Hans Jonas, Last und der Segen der Sterblichkeit (The Burden and Blessing of Mortality, 1992): „Es ist eine Pflicht der Zivilisation, vorzeitigen Tod unter Menschen weltweit und in allen seinen Ursachen zu bekämpfen – Hunger, Krankheit, Krieg und so fort. Was unsere Sterblichkeit als solche angeht, so kann unser Verstand keinen Streit darüber mit der Schöpfung haben, es sei denn, er verneint das Leben selbst. Was jeden von uns betrifft, so könnte das Wissen, daß wir hier nur kurz weilen und daß unserer zu erwartenden Zeit eine unverhandelbare Grenze gesetzt ist, sogar nötig sein als Antrieb dafür, unsere Tage zu zählen und sie so zu leben, daß sie durch sich selber zählen.“

Last und der Segen der Sterblichkeit (The Burden and Blessing of Mortality)

Von Hans Jonas

Seit unvordenklicher Zeit haben Sterbliche ihre Sterblichkeit beklagt, ihr zu entrinnen gesucht, an der Hoffnung auf ewi­ges Leben gehangen. Mit »Sterbliche« sind natürlich Menschen gemeint. Der Mensch allein unter allen Geschöpfen weiß, daß er sterben muß, er allein betrauert seine Toten, bestattet seine Toten, gedenkt seiner Toten. So sehr wurde Sterblichkeit. als Kennzeichen der conditio humana angesehen, daß das Attribut »sterblich« beinah für den Menschen monopolisiert wurde: Im homerischen wie späteren griechischen Sprachgebrauch z. B. ist »die Sterblichen« fast synonym mit »die Menschen« gebraucht, im Kontrast zu der beneideten, alterslosen Unsterblichkeit der Götter. »Memento mori« hallt durch die Zeiten als ständige phi­losophische wie religiöse Mahnung im Dienste eines wahrhaft menschlichen Lebens. »Lehre uns zählen unsere Tage, auf daß wir ein weises Herz gewinnen«, schreibt der Psalmist im 90. Psalm.

Über dieser unheilbar anthropozentrischen Gebanntheit des Blicks wurden nicht viele Gedanken auf die offenkundige Tat­sache verwendet, daß wir das Los der Sterblichkeit mit unseren Mitgeschöpfen teilen, daß alles Leben sterblich ist, daß in der Tat Tod und Leben gebietsgleich sind. Ein wenig Nachdenken be­lehrt uns, daß dies so sein muß, daß man das eine nicht ohne das andere haben kann. Dies soll unser erstes Thema sein: Sterblich­keit als Wesensmerkmal des Lebens an sich; erst danach wenden wir uns den spezifisch menschlichen Aspekten hiervon zu.

Zwei Bedeutungen fließen im Attribut »sterblich« zusammen: Zum einen, daß die so bezeichnete Kreatur sterben kann und der permanenten Möglichkeit des Todes ausgesetzt ist; zum zweiten, daß sie irgendwann sterben muß, der letztendlichen Notwendig­keit des Todes nicht entrinnen kann. Mit der permanenten Mög­lichkeit des Todes verknüpfe ich nun die Last der Sterblichkeit, mit seiner letztendlichen Notwendigkeit ihren Segen. Die zweite dieser Verbindungen mag befremden. Erörtern wir beide.

Ich beginne mit der Sterblichkeit als stets präsenter Möglich­keit des Todes für alles Lebendige, einhergehend mit dem Le­bensprozeß selber. Diese »Möglichkeit« besagt mehr als die Bin­senwahrheit der Zerstörbarkeit, die für jede zusammengesetzte materielle Struktur gilt, ob sie nun tot oder lebendig ist. Mit ge­nügender Gewalt läßt sich auch der Diamant zertrümmern, und alles, was da lebt, kann durch zahllose äußere Ursachen getötet werden, worunter andere Lebewesen an prominenter Stelle ste­hen.

Der innerste Zusammenhang jedoch zwischen Leben und möglichem Tod reicht in größere Tiefe: Er beruht auf der or­ganischen Konstitution als solcher, auf der ihr eigentümlichen Weise »zu sein«. Diese Weise des Seins müssen wir zergliedern, um die Wurzeln des Todes im Leben selbst bloßzulegen. Zu diesem Zweck bitte ich Sie, mich auf einer Wegstrecke onto­logischer Prüfung zu begleiten. »Ontologisch« nennen wir die Frage nach der für diese oder jene Klasse von Dingen charak­teristischen Weise »zu sein« – in unserem Fall für die Klasse »Organismus«, da dies, soweit wir wissen, die einzige physische Form ist, in welcher Leben existiert. Was ist die Art des Seins eines Organismus?

