur dadurch unterschieden, daß in ihnen stärker systematisch strukturierte Texte oder Abhandlungen neue­ren Datums behandelt wurden. Doch wie können theologische Schrif­ten, und zwar nicht nur solche aus der Feder von Dogmatikern oder Ethikern, systematisch gelesen und erörtert werden? Was charakteri­siert eine systematisch-theologische Analyse? Mit solchen und ähnli­chen Fragen beschäftigte ich mich seit Beginn meiner Lehrtätigkeit und war deshalb auch für eine Studienreform aufgeschlossen, längst bevor sie hochschulpolitisch hochgespielt und dann leider auch zerredet und blockiert wurde. In Bonn führte ich systematisch-theologische Prose­minare mit methodologischer Anleitung ein und verfaßte dafür gemein­sam mit dem Kölner katholischen Kollegen Alex Stock 1975/76 das Studienbuch »Arbeitsweisen Systematischer Theologie«.

Drei Konsultationen über »Doing theology today« im Ökumeni­schen Institut Bossey (Schweiz) in den Jahren 1972-1974 haben mir auch die östlich-orthodoxe Theologie nahege­bracht, später vertieft durch die Verbindung mit der griechisch-orthodoxen Metropolie in Bonn. In Bossey wurde ich auf den Zusammenhang von Liturgie und Theologie aufmerksam und zu patristischen Studien angeregt (speziell zur Christologie und zur Trinitätslehre mit ihren anthropologischen Implikationen). Später konnte ich mich mit Alois Grillmeier (Frankfurt) über die Verknüpfung von Patristik und Dogmatik austauschen. Außer­dem lernte ich bei einem Umbruch ökumenischer Theologie – in Bossey fand gleichsam eine Wachablösung statt – die Grenzen europäischer theologischer Denkerfahrungen kennen. Andererseits traf ich auch auf Tendenzen, die den wuchernden theologischen Pluralismus durch Ein­heitsformeln zähmen wollten, solcher Einheit aber den Sinn für Wahr­heit unterordneten. »Was ist Wahrheit in der Theologie?«: diese Frage führte mich zum Consensus-Begriff in der Geschichte der Theologie und läßt mich seiner Bedeutung für theologische Wahrheitsfindung weiter nachgehen.

Seit den Mainzer Jahren hat die Zusammenarbeit mit römisch-katho­lischen Kollegen immer größere Bedeutung für mich gewonnen: in Mainz mit Karl Lehmann, in Bonn mit Wilhelm Breuning, mit Hans Jorissen (besonders im Blick auf den ökumenischen Rang der Rechtfer­tigungslehre) und Josef Wohlmuth. Zweimal habe ich im Ökumeni­schen Studienjahr der Dormition Abbey in Jerusalem gelehrt.

Eine andere Horizonterweiterung verdanke ich zwei international besetzten Arbeitsgruppen, die sich seit Mitte der 70er Jahre mit Unter­stützung einer Stiftung mit religionstheoretischen Fragen und der Bezie­hung von Religion und Sprache beschäftigten. Die erste veröffentlichte ihre Diskussionsergebnisse in dem Band »Religion als Problem der Auf­klärung. Eine Bilanz aus der religionstheoretischen Forschung« (hg. von Trutz Rendtorff, 1980); meinen Beitrag – eine Kritik der »Sinnfrage« als fehlgeleiteter Orientierungsbedürftigkeit, die zum Rechtfertigungsbe­dürfnis verleitet – erweiterte ich 1982 zu einem philosophisch-theologi­schen Traktat (»Was heißt: nach Sinn fragen?«); ihm liegt auch ein Brief­wechsel mit dem Systemtheoretiker Niklas Luhmann zugrunde. Im zweiten Arbeitskreis kamen vorwiegend katholische Religionsphiloso­phen und Philosophen in Paris einmal jährlich mit Emmanuel Levinas und Paul Ricoeur zusammen.

1976/77 war ich Dekan der Bonner Fakultät. Mir fiel die Aufgabe zu, ein erstes gemeinsames Seminar der Theologischen Fakultäten Bonn und Oxford vorzubereiten. Daraus entstand eine ständige Partnerschaft, die sich stetig vertieft hat. Der Austausch mit den Oxforder Kollegen und Studenten hat mir eine Vorgehensweise und ein Gesprächsverhal­ten nahegebracht, die Sachverhalte nicht durch Meinungsbildung ver­decken, sondern in aufmerksames Aufeinander-Hören einüben, unter­schiedliche Aspekte achten und sich in alledem von der ingrimmigen, ideologieträchtigen Schärfe hierzulande wohltuend unterscheiden. Darum freute es mich besonders, daß die Oxforder Faculty of Theology mich 1990 zum auswärtigen Mitglied ernannte. 1994-1997 betreuten mein Oxforder Freund John Barton und ich ein gemeinsames For­schungsprojekt »Revelation and Story«: Beiträge zur Kunst des Bibel­lesens.

