Christoph Blumhardt, Unser Menschenrecht. Predigt über Lukas 18,1-8 (1910): „Seid nicht so wie die Leute, die mit der Stange im Nebel herumfahren, sondern seid, wie der Herr Jesus hier sagt, auf das bedacht, was in ihm als Gotteskraft erschienen ist, und seid dankbar, wenn ihr das Allerkleinste erfahret von dieser Herrlichkeit Gottes im Fleisch.“

Unser Menschenrecht. Predigt über Lukas 18,1-8 (1910)

Von Christoph Blumhardt

Er sagte ihnen aber ein Gleichnis davon, daß man allezeit beten und nicht laß werden solle, und sprach: Es war ein Richter in einer Stadt, der fürchtete sich nicht vor Gott und scheute sich vor keinem Menschen. Es war aber eine Witwe in dieser Stadt, die kam zu ihm und sprach: Rette mich von meinem Widersacher! Und er wollte lange nicht. Danach aber dachte er bei sich selbst: Ob ich mich schon vor Gott nicht fürchte noch vor keinem Menschen scheue, dieweil aber mir diese Witwe so viel Mühe macht, will ich sie retten, auf daß sie nicht zuletzt komme und betäube mich. Da sprach der Herr: Höret hier, was der ungerechte Richter sagt! Sollte aber Gott nicht auch retten seine Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen, und sollte er’s mit ihnen verziehen? Ich sage euch: Er wird sie erretten in einer Kürze. Doch wenn des Menschen Sohn kom­men wird, meinst du, daß er auch werde Glauben finden auf Erden? (Luk. 18, 1-8)

Je mehr wir uns mit dem Willen Gottes eins gemacht haben, desto mehr fühlen wir uns beunruhigt, ja, wir können fast sagen: desto mehr fühlen wir uns beraubt, und zwar fühlen wir uns dessen beraubt, an was wir ein gutes Recht haben. Denn es ist merkwürdig: wenn wir uns mit dem, was Gott will, eins wissen, dann ist es nicht so, als ob wir nun erst etwas Zukünftiges uns müßten erwerben; sondern es stellt sich uns so vor, als ob wir es schon zu Recht hätten; es ist wie unser persönliches Eigentum geworden, und es sieht nun aus, als ob es uns wieder genommen werden sollte. Es ist darum wie eine persönliche Angelegenheit für uns geworden. Es ist unser gutes Recht, daß wir nicht mehr beraubt werden, sondern daß das, was wir als Gottes Willen in uns fühlen, nicht nur uns erhalten werde, sondern auch der ganzen Welt mitgeteilt werden könnte. Es ist das eigentliche Men­schenrecht, welches nicht soll im Verderben und in der Sünde untergehen, in welchem vielmehr eine Macht erscheinen soll, die uns errettet von all den Beraubungen, die wir einstweilen noch zu erfahren haben. Sind wir doch umgeben wie von Räubern, die wollen uns das Allerallerbeste wegnehmen. Sie wollen uns herunterdrücken in die gewöhnliche Sphäre des menschlichen Lebens, wo lauter Eitelkeit die Hauptsache wird. Sie wollen uns beschimpfen und wollen uns verlachen, daß wir etwas Höheres suchen. Und wir sagen: Wir suchen es ja gar nicht erst, sondern wir haben es ganz fest als unser Recht in unsern Herzen durch den Willen Gottes, der uns den Heiland gesandt hat, und der uns das Bild des wahrhaftigen Lebens und der Gerechtigkeit Gottes ins Herz gedrückt hat. Sind wir nun schon im Besitz, was will dann die übrige Welt? Die hat doch kein Recht, uns diesen Besitz zu nehmen. Deswegen sind wir gar nicht schüchtern und ängstlich, und wenn die Leute zu uns sagen: „Ach, was wollt ihr denn immer mit eurem neuen Reich, mit neuen Zuständen, mit neuen Gerechtigkeiten, mit neuem ewigem Leben, was wollt ihr denn? Ihr habt doch kein Recht dazu; die Welt ist von jeher so gewesen, wie sie ist, die wird ewig nicht anders, und da könnt ihr machen, was ihr wollt, wir lassen euch nicht auskommen“, — ohne Jagen und ohne Schüchternheit laufen wir zu dem Stuhl der Gerechtig­keit, zu dem, der Macht hat über Himmel und Erde, und sagen: „Rette uns von diesem Zeug! Und wenn es schon tausend Mil­lionen Jahre bestanden hätte auf Erden, was die Menschen in ihrer Vergänglichkeit treiben und in ihrer Ungerechtigkeit, und wenn es sich so eingenistet hätte, daß kein Mensch mehr anders denkt — weg mit dem Zeug! Rette uns von diesem Widersacher! Die Wahrheit ist nicht in der Geschichte der unseligen Menschen mit ihrem Jammer und Unrecht und Sünde, — das ist nicht die Wahrheit! Die Wahrheit ist das ewige Leben und ist die Gerechtig­keit Gottes, — also weg mit dem! Rette uns, Vater im Himmel, und gib der Wahrheit des Lebens das Recht!“