Unsere erste Beobachtung ist die, daß Organismen Dinge sind, deren Sein ihr eigenes Werk ist. Das will sagen, daß sie nur existie­ren kraft dessen, was sie tun. Und dies in dem radikalen Sinne, daß das Sein, das sie sich durch dieses ihr Tun erwerben, nicht ein Besitz ist, den sie nun »haben«, abgetrennt von der Tätigkeit, durch die er erzeugt wurde, sondern jenes Sein ist nichts anderes als die Fortsetzung eben dieser Tätigkeit selbst, möglich gemacht durch das, was sie gerade vollbracht hat. Daher bedeutet die Aus­sage, daß das Sein der Organismen ihr eigenes Werk ist, soviel wie: daß dieses Tun ihres Tuns ihr Sein selber ist. Sein besteht für sie im Tun dessen, was sie zu tun haben, damit sie fortfah­ren zu sein. Daraus folgt direkt, daß ein Aufhören des Tuns auch ein. Aufhören des Seins bedeutet; und weil das geforderte Tun in seiner Möglichkeit nicht von ihnen allein abhängt, sondern auch vom Entgegenkommen einer Umwelt, das gewährt oder versagt werden kann, so begleitet die Gefahr des »Aufhörens« die Orga­nismen von Anfang an. Hier ist die fundamentale Verknüpfung von Leben und Tod, der Grund der Sterblichkeit in der Urver­fassung des Lebens.

Was wir bisher in den abstrakten Begriffen des Seins und Tuns, also in der Sprache der Ontologie ausgedrückt haben, soll nun bei seinem geläufigen wissenschaftlichen Namen genannt Wer­den: Metabolismus. Der ist konkret das Tun, das wir im Auge hatten, als wir eingangs von Wesen sprachen, deren Sein ihr eigenes Werk ist. Metabolismus kann sehr wohl als definierende Eigenschaft des Lebendigen dienen: Alles Lebendige hat ihn, kein Nicht-Lebendiges hat ihn. Was er bezeichnet, ist dies: zu existieren mittels Austausch von Stoff mit der Umwelt, seiner vorübergehenden Einverleibung, Nutzung und Wiederausscheidung. Das deutsche Wort »Stoffwechsel« drückt dies sprechend aus.[1] Machen wir uns. klar, wie ungewöhnlich, ja einzigartig dieser Zug im weiten All der Materie ist.

Wie macht es ein gewöhnliches physikalisches Ding – ein Pro­ton, ein Molekül, ein Stein, ein Planet – zu dauern? .Nun, einfach dadurch, daß es da ist. Sein Jetztdasein ist der zureichende Grund dafür, auch später da zu sein, wenn auch vielleicht an einem anderen Ort. Das gilt wegen des Materieerhaltungsgesetzes, eines der grundlegenden Naturgesetze, seitdem – bald nach dem Urknall – das explodierende Chaos sich in diskreten, äu­ßerst dauerhaften Einheiten kondensierte. In dem Universum, das seitdem evolvierte, ist das einzelne, sture Teilchen, etwa ein Proton, einfach und endgültig, was es ist, identisch mit sich selbst im Ablauf der Zeit und ohne diese Identität: durch ir­gendein Handeln seinerseits aufrechterhalten zu müssen. Seine Erhaltung ist bloßes Verharren, kein Neu-sich-Behaupten im Sein von Augenblick zu Augenblick. Es existiert ein für allemal. Von einem zusammengesetzten, makroskopischen Gegenstand – einem bestimmten Quarz in unserer Steinsammlung – zu sagen, er sei derselbe wie gestern, heißt demnach nichts anderes, als daß er aus denselben Teilen und Teilchen besteht wie zuvor.

Gemäß diesem Kriterium nun würde ein lebender Organismus keine Identität im Flusse der Zeit besitzen. Wiederholte Besich­tigungen würden erbringen, daß er weniger und weniger aus den anfänglichen Bestandteilen und mehr und mehr aus neuen der­selben Art besteht, die an ihre Stelle treten, bis schließlich zwei verglichene Zustände vielleicht kein einziges Partikel mehr ge­mein haben. Gleichwohl würde kein Biologe dies dahin deuten, daß er es nicht mehr mit demselben organischen Individuum zu tun habe. Im Gegenteil, jeder andere Befund der genannten Be­sichtigungen müßte ihm unverträglich erscheinen mit der Selbigkeit eines Lebewesens qua Lebewesen: Wenn es nach einer hin­reichend langen Zeitspanne noch dasselbe Inventar von Teilchen aufwiese, würde er daraus schließen, daß der betreffende Kör­per kurz nach der ersten Inspektion zu leben aufgehört hat und in dieser entscheidenden Hinsicht nun nicht mehr »derselbe« ist, das heißt, nicht mehr ein »Geschöpf«, sondern ein Leichnam. So sehen wir uns denn konfrontiert mit der ontologischen Tatsa­che einer ganz anders gearteten Identität als der trägen, physika­lischen Identität, obgleich sie auf Vorgängen mit und zwischen Stücken von der Art dieser einfachen Identität beruht. Dieser äu­ßerst erstaunlichen Tatsache müssen wir nachgehen.