Im Dekanatsjahr begannen außerdem Verhandlungen der Bonner Universität mit Hochschulen in Warschau, nachdem durch die »Ostver­träge« der Bundesregierung ein stärkerer Austausch auf wissenschaftli­chem Gebiet möglich geworden war. Der Wunsch nach einer Partner­schaft der beiden Hauptstadtuniversitäten kam aus Warschau; seine Er­füllung gestaltete sich jedoch sehr schwierig, weil der Bonner Universi­tätssenat zur Bedingung machte, daß die beiden theologischen Fakultä­ten in den Vertrag einbezogen werden sollten. Nach zähem Feilschen gelang dies auch, und der Austausch konnte 1978 beginnen. Mir wurde die Verantwortung für den evangelisch-theologischen Part übertragen. Diese Aufgabe, die mich regelmäßig zu z.T. längeren Aufenthalten in allen Teilen Polens führte (auch auf Einladungen katholischer Kolle­gen), hat meine Arbeit ebenfalls nachhaltig bestimmt. Sie wurde ergänzt durch Besuche in Ungarn und regelmäßige Reisen in die DDR, vor al­lem nach Halle, wo sich eine enge Freundschaft mit Reinhard Turre und Michael Beintker entwickelte und wo ich Friedrich Schorlemmer kennenlernte. Mich beeindruckte die Form theologischen Denkens und theologisch-kirchlicher Zusammenarbeit, die in der DDR entwickelt wurde: sachbezogen, auf Wesentliches konzentriert, viel weniger durchsetzt mit persönlichen Eigenheiten und Eitelkeiten als in west­deutschen Hochschulen und theologischen Zirkeln. Daß diese Form und die damit verbundenen Erfahrungen nach 1989/90 auch im Publika­tionswesen kaum erhalten werden konnten, halte ich für ein schwerwie­gendes Versäumnis im Prozeß des Zusammenwachsens von Ost- und Westdeutschland.

Seit 1977 bahnten sich auch erste Begegnungen mit der nordameri­kanischen Theologie an, eingeleitet durch einen Besuch von Prof. Fre­derick Herzog von der Divinity School der Duke University in Durham, North Carolina. Daraus ist seit 1978 eine Partnerschaft, u.a. mit einem Studentenaustausch, erwachsen, für die ich bis vor kurzem verantwort­lich war. Ein Gastsemester in Durham (1979) hat mir wichtige Eindrücke von neueren theologischen Entwicklungen in ihrer Verflechtung mit der amerikanischen Gesellschaft vermittelt; in Durham kam ich auch mit den Rassenproblemen des amerikanischen Südens in Berührung. Seit 1988 konnte ich viermal jeweils ein halbes Jahr am Center of Theological Inquiry in Princeton, New Jersey arbeiten. Diese Parallelein­richtung zum Princetoner Institute for Advanced Study, das von Albert Einstein mitbegründet worden war, gibt jeweils zwölf fellows aus ver­schiedenen Wissenschaften Gelegenheit, Projekte zu entwickeln, von denen viele interdisziplinär gestaltet sind, anfänglich mit dem Schwer­punkt des Dialogs zwischen Theologie, Philosophie und Naturwissen­schaften. Princeton wurde für meine Frau und mich zur zweiten Heimat. Ich habe hier viele Anregungen – in hilfreicher Distanz zu Europa – empfangen und konnte größere Arbeiten in ständigem Meinungsaus­tausch weiter gestalten.