So steht es wie als eine ganz persönliche Sache in unsern Her­zen, und wir gleichen jener Witwe, die um ihre Güter besorgt wer­den will, wie es eben den Frauen geht, die in dem ungerechten Wesen der Menschen fast keinen Schutz finden. Da müssen wir zu dem gerechten Richter gehen, und Gott sei Dank, der gerechte Richter, der steht uns vor Augen. Es ist nicht so, daß die Gerechtigkeit auf Erden unter den ungerechten Menschen uns könnte aus den Augen gerückt werden; wir sehen es ganz klar, was die Gerech­tigkeit ist, und wir lassen nicht davon. Es ist unser gutes Recht, die Gnade und die Liebe Gottes und das Leben Gottes in unserm menschlichen Wesen, —das Ewige ist unser gutes Recht, das steht nun klar vor unsern Augen, und wir lassen es uns nicht nehmen und bauen und trauen allezeit auf den Richter, der sich mit uns verlobt hat, ich möchte fast sagen, verschworen hat auf eine Zeit, in welcher wir errettet werden von allem Bösen, das uns noch umgibt.

Es ist bezeichnend in diesen Worten, daß der Herr Jesus weit hinaus sieht auf eine ferne Zeit, in welcher sich vollenden soll, was der Wille Gottes an den Menschen ist. Das geht aus den Worten hervor: „Meinest du auch, daß dann, wenn es gilt, wenn er kom­men soll, des Menschen Sohn, der das ewig Menschliche vertritt und uns zu Gott bringen will, meinest du, daß er dann noch Glauben finden werde?“ Ja, solange ein Mensch lebt, ein Mensch, der bedeutend vor den andern erscheint, so traut man auf ihn, man ist froh, daß er lebt, daß er mit uns ist, daß er mit uns reden kann, und daß wir ganz zu ihm Hinrücken können in irdischer Weise. Aber der Herr Jesus sieht sich nicht mehr auf der Erde zu der Zeit, wenn die Witwe schreit: „Rette mich von meinem Wider­sacher!“ Kann man denn auch noch seine Zuversicht setzen auf jemanden, der nicht mehr unter uns lebt? Die Jünger Jesu waren auch angefochten, sie haben ganz ihre Zuversicht gesetzt auf den unter ihnen Lebenden, und wie er einmal sagte, er werde jetzt wohl in den letzten Kampf kommen und sein Leben verlieren durch die Feinde, da stehen sie auf und sagen: „Nein, das kann doch nicht sein! Da hört ja alles auf, wenn du nicht mehr da bist!“ Aber nun soll es doch so sein, daß wir uns an ihn halten, auch wenn er nicht auf Erden ist. Es soll das, was wir wollen im Namen Gottes und was als Gottes Wille in unsre Herzen gedrängt ist, nicht daran leiden, daß er nicht mehr leiblich sichtbar unter uns ist; wir müssen an ihm festhalten. Wird man aber in ferner Zukunft, nach jahrhundertelanger Entwicklung, ja nach zweitausendjähriger Entwicklung — wird man dann noch an diesen Jesus seine Hoffnung anschließen, so daß in seinem Namen das richterliche Wort erwartet wird, in seiner Persönlichkeit uns daö wird, was wir hoffen? Werden sie noch glauben? Glaubt heute noch jemand an Jesus Christus so, wie es sein muß? Man klagt heutzutage viel und be­schwert sich, daß man nicht mehr recht wisse, was man anfangen soll mit dem, was wir Reich Gottes nennen oder Evangelium. Überall kommen andre Stimmen auf, und die, die sich’s nicht rauben lassen wollen, können sie noch, können sie noch glauben?