Sie hat etwas von einem Paradox an sich. Einerseits ist der le­bendige Körper eine Zusammensetzung von Materie, und in je­dem Moment fallt seine Realität vollständig mit seinem augen­blicklichen »Stoff« zusammen – d. h. mit einer bestimmten Man­nigfaltigkeit individueller Bestandteile. Andererseits ist er nicht mit der Stoff-Totalität dieses oder irgendeines Augenblicks iden­tisch, da diese jedesmal im Strom des Wechsels schon flußabwärts im Verschwinden ist; in dieser Hinsicht ist der Körper verschie­den von seinem Stoff und nicht die Summe davon. Also haben wir im Organismus den Fall eines substantiell Seienden, das eine Art von Freiheit genießt gegenüber seiner eigenen Substanz, eine Unabhängigkeit von demselben Stoffe, aus dem es nichtsdesto­weniger gänzlich besteht. Aber obwohl unabhängig von der Sel- bigkeit dieses Stoffes, ist es abhängig von seinem »Wechsel«, vom andauernden und ausreichenden Fortgang desselben, und in die­ser Hinsicht besteht keine Freiheit. So ist die Ausübung der Frei­heit, deren sich das Lebewesen erfreut, eher eine strenge Not­wendigkeit. Diese Notwendigkeit nennen wir »Bedürfnis«, das seinen Platz nur dort hat, wo Existenz ungesichert und ihre ei­gene ständige Aufgabe ist.

Mit dem Begriff »Bedürfnis« sind wir auf eine Eigenschaft des Organischen gestoßen, die einzig dem Leben zukommt und der ganzen übrigen Wirklichkeit unbekannt ist. Das Atom ge­nügt sich selbst und würde fortdauem, auch wenn die ganze Welt drumherum vernichtet wäre. Im Gegensatz dazu gehört Nicht-Autarkie zum Wesen des Organismus. Seine Macht, die Welt zu benutzen, dieses einzigartige Vorrecht des Lebens, hat ihre genaue Kehrseite in dem Zwang, sie benutzen zu müssen, bei Strafe des Seinsverlustes. Die hier waltende Abhängigkeit ist der Preis, den die Ursubstanz auf sich nahm, als sie sich aus der bloß trägen Beharrung auf die Laufbahn organischer – d. h. selbst-konstituierender – Identität wagte. So geht Bedürfnis von Anbeginn damit einher und kennzeichnet die auf solche Weise gewonnene Existenz als ein Schweben zwischen Sein und Nichtsein. Das »nicht« Hegt stets auf der Lauer und muß immer von neuem abgewehrt werden. Mit anderen Worten: Leben trägt den Tod, seine Negation, in, sich selbst.

Wenn es aber wahr ist, daß mit stoffwechselnder Existenz das Nichtsein in der Welt auftrat als eine in der Existenz selbst ent­haltene Alternative, dann ist es ebenso wahr, daß damit Sein zum ersten Mal einen emphatischen Sinn gewann: In seiner Binnen­logik qualifiziert durch die Drohung seiner Negation muß sich dieses Sein bejahen, und bejahte Existenz heißt Existenz als In­teresse. Sein ist zu einer Aufgabe geworden statt eines gegebenen Zustandes, zu einer Möglichkeit, die immer aufs neue zu ver­wirklichen ist, im Widerstreit mit seinem immer präsenten Ge­genteil, dem Nichtsein, das es am Ende doch unentrinnbar ver­schlingen wird.

Mit dem Fingerzeig auf Unentrinnbarkeit sind wir unserem Gedankengang vorausgeeilt. Soweit bisher entwickelt, erlaubt er uns, die innere Dialektik des Lebens etwa wie folgt zusam­menzufassen. Die Rede ist von der lebendigen Form: Sich selbst überantwortet und ganz auf die eigene Leistung gestellt, für ihre Vollbringung aber auf Bedingungen angewiesen, deren sie nicht mächtig ist und die sich versagen können; abhängig daher von Gunst und Ungunst äußerer Realität; ausgesetzt der Welt, von der sie sich abgesetzt hat und mittels derer sie sich doch behaupten muß; aus der Identität mit dem Stoffe herausgetre­ten, doch seiner bedürftig; frei, aber abhängig; vereinzelt, aber in notwendigem Kontakt; Kontakt suchend, aber durch ihn zerstörbar; nicht weniger bedroht andererseits durch seine Ent­behrung: gefährdet also nach beiden Seiten, von Übermacht und Sprödigkeit der Welt, und auf dem schmalen Grate dazwischen stehend; in ihrem Prozeß, der nicht aussetzen darf, störbar; in ihrer Zeitlichkeit jeden Augenblick endbar – so führt die leben­dige Form ihr vermessenes Sondersein in der Materie — paradox, labil, unsicher, endlich und tief verschwistert dem Tode. Die Todesangst, mit der das Abenteuer dieser Existenz beladen ist, stellt das ursprüngliche Wagnis der Freiheit, das die Substanz im Organischwerden unternahm, in grelles Licht.

Aber lohnt sich der große Aufwand, dürfen wir an diesem Punkt wohl fragen. Wozu die ganze Mühe? Warum überhaupt erst das sichere Ufer selbstgenügsamer Permanenz verlassen für die aufgestörten Wasser der Sterblichkeit? Warum das angstvolle Glücksspiel der Selbsterhaltung wagen? Mit dem nachträgliche^ Wissen von Jahrmilliarden hinter uns und dem gegenwärtigen Zeugnis unserer Innerlichkeit, welche doch gewiß zum Beweis­material gehört, sind wir nicht ohne Anhaltspunkte für eine spekulative Vermutung. Wagen wir sie!