1990 wurde ich durch den Ruf des Princeton Theological Seminary, einen neuen Lehrstuhl für Systematische Theologie (Theology and Science) aufzubauen, vor die Frage gestellt, mein Arbeitsfeld zu verle­gen und meine wissenschaftstheoretischen Arbeiten durch den Dialog mit Naturwissenschaftlern, der in den USA und England viel intensiver geführt wird als in Deutschland, zu erweitern. Es reizte mich sehr, die Aussagen und Orientierungskraft evangelischer Theologie, wie ich sie seit nunmehr 33 Jahren zu vertreten versuche, unter ganz anderen kirch­lichen, geistigen und gesellschaftlichen Umständen zu erproben: eine Dogmatik, geformt durch die Rezeption der reformatorischen Theolo­gie im deutschen Luthertum, mit reformierten Einflüssen, mit Ansätzen einer unierten Theologie seit dem 19. Jh. – dies alles beispielhaft ge­prägt im Konsens der »Barmer Theologischen Erklärung« (1934) und von Anfang an in lebendiger Auseinandersetzung mit der Tradition rö­misch-katholischer Dogmatik. Die engere Wechselbeziehung zwischen Kirche und Theologie, wie sie mir in Princeton begegnete, aber auch die drohende Ablösung der Theologie durch Religionswissenschaft und re­ligiöse Gesellschaftslehre an vielen nordamerikanischen Ausbildungs­stätten erschienen mir als eine Herausforderung, die sich auch produk­tiv für die Forschungslage in Europa auswirken könnte, wenn auch viel­leicht mit gewisser zeitlicher Verzögerung.

Ein wesentlicher Grund dafür, daß ich die verlockende Einladung nach Princeton schließlich doch nicht angenommen habe, war der poli­tische und geistige Umbruch in Mittel- und Osteuropa. Verpflichtungen, die ich für die Christlich-Theologische Akademie Warschau – die Aus­bildungsstätte für alle nicht-katholischen Studierenden in Polen – ein­gegangen war: Nachwuchsförderung, Intensivkurse und Übersetzun­gen von Lehrbüchern, hätte ich aus der Ferne nicht mehr erfüllen kön­nen. Auch die Verbindung mit meinem Freund Ervin Vályi-Nagy (Bu­dapest), der jahrelang in seiner Lehrtätigkeit erheblich behindert wor­den war, und mit seinem Schülerkreis lag mir am Herzen; diese Bezie­hung hat sich nach Vályi-Nagys Tode (1993) noch vertieft. Eine Stif­tung ermöglichte es mir, ein dreijähriges Forschungsprojekt über die Kriterien theologischer Entscheidungen in der Reformierten Kirche Ungarns im Zeitraum 1967-1992 und zwei thematisch damit verwandte Konsultationen mit Teilnehmern aus mittel- und osteuropäischen Län­dern durchzuführen. Dabei spielte die Auseinandersetzung mit der Ver­gangenheit in theologischer Verantwortung – also nicht als »Vergangen­heitsbewältigung«, die ich für ein Unding halte – eine maßgebende Rol­le: in der Frage nach dem Bekenntnis der Schuld in der Bitte um Verge­bung.

Wie ist ein Neuanfang möglich, der nicht einfach durch eine Kehrt­wendung um 180°, durch einen kollektiven Entschluß, »es künftig an­ders zu machen«, zu erreichen ist? Diese Frage hatte mich seit 1984 ständig beschäftigt, veranlaßt durch den Auftrag, eine theologische Auslegung der »Stuttgarter Schulderklärung« (1945) zu schreiben, die zusammen mit einem historischen Forschungsbericht von Gerhard Besier 1985 unter dem Titel »Wie Christen ihre Schuld bekennen« er­schien. Weitere historische und theologische Studien zu diesem Thema schlossen sich an. Als die Warschauer Akademie mir 1995 den theologi­schen Ehrendoktor verlieh und dies auch mit meinem Beitrag zur Ver­söhnung zwischen dem polnischen und dem deutschen Volk begründe­te, hat mich dies tiefbewegt, und als ich kürzlich ein Studienbuch »›Versöhnung‹ als Thema der Theologie« herausgab, standen viele Erlebnis­se in Polen und die daraus hervorgegangenen Denkerfahrungen im Hin­tergrund.