Ja, meine Lieben, eine leichte Sache ist es nicht. Etwas denken von Jesus, wie er seinerzeit gewesen ist, und wie man es in der Bibel liest, das geht schon, aber selbst das wankt in vielen. Aber ihn als die Persönlichkeit, auf die alles ankommt, glauben — o, meine Lieben, der Glau­be der Gläubigen ist oft nicht weit her! Sie haben ihn von der Erde, es ist ihnen so eingeprägt, aber dieses ganz Lebendige: So oft ich an Jesus denke, durchschauert es mich vom Kopf bis zum Fuß in der Gewißheit seiner Macht und Herr­lichkeit zur Ehre Gottes, des Vaters, — dieser Schauer, den man nur vor einem Persönlichen haben kann, wo man nicht so gleich­gültig schwatzen kann und über den Herrn Jesum Untersuchungen machen kann wie über etwas Totes, sondern da man den lebendi­gen Eindruck hat: Er ist, und er war, und er kommt, und er wird sein — dieses Glauben, haben wir es?

Darauf kommt alles an. Es gibt außer der Persönlichkeit Jesu nichts, an dem wir das Licht unsrer Herzen für eine gute Zukunft der Menschen anzünden könnten. Lasset das Bild Jesu Christi und lasset das wirklich Lebendige, Bleibende des Herrn Jesu aus euren Herzen heraus, dann verlischt das Licht der Hoffnung. Es ist nicht wahr, daß wir etwas für die Welt hoffen können, ohne die Persönlichkeit Jesu Christi. Es ist nicht wahr, daß man einfach nur so an Gott denken kann und im Nebel sich irgend etwas vor­stellen. Es ist nicht wahr, wenn man meint, die menschliche Gesell­schaft entwickle sich ganz von selber zu einer Vollkommenheit, wenn wir meinen, aus unsern irdischen Verhältnissen komme etwas Richtiges heraus. Es ist nicht wahr, daß unsere Herzen aus dem Gewirre herauskommen, aus unsrer Sünde und aus unsrer Umnachtung und unsern Verkehrtheiten. Es ist nicht wahr, wenn man sich einbildet, man könne zu etwas Wahrhaftigem kommen ohne das Glauben an diesen Jesus Christus. In der ganzen Welt existiert kein einziger vernünftiger Gedanke bezüglich der Zukunft der Menschen, als was von Jesus Christus gekommen ist, und alle die Leute, die sagen: „Wir haben ihn als historische Persönlichkeit im Andenken zuhalten“, die täuschen sich,— siewerden elend zu­schanden werden, es wird nichts durchgehen ohne diesen Herrn und Heiland der einzelnen Menschen, wie des ganzen Menschen­geschlechts. Wo hast du denn alle diese Gedanken her, der du viel­leicht jetzt in unsrer Zeit alles Mögliche zur Verbesserung der Men­schen zu tun im Sinne hast? Du willst es weltlich treiben, aber aus der Persönlichkeit Jesu heraus hast du es, — wo anders ist es nicht gewachsen. So steht es nun, daß ich kühn sage: Wir können eigentlich hoch Menschliches nicht erreichen, außer wenn wir an den Menschensohn, an den Herrn Jesum glauben.