Der fundamentale Ansatzpunkt ist, daß das Leben »Ja!« zu sich selber, sagt. Indem es an sich hängt, erklärt es, daß es sich werthält. Aber man hängt nur an dem, was auch genommen wer­den kann. Dem Organismus, der das Sein nicht anders als nur zum Lehen hat, kann es genommen werden und wird es auch, wenn er es sich:nicht jeden Augenblick neu zu eigen macht. Der fortgesetzte Stoffwechsel ist solch eine Neuaneignung, die im­mer wieder den Wert des Seins behauptet gegen seinen Rückfall ins Nichts. In der Tat, »Ja« sagen scheint die Mitanwesenheit der Alternative zu erfordern, zu der »Nein« gesagt wird. Das Le­ben hat sie im Stachel des Todes, der ständig auf es wartet, den es stets von neuem abwehren muß, und gerade die Herausfor­derung des »Nein« erweckt und verstärkt das »Ja«. Dürfen wir dann vielleicht sagen, daß Sterblichkeit das enge Tor ist, durch welches allein Wert — der Adressat eines »Ja« – in das anson­sten indifferente Universum eintrat? Daß derselbe Spalt in der massiven Gleichgültigkeit der Materie, der »Wert« einen Einlaß gab, auch die Furcht seines Verlustes einlassen mußte? Wir wer­den bald etwas zu sagen haben über die Art des Wertes, der zu diesem Preis erkauft wurde. Davor aber erlauben Sie mir noch einen weiteren Schritt in diese Spekulation jenseits der Beweis­barkeit. Ist die Vermutung zu kühn, daß in der, kosmisch gese­hen, äußerst seltenen Gelegenheit zu organischer Existenz, als sie endlich auf diesem Planeten durch glückliche Umstände an­geboten wurde, das geheime Wesen des Seins, eingesperrt in die Materie, die lange ersehnte Chance ergriff, sich selbst zu bejahen und in ihrer Verfolgung sich mehr und mehr der Bejahung wert zu machen? Die Tatsache und der Verlauf der Evolution deuten in diese Richtung. Dann wären Organismen die Art und Weise, in der das universale Sein »Ja!« zu sich selber sagt. Wir haben gesehen,.daß es dies nur tun kann, indem es gleichzeitig das Risiko des Nichtseins eingeht, mit dessen Möglichkeit es von nun an gepaart ist. Nur in der Konfrontation mit dem immer möglichen Nicht-Sein konnte das Sein dazu kommen, sich selbst zu füh­len, sich zu bejahen, sich zum eigenen Zweck zu machen. Durch negiertes Nicht-Sein verwandelt sich Sein in eine ständige Wahl seiner selbst. So ist es nur ein scheinbares Paradox, daß es der Tod sein soll und seine Hinhaltung durch Akte der Selbsterhaltung, was der Selbstbejahung des Seins das Siegel aufdrückt.

Wenn dies die Last ist, die dem Leben von Anfang an auferlegt wurde, worin besteht dann ihr Lohn? Was ist der Wert, für den mit der Münze der Sterblichkeit gezahlt wird? Was gab es zu be­jahen in dem, was dabei herauskam? Wir haben darauf angespielt, als wir sagten, daß im Organismus das Sein dazu kam, sich selbst zu »fühlen«. Fühlen ist die primäre Bedingung dafür, daß etwas »der Mühe wert« sein kann. Das kann ein Etwas nur als Datum für ein Fühlen und als Fühlen eben dieses Datum. Die bloße An­wesenheit eines Fühlens, was immer sein Was oder Wie. sei, ist seiner totalen Abwesenheit unendlich überlegen. Daher ist die Fähigkeit zu fühlen, wie sie in Organismen, anhub, der Ur-Wert aller Werte. Mit seinem Auftreten in der organischen Evolution erlangte die Wirklichkeit eine Dimension, derer sie in der Form purer Materie entbehrte und die auch danach auf ihren engen Standplatz in biologischen Gebilden beschränkt bleibt: die Di­mension subjektiver Innerlichkeit. Vielleicht angestrebt seit der Schöpfung, fand sie ihre schließliche Wiege in der Ankunft des stoffwechselnden Lebens. Wo genau in dessen Fortschreiten zu höheren Formen diese geheimnisvolle Dimension sich tatsäch­lich auftat, das können wir nicht wissen. Ich selber neige dazu, ihren infinitesimalen Anfang in den frühesten sich selbst erhal­tenden und fortpflanzenden Zellen zu vermuten – eine keimende Innerlichkeit, der leiseste Schimmer diffuser Subjektivität, lange bevor sie sich in Gehirnen als ihren spezialisierten Organen kon­zentrierte. Das sei wie es mag. Irgendwo im Aufstieg der Evolu­tion, spätestens mit dem Zwillingsauftreten von Wahrnehmung und Beweglichkeit bei Tieren, brach diese unsichtbare innere Di­mension hervor und erblühte zu immer, bewußterem subjekti­vem Leben: Innerlichkeit, die nach außen tritt im Verhalten und sich mitteilt in gegenseitiger Verständigung.