Beim Studium der Quellen zur »Stuttgarter Schulderklärung« wurde ich mit Hellmut Traub (1904-1994) näher bekannt, und in den letzten Jahren seines Lebens haben wir in einem überaus intensiven Gedanken­austausch gestanden. Traub, der national-liberal erzogen worden war, wurde Anfang der 30er Jahre Mitarbeiter Karl Barths in Bonn und stand ihm seitdem auch persönlich nahe. Mit seiner reichen Personalkenntnis war er nicht nur ein vorzüglicher Zeitzeuge, er hat mir mit seiner theolo­gischen Scharfsicht und seinen bohrenden Fragen auch geholfen, man­che Entwicklungen in der deutschen evangelischen Kirche in diesem Jahrhundert besser zu verstehen. Karl Barths Theologie brachte er mir facettenreicher nahe als diejenigen meiner theologischen Lehrer, die von Barth beeinflußt waren. Manches, was mir bei Barth problematisch erschienen war, konnte er mir aus seiner intimen Vertrautheit mit Barths Denkweise erklären. Bei anderem trafen sich unsere Bedenken: etwa bei Barths Überzeugung, es müsse immer eine für alle Christen verbind­liche ethische Weisung geben, oder im Blick auf »Entsprechungen« zwischen göttlichem und menschlichem Handeln. Die vielen Gesprä­che mit Hellmut Traub und mit Hinrich Stoevesandt, dem Leiter des Basler Karl-Barth-Archivs, der sich Ende der 70er Jahre über meiner Edition von Barths »Prolegomena zur christlichen Dogmatik« (1927) mit mir befreundet hatte, haben mich auf die Bewegung des Denkens aufmerksam gemacht, die Barths Dogmatik auszeichnet, ausgerichtet auf Gottes Bewahrheitung theologischer Rede und Gegenrede. Die An­fänge der Dialektischen Theologie hatten mich fasziniert, auf manche frühe Äußerungen Barths, aber auch Friedrich Gogartens, war ich durch beide Blumhardt vorbereitet. Auch Barths »Ansatz« zur Dogmatik hat mir immer mehr als andere Positionen eingeleuchtet, auch wenn ich ihn nicht allein auf weiter Flur sehe und etwa Martin Kählers »Wissenschaft der christlichen Lehre« für ebenso wegweisend halte, oft sogar für bes­ser durchdacht, wenn auch schwerer zugänglich. Mit Barths Ausfüh­rung seines Programms hatte ich allerdings in mancher Hinsicht Schwierigkeiten, vor allem mit seiner Darstellung theologischer Sach­verhalte. Hier versuchte ich dann selber einzusetzen, habe aber die Dia­lektische Theologie nie als eine Episode eingeschätzt und halte etwa die Kritik Wolfhart Pannenbergs an ihr für im ganzen nicht sachgerecht.

Monographien habe ich jahrelang zurückgestellt und mich auf Auf­sätze zur Vorbereitung größerer Arbeiten beschränkt, weil mir editori­sche und verschiedene organisatorische Aufgaben angetragen worden waren. Von Anfang der 70er bis Mitte der 80er Jahre war ich theologi­scher Berater des Chr. Kaiser Verlages München. Nach dem Tode von Ernst Wolf wurde mir 1971 die Herausgeberschaft der von ihm begrün­deten »Theologischen Bücherei« übertragen, vier Jahre später die Ver­antwortung für die Rezensionszeitschrift »Verkündigung und For­schung«, zu deren Herausgebern ich seit 1970 gehöre. Seit 1971 bin ich Mitherausgeber der Zeitschrift »Evangelische Theologie« und war 1983-1987 ihr geschäftsführender Herausgeber – in einer für das theo­logische Profil der Zeitschrift kritischen Phase, von der der Jahrgang 1984 und darin besonders das Heft 2 Zeugnis ablegen. 1986 begründete ich mit anderen die Zeitschrift »Glaube und Lernen. Zeitschrift für theo­logische Urteilsbildung« und arbeitete dort bis 1990 mit. Ich gehöre zum Editorial Board der »Studies in Historical Theology« (The Laby­rinth Press Durham, N.C.) und begann 1995 die Reihe »Beiträge zur theologischen Urteilsbildung«. Neben einigen Textbänden und Stu­dienbüchern in der »Theologischen Bücherei« habe ich in der Karl Barth-Gesamtausgabe zusammen mit Frau Nelly Barth die Predigten des Jahres 1913 und dann den ersten Band der »Christlichen Dogmatik im Entwurf« (1927) herausgegeben. Mit diesen textkritischen Editio­nen und mit Ausgaben von Schriften von Hans Joachim Iwand, Karl Ludwig Schmidt und Georg Eichholz wollte ich zur Vermittlung theologischer Überlieferung an eine Generation beitragen, der die Form und Intensität theologischer Arbeit aus der ersten Hälfte des 20. Jh. weit­hin fremd geworden ist. – Schließlich habe ich die »Wissenschaftliche Gesellschaft für Theologie« 1973 mitbegründet und 1979-1981 der Sektion Systematische Theologie dieser Gesellschaft vorgestanden.

