David J. Bosch über Evangelisation: „Evangelisation ist mehr als die „Gewin­nung von Seelen“, als ob ihre größte Sorge der Rettung von Seelen gelte, die fort­bestehen müssen, wenn alle Welt vergangen ist. Evangelisation betrifft die Ret­tung der Menschen (nicht allein ihrer „Seelen“) hinsichtlich aller ihrer Verhältnis­se.“

Evangelisation, Evangelisierung

Von David J. Bosch

1. Modelle

Der Begriff Evangelisation ist von dem griechischen Verb euangelizein bzw. euangelizesthai abgeleitet. Seine Grundbedeutung im NT ist die Proklamation des anbrechenden Reiches Gottes in Person und Dienst Jesu und der Ruf zu Buße und Glaube (Mk 1,15). Euangelizes­thai, häufig von Lukas gebraucht, ist im wesentlichen ein Synonym für keryssein (Matthäus, Markus) und martyrein (Johan­nes). Am besten wird Evangelisation verstanden als a) jene Aktivitäten, die mit der Ausbreitung des Evangeliums Zusammenhängen (wie man dies auch definiert, s.u.) und b) als die theologische Reflexion über diese Aktivitäten, während Evan­gelisierung sich auf den Prozeß der Ausbreitung des Evangeliums bezieht, oder auf das Ausmaß, in welchem es verbreitet wurde (z.B. „Die Evangelisierung der Welt“).

Freilich gibt es gegenwärtig mehrere verschiedene oder sich gar widerspre­chende Verständnisse von Evangelisation:

1.1 Sie wird manchmal nach Methode und Stil definiert. Dann wird Evange­lisation vornehmlich als öffentliche Erweckungspredigt verstanden, die vor großen Zuhörerschaften (oft im Freien oder über das Fernsehen) von speziell begabten „Evangelisten“ gehalten wird. Sie zielt auf die Entlarvung der Rebellion des Sün­ders gegen Gottes gerechten Anspruch, ruft zu einer „Entscheidung für Christus“ auf und manifestiert sich in einer persönlichen, geistlichen Erfahrung der Verge­bung und des neuen Lebens. Der Zeitpunkt dieses Ereignisses erhält oft große Be­deutung. Die durch diese Form der Evangelisation vermittelte Erlösung manife­stiert sich als zukünftige, ewige Seligkeit (bzw. die Garantie dafür) oder als „Ret­tung der Seele“.

Es bedeutet aber einen gefährlichen Reduktionismus, die Evangelisation pri­mär von ihrer Methode her in individuellen, geistlichen und transzendentalen Ka­tegorien zu beschreiben.

1.2 Andere definieren Evangelisation im Hinblick auf ihre Resultate: Evange­lisation bedeutet „Menschen bekehren“. Das berühmteste Beispiel dieses Ver­ständnisses ist die folgende Formulierung aus Towards the Conversion of England: „Evangelisieren heißt, Jesus Christus in der Kraft des Heiligen Geistes so zu prä­sentieren, daß Menschen dazu kommen, Gott zu vertrauen …“. Diese Definition, in der Folge von verschiedenen Gremien übernommen und immer noch im Ge­brauch – besonders in evangelikalen Kreisen – tendiert jedoch dazu, Evangelisa­tion mit ihrem Ziel oder einem ihrer Ziele zu verwechseln. Hier wird der Dienst der Christusverkündigung nur dann zur Evangelisation, wenn er positive Resulta­te zeigt. Das aber ist unakzeptabel. Der Dienst der Evangelisation bleibt Evangeli­sation, ob Menschen nun positiv antworten oder nicht.