Der Gewinn ist zweischneidig wie jeder Charakterzug des Le­bens. Fühlen legt das Subjekt bloß für Schmerz so sehr wie für Genuß, sein Schärfegrad ist der gleiche nach beiden Seiten; Lust hat ihr Gegenstück in Qual, Verlangen in Furcht; Zweck wird er­reicht oder vereitelt, und die Fähigkeit, sich am einen zu erfreuen, ist dieselbe wie die, am anderen zu leiden. Kurz: Die Gabe der Subjektivität verschärft nur die Ja-Nein-Polarität alles Lebendi­gen, und jede Seite nährt sich an der Stärke der anderen. Ist dann diese Gabe, wenn man ein Fazit zu ziehen versucht, immer noch ein Gewinn, der die bittere Bürde der Sterblichkeit rechtfertigt, an die das Geschenk geknüpft ist – und die zu tragen es sogar noch erschwert? Das ist eine Frage von der Art, die nicht ohne ein Element persönlicher Entscheidung beantwortet werden kann. Als Teil meines Plädoyers für ein »Ja!« erlauben Sie mir zwei Be­merkungen:

Die erste bezieht sich auf das Verhältnis von Mitteln und Zwecken in der Ausstattung eines Organismus für sein Leben. Biologen pflegen uns zu sagen (und zwar mit ausgezeichneten Gründen), daß dieses oder jenes Organ oder Verhaltensmuster »selektiert« wurde aus den Zufallsmutationen heraus wegen des Überlebens-Vorteils, mit dem es seine Besitzer versah. Dement-. sprechend muß die Evolution des Bewußtseins dessen Nütz­lichkeit im Kampf ums Dasein verraten. Überleben als solches wäre der Zweck, Bewußtsein ein zusätzliches und der Zunahme fähiges Mittel hierfür. Aber das würde bedeuten, daß Bewußtsein eine kausale Macht über Verhalten besäße, und eine solche Macht kann – gemäß dem Kanon der Naturwissenschaften – nur den physikalischen Vorgängen im Gehirn zugesprochen werden, nicht den subjektiven Phänomenen, welche diese be­gleiten; und diese physikalischen Vorgänge ihrerseits müßten vollständig als Konsequenz vorheriger physikalischer Vorgänge oder Zustände erklärbar sein. Ursachen müssen, durch die ganze Reihe hindurch, so objektiv sein wie die Wirkungen-das: dekre­tiert ein materialistisches Axiom. Nach Kausalkriterien würde demnach ein nicht-bewußter Robotmechanismus mit gehirn­gleichem Verhaltensausstoß es ebensogut getan haben und hätte für die natürliche Auslese genügt. Will sagen: Die Evolutions­mechanik, so wie sie von ihren Befürwortern vertreten wird, erklärt vielleicht die Evolution des Gehirns, nicht aber die des Bewußtseins. Der Natur wird damit die Dreingabe einer Über­flüssigkeit nachgesagt, die Gratiszugabe des Bewußtseins, das jetzt (per Naturwissenschaft) sich selbst als nutzlos entlarvt und darüber hinaus noch als täuschend in seiner kausalen Prätention.

Es gibt hier nur einen Ausweg aus der Absurdität, und der be­steht darin, dem Selbstzeugnis unserer subjektiven Innerlichkeit zu trauen, nämlich, daß diese (in gewissem Ausmaß) kausal wirk­sam ist für unser Verhalten, daher tatsächlich in Frage kam für die natürliche Auslese als weiteres (immer wirksamer sich bewäh­rendes) Mittel des Überlebens. Aber mit demselben Akt des Ver­trauens haben wir auch dem immanenten Anspruch des Bewußtseins beigepflichtet, daß es über alle instrumentelle Tauglichkeit hinaus um seiner selbst willen und als Zweck an sich selbst exi­stiert. Es gibt hier eine Lektion über das allgemeine Verhältnis von Mitteln und Zwecken bei Organismen zu lernen.

Das Überleben zu sichern, ist in der Tat ein Zweck der or­ganischen Ausstattung eines Lebewesens; aber wenn wir fragen »wessen Überleben?«, dann muß oft die Ausstattung selber un­ter die Güter an sich gezählt werden, die zu erhalten sie behilflich ist. Fähigkeiten aus dem Bereich des Seelischen sprechen hier die deutlichste Sprache.

Solche »Mittel« zum Überleben wie Sinneswahrnehmung und‘ Gefühle, Verstand und Wille, Befehlsgewalt über die Glieder und Wahl zwischen Zielen, dürfen nie nur als Mittel zum Zweck, son­dern müssen immer auch als Qualitäten des zu erhaltenden Le­bens beurteilt werden und darum als Aspekte des Zweckes selbst. Es liegt in der subtilen Logik des Lebens, daß es Mittel benutzt, die den Zweck modifizieren und selber Teil von ihm werden. Das fühlende Lebewesen ist darauf aus, sich als fühlendes, nicht bloß als stoffwechselndes Geschöpf zu erhalten, das heißt, es strebt die Aktivität des Fühlens als solche fortzusetzen; das wahrnehmen­de Lebewesen ist darauf aus, sich als wahrnehmendes Ge­schöpf zu erhalten … und so weiter. Selbst der Krankeste unter uns, wenn er überhaupt noch leben will, will dies denkend und fühlend, nicht bloß verdauend. Ohne diese subjektiven Vermö­gen, die in der Tierwelt auftauchen, gäbe es viel weniger zu er­halten, und dieses »weniger« des zu Erhaltenden ist zugleich das »weniger« dessen, wodurch es erhalten wird. Die selbstwertige Erfahrung der betätigten Mittel macht die Erhaltung, der sie die­nen, mehr der Mühe wert. Was immer die wechselnden Inhalte, was immer die erprobte Nützlichkeit: Bewußtheit als solche pro­klamiert ihren eigenen höchsten Wert.