Ein Bereich meiner theologischen Arbeit, der mir immer wieder sehr viel bedeutet, sind Medi­tationen zur Vorbereitung und zur Begleitung von Predigten. 1966 bat Georg Eichholz mich, für den erkrankten Kornelis Heiko Miskotte einzuspringen und eine Meditation für die von ihm betreute Reihe »hören und fragen« zu schreiben. Dies war der Beginn einer ständigen Mitarbeit in dieser Reihe, später auch in »Neue Calwer Predigthilfen« und in deren weiteren Folgen sowie in den »Göttinger Predigt-Meditationen«. Ich versuche, mich von einem Predigttext wäh­rend einiger Monate auf den Weg bringen zu lassen, ihm exegetisch, predigtgeschichtlich, systematisch-theologisch nachzugehen, ihn als ein Wort zu vernehmen, das heute an uns ergeht und darum von neuem wahrnehmen läßt, was wir als unser »Heute« ansehen, die Perikope auch zu predigen, bevor ich an die Niederschrift der Meditation gehe, und aus Gesprächen nach der Predigt zu lernen. Diese Aufgabe hilft mir, biblisch-theologisch zu denken und mich in der »indirekten Mitteilung« (Søren Kierkegaard) von Glaube und Hoffnung zu üben.

Meditationen sind ein Bindeglied zum Leben der Kirche. Als Fakul­tätsvertreter bei der Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland 1969-1973 und 1993-1996 erhielt ich hinreichend Gelegenheit, kriti­sche Solidarität zu erproben. Ich habe mich u.a. an der Diskussion um die Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden und um Sexualität und Lebensformen beteiligt. Seit Anfang der 70er Jahre ar­beitete ich regelmäßig bei Kursen im Studienseminar der VELKD in Pullach bei München mit. Die Fortbildung von Pfarrern und Pfarrerin­nen lag und liegt mir besonders am Herzen, und ich bedauere es sehr, daß in der zweiten theologischen Ausbildungsphase der Kontakt zum Universitätsstudium oft abreißt. Darum richtete ich als Dekan mit Ober­kirchenrat Hans Strauß (Düsseldorf) eine theologische »Werkstatt« ein, in der während einiger Jahre Bonner Assistenten, Studienleiter von Pre­digerseminaren sowie Pfarrer und Pfarrerinnen, die Vikare und Vikarin­nen ausbilden oder im Pastoral Clinical Training tätig sind, ihre Erfah­rungen und Probleme erörtern konnten. Seitdem bin ich auch häufig eingeladen worden, zum theologischen Verständnis seelsorgerlicher Gespräche zu sprechen.

Diese und andere Erfahrungen haben mich auf die Spur zu dogmati­schen Grundfragen im Leben der Kirche und in christlicher Existenz gebracht bzw. zu Fragen nach den inneren Gründen kirchlichen Han­delns veranlaßt. Dies in Verbindung mit einer sprachanalytischen Klä­rung theologischer Denkpraxis ist der Inhalt eines Buches mit dem Ar­beitstitel »Zugänge zur Dogmatik – Elemente theologischer Urteilsbil­dung«, das mich über fünfzehn Jahre beschäftigt hat, dessen Vorstudien und verschiedene Fassungen ich mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern immer wieder überarbeitete und das ich soeben in eine druckfertige Fas­sung bringen konnte.

Als meine Freunde mir zum 60. Geburtstag eine Festschrift mit dem Titel »Rechtfertigung und Erfahrung« widmeten, haben sie ein Span­nungsfeld umrissen, das mich seit langem in Atem gehalten hat und weiter halten wird. Von Martin Luther habe ich gelernt, daß Theologie weder erdacht noch handlungsmäßig hervorgebracht werden kann, son­dern erfahren werden will. Doch den Tod und seine Überwindung hat Jesus Christus allein erfahren, und indem wir in seine Geschichte ver­setzt werden, kommt Gottes richtendes und rettendes Urteil über die Wirklichkeit unseres Tuns und Lassens zum Zuge: das Urteil, welches als Verheißung über unserem Leben und Sterben steht. Kann dies nicht allein so »zur Erfahrung kommen«, daß das Schema der Welt vergeht (1.Kor7,31) – und daß damit auch die Schematismen, die unsere Erfah­rungswelt strukturieren, durchbrochen und verwandelt werden, damit wir die Wirklichkeit wahrnehmen, wie Gott sie uns bereitet hat?

Quelle: Christian Henning/Karsten Lehmkühler (Hrsg.), Systematische Theologie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, UTB 2048, Tübingen: Mohr Siebeck 1998, 213-227.

Hier der Text als pdf.

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