Das ist nun freilich nur die Sache Weniger. Glaubt nicht, daß ich alle Menschen dazu auffordern möchte; das Weltgetöse ist noch viel zu mächtig. Aber meinst du, daß auch nur einige wenige dieses Glauben haben? dieses unmittelbare Empfinden: „Er ist im Namen des allmächtigen Gottes“, und dann dieses Ausharren, dieses Beten und nicht Laßwerden? Nur aus dem Anschluß, aus dem lebendigen Anschluß und aus der lebendigen Verbindung mit dem Herrn Jesu kann man zu diesem Beten und nicht Laßwerden kommen bezüglich der göttlichen Dinge, der göttlichen Ent­wicklung, die der Mensch haben soll. Was so im allgemeinen religiös sein will und es mit den menschlichen Gedanken allein fertig brin­gen will, das wird alles müde und matt, man hat kein Bild vor Augen. Lasset mich ein Beispiel sagen von diesem Beten und nicht Laßwerden, wie notwendig das ist, selbst in den Dingen, in denen der Mensch irdisch vorwärts schreiten soll. Es ist noch kaum ein paar Jahrzehnte, da sahen wir nur den Blitz am Himmel. Wir redeten von Elektrizität, und einige Menschen, die haben diesem merkwürdig Kraftvollen nachgedacht, und es ließ ihnen keine Ruhe, sie blieben dabei: „Wer weiß, kann es nicht in der Menschen Hand kommen? kann dieses ganz Ferne, in den Wolken Spielende, Tödliche, Schreckliche, aber doch Kraftvolle — kann es nicht in die Hand der Menschen kommen?“ Ich erinnere mich, Millionen haben gelacht, nur einige wenige haben geglaubt, sind darauf be­dacht geblieben, sind nicht laß geworden, und plötzlich war es da. So ungefähr ist es mit dem, was wir in Jesus schauen. Meine Lieben, wer ein Bild des Herrn Jesu aus der Bibel gewonnen hat, vielleicht auch durch Erfahrungen seines eigenen Herzens, der sieht in ihm die Kräfte, die wir brauchen. Zunächst sind es ganz weit von uns weg stehende, ganz wie himmlische Kräfte, ganz hoch­stehende göttliche Kräfte, so daß wir heute das Leben Jesu fast gar nimmer verstehen können — wenigstens menschlich, natürlich können wir es nicht verstehen —, aber wir sehen in ihm die hohen, mächtigen Gotteskräfte und wir schauen wie hinauf: Ist es mög­lich, daß diese Kräfte auch einmal Eigentum der Menschen werden? Ich habe schon gesagt: Ohne Jesus keine Verbesserung der Menschen, das heißt: ohne diese Kräf­te, die wir in ihm sehen, wie wir seinerzeit den Blitz gesehen haben und konnten doch nichts aus ihm machen, — und heute läuft es durch die ganze Welt an Drähten und ohne Drähte — durch die ganze Luft laufen unsre Worte mit dieser Kraft des Blitzes! Und wie wir früher den Blitz nur gesehen haben und nichts damit machen konn­ten, so sehen wir etwa die Kräfte Gottes, die himmlischen Kräfte, bloß in Gedanken daran uns festhaltend. Aber ganz reell sehen wir die Kräfte Gottes in der Persönlichkeit Jesu entfaltet, wie er leibte und lebte; es war also etwas Irdisches geworden, — wir können es bis auf den heutigen Tag wahrnehmen und schau­en. Allerdings, wir können den Kopf schütteln und sagen: „Wir glau­ben es nicht!“ Aber wir, die wir der Witwe gleichen, nehmen diese Kraft Gottes in Anspruch: das ist unser Eigentum, und diese Kraft Gottes in Jesus Christus soll siegreich werden unter den Menschen. Das ist unser gutes Recht, und darum glauben wir Tag für Tag vor Gott und sagen und bitten: „Man will uns be­rauben, aber, bitte! wir lassen uns nicht berauben! Unser Appell ist an dich, und wenn wir nur ganz einzelne wären — im Namen aller Menschen, der törichten wie der gescheiten, der gottlosen wie der gerechten, im Namen all der Menschen, die du zu Hohem ge­schaffen hast, sagen wir ganz bestimmt: Das, was in Jesus Chri­stus als Gotteskraft, als Lebenskraft sich offenbarte, das ist unser Eigentum! Wir können heute nicht viel damit machen, weil man überall uns bekämpft und anficht; wir müssen es ganz in der Stille festhalten, aber unser Recht ist es, unser Menschenrecht. Vater im Himmel, rette uns von unserm Widersacher!“