Aber: Müssen wir zustimmen? Diese Frage führt zu meiner zweiten Bemerkung. Was wäre, wenn die Summe der Leiden im Reich des Lebens die Summe der Freuden immer über­stiege? Wenn, insbesondere in der Menschenwelt, die Summe des Elends soviel größer wäre als die des Glücks, wie die Kunde der Jahrtausende nahezulegen scheint? Ich bin geneigt, in die­sem Punkte dem Urteil der Pessimisten beizupflichten. Es ist nur allzu wahrscheinlich, daß die Bilanz, wenn wir sie wirklich zie­hen könnten, traurig aussehen würde. Aber wäre das ein gültiger Grund, den Wert von Bewußtheit zu verneinen und zu sägen, es wäre besser, wenn sie nie in die Welt gekommen wäre? Hier sollte man auf die Stimme ihrer Opfer hören, die Stimme jener, die am wenigsten bestochen sind durch genossene Freuden. Das Votum der Glücklichen kann man beiseite lassen, aber das der Leidenden, Unglücklichen zählt doppelt an Gewicht und Gül­tigkeit. Und da finden wir, daß fast kein Ausmaß des Elends das »Ja!« zu empfindender Selbstheit verstummen läßt. Selbst das größte Leiden klammert sich noch daran, selten wird der Weg des Selbstmords eingeschlagen, nie wird ein »Überleben« ohne Empfinden gewünscht. Gerade die Leidensgeschichte der Menschheit lehrt uns, daß die Parteinahme der Innerlichkeit für sich selbst unbesieglich der Aufrechnung von Schmerzen und Freuden widersteht und- unsere Urteilsversuche nach diesem Maßstab von sich weist.

Wichtiger noch: Etwas in uns protestiert dagegen, ein metaphysisches Urteil auf hedonistische Gründe zu bauen. Die An­wesenheit überhaupt von irgendeinem Sich-Lohnen im Univer­sum – und wir haben gesehen, daß diese an die Existenz von Fühlen geknüpft ist – wiegt unermeßlich jeden Zoll an Leiden auf, den sie dafür erhebt. Da es letzten Endes die Sterblichkeit ist, die diesen Zoll erhebt, aber sie zugleich die Bedingung dafür ist, daß solche existieren, die ihn bezahlen können, und Existenz dieser Art der einzige Sitz von Sinn in der Welt ist, so ist die Last der Sterblichkeit, die auf uns allen liegt, schwer und sinnvoll zu­gleich.

Bis zu diesem Punkt haben wir Sterblichkeit als die Möglich­keit des allezeit in allem Leben lauernden Todes begriffen, der in den Akten der Selbsterhaltung ständig Paroli zu bieten ist. Die letztendliche Gewißheit des Todes, die angeborene Zeitgrenze individueller Lebensspannen, ist eine andere Sache, und das ist der Sinn von »Sterblichkeit«, an den wir meistens denken, wenn wir von unserer eigenen sprechen. Wir sprechen dann vom Tod als dem Endpunkt auf der langen Straße des Alterns. Dieses Wort ist in unseren Überlegungen bisher nicht vorgekommen; und in der Tat, so vertraut und scheinbar selbstverständlich uns das Phänomen ist, ist Altern – interner organischer Verschleiß durch den Lebensprozeß selber – nicht ein universales Cha­rakteristikum des Lebens, nicht einmal bei ziemlich komplexen Organismen. Man glaubt kaum, wie viele und verschiedene Arten nicht altern, etwa bei Knochenfischen, See-Anemonen, zweischaligen Mollusken. »Verschleiß« findet dort nur durch äußere Todesursa­chen statt, die aber ausreichen, im Widerspiel mit der Geburtenrate die Populationsziffern auszubalancieren, und im Ergebnis sich zu individueller Todesgewißheit in einem artentypischen Zeitrahmen auswirken. Doch Altern in arttypi­schem Tempo, das mit Sterben endet, ist die Regel in den höheren biologischen Ordnungen (ausnahmslos z. B. bei warmblütigen Tieren), und es muß Anpassungsvorteile besitzen, sonst hätte die Evolution es nicht aufkommen lassen. Worin diese Vorteile bestehen, darüber spekulieren die Biologen. Im Prinzip können sie entweder direkt in der Eigenschaft selber liegen oder in anderen Eigenschaften,: mit denen das Altern genetisch verknüpft ist als ihr notwendiger Preis. Wir wollen uns in diese Debatte nicht einmischen, sondern lieber ein Wort zum allgemeinen evolutio­nären Aspekt von Tod und Sterben in seiner erbarmungslosen Tatsächlichkeit sagen, gleichviel ob diese von äußerer oder in­nerer Notwendigkeit stammt. Der Begriff »Evolution« selber enthüllt bereits die schöpferische Rolle individueller Endlich­keit, welche verfügt, daß alles, was lebt, auch sterben muß. Denn was sonst ist die natürliche Auslese mit ihrer Überlebensprämie, dies Haupttriebwerk der Evolution, als die Benutzung des To­des für die Beförderung von Neuheit, für die Begünstigung von Verschiedenheit und für die Aussiebung höherer Lebensformen mit dem Erblühen der Subjektivität? Wir sahen, daß hierbei eine Mischung am Werke ist aus Tötung durch äußere. Ursa­chen (meist das gnadenlose Fressen und Gefressenwerden von Lebendigem untereinander) und aus dem organisch program­mierten Sterben von Elterngenerationen, die ihrem Nachwuchs Platz machen. Mit Ankunft und Aufstieg des Menschen wird die zweite Art von Sterblichkeit, die mitgeborene Gezähltheit unserer Tage, immer wichtiger in Häufigkeit und Bedeutsam­keit, und von hier ab wird sich unsere Betrachtung auf den- menschlichen Bereich allein beschränken und erörtern, in wel­chem Sinne Sterblichkeit ein Segen spezifisch für unsere Art sein mag.