1.3 Noch häufiger wird Evangelisation im Blick auf ihre „Objekte“ bestimmt. Wo dies geschieht, wird sie gewöhnlich von Mission unterschieden. Diese hat es dann mit solchen Menschen zu tun, die noch nicht Christen sind (insbesondere in der „Dritten Welt“), Evangelisation mit solchen, die nicht mehr Christen sind (vor allem im Westen). Mission befaßt sich mit Umkehr, Christianisierung, Anfang, vocare, den Fremden. Evangelisation mit Rückkehr, Re­christianisierung, Neuan­fang, revocare, den Entfremdeten (Th. Ohm, K. Barth, weniger absolut auch bei H.-J. Margull). Ein konstituierender Faktor dieser Unterscheidung ist der Gedan­ke des corpus Christianum und die Idee vom Charakter indelibilis der Taufe. Vor diesem Hintergrund werden Innere Mission und Volksmission als von der Äuße­ren Mission theologisch unterschieden beurteilt. „Objekt“ der Volksmission ist „jedes Glied der Volkskirche, das als getauft erst ein Christ werden muß“.

1.4 Die obige Unterscheidung ist seit dem Zweiten Weltkrieg zunehmend kritisiert worden, wenngleich heute noch in protestantischen und römisch-katholi­schen Kreisen (Ad gentes ist an diesem Punkt unklar) weitgehend daran festgehal­ten wird. Bei der Gründungsversammlung des ÖRK (Amsterdam 1948) erkannten die Delegierten, dank des Einflusses von Hendrik Kraemer u.a., „daß die Proble­me der Verkündigung des Evangeliums in Ost und West grundsätzlich dieselben sind und daß die alten Unterscheidungen überholt sind“. Die Versammlung des IMR in Willingen (1952) schloß sich der Position von Amsterdam an. Diese Sicht ist seither im großen und ganzen beibehalten worden. Philip Potter, der vor­malige Generalsekretär des ÖRK, hatte darum recht, als er 1968 sagte, daß „die ökumenische Literatur seit Amsterdam (1948) die Worte ‚Mission‘, ‚Zeugnis‘ und ‚Evangelisation‘ austauschbar benutzt hat“. Dasselbe geschah in evangelikalen Kreisen, abgesehen davon, daß Mission-Evangelisation hier enger gefaßt wurde als in der Ökumene. Um mit Arthur Johnston zu sprechen: „Historisch gesehen ist die Mission der Kirche allein die Evangelisa­tion“, wobei Mission-Evangelisation fast exklusiv als „Gewinnung von Seelen“ verstanden wird. Im Gegensatz lautet das ökumenische Verständnis von Mission- Evangelisation: „Die ganze Kirche bringt das ganze Evangelium der ganzen Welt“; mit anderen Worten: der totale Dienst der Christen an der Welt außerhalb der Kirche.

1.5 Margull (und zu einem gewissen Grad auch Verkuyl) spricht sich für eine Sichtweise zwischen den Positionen 3 und 4 aus. Er unterscheidet zwischen „mis­sionarischer Verkündigung“ (ein Ausdruck, den er dem der Evangelisation vor­zieht), die im Westen ihren Ort hat, und „heidenmissionarischer Verkündigung“, deren Proprium „besteht in der Verkündigung dort, wo noch keine Kirche ist, wo die Herrschaft Gottes – historisch – noch nie ausgerufen wur­de“. Gleichwohl be­hauptet Margull die Notwendigkeit einer „‚Synchronisierung‘ beider missionari­scher Tätigkeiten, wobei die missionarische Verkündigung (Evangelisation) in die heidenmissionarische hineingenommen wird“, und er fügt in Klammem hinzu: „Man spricht am besten von Zusammengehörigkeit“.

2. Evangelisation als Mission der Kirche

Gewiß ist es ratsam, zwischen Evangelisation und Mission zu unterschei­den, nicht jedoch so, wie Margull es vorschlägt, sondern so, daß Mission als um­fassende Aufgabe verstanden wird, die Gott der Kirche um der Erlösung der Welt willen gestellt hat. Oder als Dienst der Kirche, aus sich selbst herauszutreten in die größere Welt, wobei sie in diesem Prozeß geographische, soziale, politische, ethnische, kulturelle, religiöse, ideologische und andere Schranken und Grenzen überschreitet. Evangelisation kann dann andererseits als eine der verschiedenen Dimensionen der umfassenden Mission der Kirche gesehen werden, noch genauer als der Kem, das Herz und Zentrum der Mission. Vor dem Hintergrund der Mission – „die ganze Kirche bringt das ganze Evangelium der ganzen Welt“ – dürfte das Proprium der Evangelisation u.a. in folgendem liegen:

2.1 Evangelisation ist die Proklamation der Erlösung in Christus für alle Nichtgläubigen, die Verkündigung der Sündenvergebung, der Aufruf an Men­schen, Buße zu tun und an Christus zu glauben und zum Beginn eines neuen Le­bens in der Kraft des Heiligen Geistes. „Als Kernstück und Mittelpunkt seiner Frohbotschaft verkündet Christus das Heil, dieses große Gottesgeschenk, das in der Befreiung von allem, was die Menschen unterdrückt, besteht, vor allem aber in der Befreiung von der Sünde und vom Bösen, in der Freude, Gott zu erkennen und von ihm erkannt zu werden, ihn zu schauen und ihm anzugehören“ (Evangelii nuntiandi 9; vgl. Ad gentes 13). Aber Evangelisation ist mehr als die „Gewin­nung von Seelen“, als ob ihre größte Sorge der Rettung von Seelen gelte, die fort­bestehen müssen, wenn alle Welt vergangen ist. Evangelisation betrifft die Ret­tung der Menschen (nicht allein ihrer „Seelen“) hinsichtlich aller ihrer Verhältnis­se.

2.2 Evangelisation zielt darauf, Menschen in die sichtbare Gemeinschaft der Glaubenden zu bringen (vgl. Ad gentes 13). „Es gehört zum Kern christlicher Mission, die Vermehrung der Ortsgemeinden in jeder menschlichen Gemeinschaft zu fördern“ (Mission und Evangelisation, 25). Aber Evangelisation sollte niemals mit Proselytenmacherei verwechselt werden. Evangelisation ist keine Form kirch­licher Propaganda und sollte niemals als ihr oberstes Ziel die Vergrößerung der Mitgliederzahl einer bestimmten Kirche oder die Verbreitung partikulärer Lehren haben. Solch ein Unternehmen ist nicht Evangelisation, sondern Propaganda.

2.3 Evangelisation beinhaltet das Zeugnis von dem, was Gott getan hat, tut und tun wird. „Christen empfehlen nicht sich selbst, sondern die Liebe Gottes, wie sie in Christus offenbar wird …“ (Nationwide Initiative in Evangelism, 3). Und Christen tun dies in Wort und Tat, Verkündigung und Präsenz, Erklärung und Beispiel.

2.4 Evangelisation bedeutet Einladung. Sie soll keinesfalls in Überredungs­kunst oder Drohgebärden ausarten. Sie ist kein Angebot eines psychologischen Wundermittels gegen die Frustrationen und Enttäuschungen der Menschen, kein Einimpfen von Schuldgefühlen, damit sich die Menschen (tief verzweifelt) Chri­stus zuwenden. Und sie will den Menschen nicht mit Geschichten über die Schrecken der Hölle Angst machen, damit sie Buße tun und sich bekehren. Weil sie von seiner Liebe angezogen werden, sollten sich Menschen Gott zuwenden, nicht weil sie zu ihm getrieben werden von der Angst vor der Hölle.

2.5 Evangelisation ist nur möglich, wenn die evangelisierende Gemeinschaft – die Kirche – ein leuchtendes Beispiel des christlichen Glaubens ist und einen ge­winnenden Lebensstil pflegt. „Das Medium ist die Botschaft“ (Marshall McLu­han). Wenn die Kirche der Welt eine Botschaft der Liebe und der Hoffnung, von Glauben, Gerechtigkeit und Frieden mitzuteilen hat, so sollte sie selbst etwas da­von sichtbar, hör- und fühlbar werden lassen (Apg 2,42-47; 4,32-35). H.-W. Gensichen nennt fünf Merkmale einer evangelisierenden Kirche: a) Auch Außen­stehende sollten sich in sie einbezogen fühlen; b) Sie sollte sich selbst nicht in er­ster Linie als Gegenstand pastoraler Betreuung verstehen, wobei der Pfarrer das Amtsmonopol innehat; c) Sie sollte durch ihre Mitglieder mit der Gesellschaft verwoben sein; d) Sie sollte in ihren Strukturen flexibel und anpassungsfähig sein; e) Sie sollte nicht die Privilegien einer einzelnen Gruppe von Menschen verteidi­gen.