Es haben sehr viele, die wollen für die Zukunft hoffen, Mühe — auch wenn sie christlich denken —, den Widersacher in ihren Herzen von sich fernzuhalten. Mit allen Künsten und mit allen Wissenschaften, das heißt mit allen unsern menschlichen Gedanken will uns das Pünktchen geraubt werden. Bitte, meine Lieben, glaubt nicht solche Sachen! Ganz bestimmt: Das, was in Jesus Christus offenbar geworden ist in Worten und in Werken — ganz bestimmt: das ist, was wir brauchen. Womit wollen wir denn die Sünde überwinden ohne diese richtende Ver­gebung, die in Jesus Christus gekommen ist? Womit wollen wir denn das Übel bekämpfen ohne diese Klarheit der Kraft des Lebens, die auch unsre Leiber erleuchten soll? Wie wollen wir denn in all dem Gewirre unter den Menschen durchkommen, wenn nicht der Friede in unsre Herzen kommt, den Jesus Christus offenbart selbst gegen seine Feinde, wenn nicht der hohe göttliche Sinn unsre Herzen bewegt, der uns über das menschliche Gewirre herauf stellt? Womit wollen wir denn in unsern eigenen Herzen siegen, geschweige denn über das, was um uns her ist? So stehen wir und bitten: „Rette uns von unserm Widersacher!“ Und ganz klar haben wir das Bild vor Augen; wie einst die Leute an die Blitze schauten: „Das muß noch in die menschliche Hand!“ so schauen wir auf Jesus Christus: „Das muß noch auf Erden in Macht und Fülle denen zuteil werden, die das Reich Gottes verkündigen!“ Lasset euch das langweilige Christentum nehmen — auf das kommt so viel nicht an —, aber lasset euch Christus nicht nehmen — auf das kommt alles an! Und in diesem könnten wir uns wohl ver­einigen. Ich habe noch ein wenig Hoffnung, daß sich die Christen wieder vereinigen können. Wenn uns das ins Herz kommt, was er ist — was tut es dann, ob einer katholisch oder protestantisch ist! Kommt dieses, was in Jesus Christus uns vor Augen steht, in die Herzen derer, die überhaupt ans Reich Gottes denken, so tritt alles andre in den Hintergrund, — ob wir äußerlichen Gottes­dienst verschiedener Art treiben, das trennt uns nicht. Der eine Punkt, der uns ins Herz gekommen ist, das lebendige, kraftvolle Zukunftsreich aus der Persönlichkeit Jesu Christi, das vereinigt mich mit denen, die irgendwo vielleicht in andern Formen und Verhältnissen leben. Aus dem kann vielleicht einmal eine zu­künftige Einheit der Herde Jesu Christi werden, daß es dann heißt: „Ein Hirte, eine Herde!“