Ein reifes, hohes Alter zu erreichen und am bloßen Verschleiß des Körpers zu sterben, ist, als verbreitetes Phänomen, weitge­hend ein gesellschaftliches Kunstprodukt. Im Naturzustand, so Hobbes, ist das menschliche Leben roh, widerlich und kurz. Das staatliche Gemeinwesen ist nach ihm vor allem zum Schutz gegen gewaltsamen – und das heißt vorzeitigen – Tod gegründet wor­den. Das ist nun gewiß eine zu enge Ansicht von den Motiven zur Zivilisation, diesem umfassenden Kunstwerk menschlicher. In­telligenz, aber eine ihrer Wirkungen ist unbezweifelbar die fort­schreitende Zähmung äußerer Todesursachen für die Menschen; Sie hat freilich auch die. Kräfte ihrer wechselseitigen Vernichtung gewaltig gesteigert. Aber: das Reinergebnis ist doch, wenigstens in technisch fortgeschrittenen Gesellschaften, daß immer mehr Menschen die natürliche Lebensgrenze erreichen.

Die wissenschaftliche Medizin hat großen Anteil an diesem Ergebnis, und sie ist dabei zu versuchen, diese Grenze selber zurückzudrängen. Die theoretische Aussicht darauf scheint je­denfalls nicht mehr verschlossen. Das verlockt dazu, die weitere Verfolgung unseres Themas an die Frage zu knüpfen, ob es rich­tig ist, nicht nur den vorzeitigen, sondern den Tod überhaupt zu bekämpfen, und das heißt: ob beliebige Lebensverlängerung ein legitimes Ziel der Medizin ist. Wir wollen dies auf zwei Ebenen diskutieren: derjenigen des Gemeinwohls der Menschheit und derjenigen des individuellen Eigenwohls.

Das Allgemeinwohl der Menschheit ist engstens verknüpft mit der Zivilisation, und diese mit all ihren Stärken und Schwächen würde weder entstanden sein noch in Bewegung bleiben ohne die immer wiederholte Ablösung von Generationen durch Genera­tionen. An dieser Stelle läßt es sich nun nicht länger hinausschieben, die Betrachtung des Todes zu ergänzen durch diejenige der Geburt, seines wesentlichen Gegenstücks, dem wir noch keine Aufmerksamkeit geschenkt haben. Natürlich war es stillschwei­gend in die Betrachtung individueller Sterblichkeit als Vorbe­dingung biologischer Entwicklung eingeschlossen. In der unver­gleichlich schnelleren, nicht-biologischen Art der Evolution, die sich innerhalb der biologischen Identität der menschlichen Art abspielt durch die Generationen übergreifende Weitergabe und An­sammlung erlernten Wissens und Könnens, gewinnt das Zu­sammenspiel von Tod und Geburt eine ganz neue und vertiefte Relevanz. »Gebürtigkeit« (»natality«, um eine Begriffsprägung meiner lang verschiedenen Freundin Hannah Arendt zu verwen­den) ist ein ebenso wesentliches Attribut der conditio humana wie es die Sterblichkeit ist. Sie benennt die Tatsache, daß wir alle geboren wurden, und das bedeutet, daß jeder von uns ir­gendwann anfing, hier zu sein, als andere schon lange da waren, und das- stellt sicher, daß es immer solche geben wird, die die Welt zum ersten Male sehen, Dinge mit neuen Augen anschauen, staunen, wo andere durch Gewohnheit abgestumpft sind, starten, wo andere angekommen sind. Jugend mit all ihrer Tolpatschigkeit und Torheit, ihrem Eifer und ihrem Fragen ist die ewige Hoffnung der Menschheit. Ohne ihre immerwährende Ankunft würde die Quelle von Neuheit versiegen, denn die Alt- und Älterwerdenden haben ihre Antworten gefunden und bewegen sich auf eingefahrener Bahn. Das immer neue Anfangen, das nur um den Preis immer wiederholten Endens zu haben ist, ist der Schutz der Menschheit gegen das Versinken in Langeweile und Rou­tine, ihre Chance, die Spontaneität des Lebens beizubehalten. Ein weiterer Gewinn der »Gebürtigkeit« ist, daß jeder der Neu­ankömmlinge verschieden und einmalig ist. Es Hegt in der Natur geschlechtlicher Fortpflanzung, daß keiner der durch sie Erzeug­ten genetisch die Wiederholung eines Vorgängers ist oder sel­ber eine Wiederholung erfahren wird. (Das ist einer der Gründe, warum Menschen niemals gentechnisch »Moniert« werden dür­fen.)   