2.6 Evangelisation bietet den Menschen die Erlösung als ein gegenwärtiges Geschenk an, mit der Versicherung immerwährender Seligkeit. Indes, wenn dem Angebot all dessen die Hauptrolle in unserer Evangelisation zukommt, so wird das Evangelium zu einer Konsumware degradiert. Dann fördert die Evangelisation das Streben nach frommer Egozentrik. Dagegen muß betont werden, daß persön­liche Erfahrung der Erlösung an keiner Stelle das zentrale Thema biblischer Be­kehrungsgeschichten wird (K. Barth). Nicht allein, um Leben zu empfangen, wer­den die Menschen aufgerufen, Christen zu werden, vielmehr, um Leben zu geben. Darum, „Berufen werden heißt einen Auftrag bekommen“ (ders.); anders gesagt: Evangelisation bedeutet, Menschen in die Nachfolge Jesu zu rufen; Evangelisation heißt Menschen für die Mission (im umfassenden Sinn des Wortes) zu werben.

Zusammenfassend kann also die Evangelisation als jene Dimension und Ak­tivität der kirchlichen Mission definiert werden, die jedem Menschen an jedem Ort durch Wort und Tat eine wirkliche Gelegenheit bietet, sich zu einer radikalen Neuorientierung herausfordern zu lassen. Diese beinhaltet u.a. die Befreiung von der Sklaverei der Welt und ihrer Mächte und die Übergabe an Christus als Retter und Herr. Der Mensch kann Mitglied der Gemeinschaft Christi, der Kir­che, werden, mithineingenommen werden in seinen Dienst der Versöhnung, des Friedens und der Gerechtigkeit auf Erden, integriert in Gottes Plan, alle Dinge unter die Herrschaft Christi zu stellen.

Lit.: Anderson, G. H. Stransky, T. F. (Hrsg.), Evangelization (Mission Trends 2) 1975. – Armstrong, J., From the Underside. Evangelism from a Third World Vantage Point, 1981. – Castro, E., Freedom in Mission. The perspective of the Kingdom, 1985. – Dhavamony, M. (Hrsg.), Evangelization, Dialogue and Development (Documenta Missionalia 5) 1972. – Gensichen, H.-W., Glaube für die Welt, 1971. – Greinacher, N./Müller, A. (Hrsg.), Evan­gelization in the World Today (Concilium 114) 1979. – Johnston, A., The Battle for World Evangelism, 1978. – Hollenweger, W. J., Evangelisation gestern und heute, 1973. – Krass, A. C., Evangelizing neo-pagan North America, 1982. – Margull, H. J., Theologie der mis­sionarischen Verkündigung, 1959. – Mission und Evangelisation. Eine ökumenische Erklä­rung, 1982. – Nationwide Initiative in Evangelism, Evangelism: Convergence and Diver­gence, 1980. – Ohm, Th., Machet zu Jüngern alle Völker!, Theorie der Mission, 1962. – Poetsch, H.-L., Theologie der Evangelisation, 1967. – Shivute, T., The Theology of Mis­sion and Evangelism in the International Missionary Council from Edinburgh to New Delhi, 1980. – Stevenson, W. T. (Hrsg.), Evangelism. A Consultation, AThR, Supplemen­tary Series, Nr. 8, 1979. – Verkuyl, J., Inleiding in de Evangelistiek, 1978.

(Übers.: T. Weiß)

Quelle: Karl Müller/Theo Sundermeier (Hrsg), Lexikon missionstheologischer Grundbegriffe, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 1987, Seiten 102-105.

Hier der Text als pdf.

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