Aber wer es nun ins Auge faßt, dem kommt es ganz schwindel­haft vor. Mit menschlichen Gedanken ist es gar nicht zu erfassen und tausendfach tritt man uns entgegen: „Das wird niemals ge­schehen!“ Da heißt es: Beten und nicht laß werden! Heute heißt es: Wer kann hinstehen? wer kann beten und nicht laß werden? wer kann auf dieses höchste Ziel hin unentwegt ohne Angst und ohne Sorgen trachten und sagen: „Weil es war, so wird es sein!“ — und noch dazu: „So ist es auch!“ Ich habe noch keinen Men­schen gefunden, der in betreff dieses Gotteswillens betete und nicht laß wurde, der im kleinen nicht schon Errettung erfahren hätte. „Er wird sie erretten in einer Kürze.“ Meinet ihr, ich stehe vor euch bloß als derjenige, der in weiter Zukunft eine besondre Er­rettung erwartet? Nein, ich stehe auch als der unter euch, der schon oft erlebt hat, wenn er geglaubt hat, er sei am Ende, und wenn alles schwach geworden ist vor lauter Widersacherei, daß es ge­heißen hat: „Ich errette dich in einer Kürze.“ Es muß alles, was zukünftig ist, vorher schon in der Gegenwart von gewissen Men­schen bemerkt werden. Es gibt nichts bloß Zukünftiges, und alles, was einmal groß kommen soll für die ganze Welt, für alle Men­schen, das muß zuerst klein kommen. Alles, was einmal groß kommt, das erfahren wir schon ganz bestimmt in seiner ganzen Herrlichkeit heute schon, wenn wir beten und nicht laß werden. Denn ohne das kommt es nicht. Wenn wir nicht ganz bestimmt auf die Sache be­dacht sind und sie immerfort im Herzensauge haben, dann gucken wir rechts und gucken links und über uns und unter uns; es laufen unsre großen Augen in der ganzen Welt herum und gucken und gucken, und das, was sich begibt, sieht man nicht. Dann sucht man dies und jenes, will das verändern und jenes, und die eigentliche Kraft, die sich schon geltend macht, nimmt man nicht wahr,— die nimmt bloß der wahr, der wirklich darauf bedacht ist. Und darum möchte ich es noch einmal sagen: Seid nicht so wie die Leute, die mit der Stange im Nebel herumfahren, sondern seid, wie der Herr Jesus hier sagt, auf das bedacht, was in ihm als Gotteskraft erschienen ist, und seid dankbar, wenn ihr das Allerkleinste erfahret von dieser Herrlichkeit Gottes im Fleisch. Warum denn immer über die kleinen Erfahrungen gleichgültig hinweg gehen, und bloß unzufrieden sein und murrend sein? Warum nicht an den kleinen Erfahrungen festhalten, in welchen wir schon die Wahrheit erfahren: „Er wird sie erretten in einer Kürze.“ Fanget klein an, fanget im tiefsten Herzen an! Die Fin­sternisse sind noch groß, aber es hat angefangen. Wir im Geist dürfen als errettet uns ansehen, und wenn auch um uns her noch so viel Finsternis ist.

Meine Lieben — meinest du, meinest du, daß des Menschen Sohn Glauben finde in unsrer Zeit? Meinest du? — Ich weiß wohl, wie sauer es ist. Mit all unsrer Studiererei haben wir Herz und Kopf verstopft, dieses Unmittelbare Jesu Christi zu empfinden. Aber sei es drum, ich möchte doch den Herrn Jesus nicht zuschan­den werden sehen. Ich möchte doch wünschen, daß es etliche gibt, die darauf schauen und dann beten und nicht laß werden. Wenn es auch nicht viele sind — tut nichts! ein paar Leute — vielleicht einmal bloß einer — kommt zum Reich Gottes, und dann haben es alle, — wie wenn man eine Festung stürmt: ein Soldat ist zuerst droben, und dann ist die ganze Festung gewonnen. Oft geht es in den wichtigsten Dingen nicht durch die Massen, sondern durch den Einzelnen, durch Wenige. Wohl uns, wenn wir uns als wenige bewahren. Wohl uns, wenn wir uns als wenige zusammenfinden können in diesem Beten und nicht Laßwerden, weil wir empfunden haben die Größe Jesu Christi, unsres Herrn, dem der Sieg heute gehört und morgen, wie er auch in der Vergangenheit allezeit der Siegreiche über dem Staub geblieben ist. Jesus Christus mit dem Bild, was die Menschheit werden soll, steht obenan lichtvoll und glänzend, daß ihn jeder schauen kann, dem der Geist Gottes das Herz auftut.

Gehalten am 4. September 1910.

Quelle: Christoph Blumhardt: Predigten und Andachten aus den Jahren 1907-1917 (Auswahl aus seinen Predigten, Andachten und Schriften, hg. v. R. Lejeune, Band 4), Erlenbach-Zürich 1932, S. 178-187.

Hier die Predigt als pdf.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s