Nun ist es offenkundig, daß ebenso, wie die Sterblichkeit durch Gebürtigkeit kompensiert wird, die Gebürtigkeit ihren Spielraum durch die Sterblichkeit erhält. Das Sterben der Alten schafft Platz für die Jungen. Diese Regel wird um so strenger, je mehr unsere Anzahl die Grenzen der natürlichen Umweltto­leranz bereits erreicht oder gar überschritten hat. Das Gespenst der Überbevölkerung wirft sowieso seinen Schatten über den Zutritt neuen Lebens; und der Anteil von Jugend muß schrump­fen in einer Bevölkerung, die gezwungen ist, statisch zu werden, aber zugleich ihren Altersdurchschnitt anhebt durch: den er­folgreichen Kampf gegen vorzeitigen Tod. Sollten wir bei dieser Lage wirklich versuchen, das Leben weiter zu verlängern, im dem wir an der natürlich gestellten, biologischen Uhr unserer Sterblichkeit herumbasteln, sie überlisten – und so den Raum für Jugend in unserer alternden Gesellschaft noch mehr veren­gen? Ich glaube, das Gemeinwohl der Menschheit gebietet uns die Antwort »Nein!«. Die Frage war ziemlich akademisch, da keine ernsthafte Chance in Sicht ist, die bestehende Barriere zu durchbrechen. Aber der Traum davon hat immerhin sein Haupt in unserer technologischen Trunkenheit erhoben. Der wirkliche Gegenstand in meiner Überlegung war der Zusammenhang von Sterblichkeit und Kreativität in der menschlichen Geschichte. Wer immer also sich an der kulturellen Ernte aller Zeitalter: in irgendeiner ihrer vielen Facetten erfreut und nicht, ohne sie sein möchte, und ganz gewiß der Lobpreiser und Fürsprecher des Fortschritts, sollte in der Sterblichkeit einen Segen sehen und nicht einen Fluch.

Nun sind aber das Wohl der Menschheit und das des einzel­nen nicht notwendig identisch, und manch einer möchte wohl sagen: Zugegeben, daß Sterblichkeit gut für die Menschheit als ganze ist, und auch zugegeben, daß ich dankbar ihren Ertrag annehme, für den andere bezahlt haben – was mich selber an­langt, so wünsche ich gleichwohl brennend, daß ich von dieser Regel ausgenommen sein möge und unbegrenzt fortfahre, ihre Früchte zu genießen, vergangene, gegenwärtige und zukünftige. Natürlich (so stellen wir uns ihn hinzufügend vor) müßte das eine Ausnahme bleiben, aber warum nicht ein paar ausgewählte Gleichbegünstigte als Gefährten in der Unsterblichkeit dazuha­ben? Für »unbegrenzt« kann man auch »zwei- oder dreimal das normale Maximum« setzen, und dementsprechend »Unsterb­lichkeit« abändern. Würde dieser Wunsch wenigstens die Probe vorgestellter Erfüllung bestehen? Mir ist ein Versuch bekannt, diese Frage anzugehen: Jonathan Swifts grausliche Beschreibung der »Struldbrugs« in »Gullivers Reisen«, jener »Unsterblichen«, welche »manchmal, wenn auch sehr selten«, im Königreich Luggnagg geboren werden. Als Gulliver zum ersten Mal von ihnen hört, ist er entzückt vom Gedanken an ihr Glück und das einer Gesellschaft, welche solche Quellen der Er­fahrung und Weisheit besitzt. Aber er muß hören, daß ihr Los erbärmlich ist, allgemein bedauert und verabscheut; ihr nicht enden wol­lendes Leben wird ihnen und den Sterblichen um sie herum zu immer wertloserer Last; sogar die Gesellschaft ihrer eigenen Artgenossen wird unerträglich, so daß z. B. Ehen bei einem bestimmten Alter geschieden werden, »weil das Gesetz dafür hält …, daß diejenigen, die ohne eigene Schuld zu dauerndem Verbleib in der Welt verdammt sind, nicht ihr Elend verdoppelt haben sollen durch die Last eines Weibes« – oder eines Mannes, füge ich eilends hinzu. Und so weiter – es lohnt sich, Gullivers lebhafte Beschreibung zu lesen. Für den Zweck unserer Frage hat Swifts Phantasie einen Haken: Seinen Unsterblichen ist das Sterben versagt, nicht aber Altersschwäche und Senilität erspart – und damit ist natürlich der Ausgang seines Gedankenexperi­ments stark vorentschieden. Unsere Prüfung ‚einer gedachten Erfüllung muß annehmen, daß diese nicht das Geschenk eines unerklärlichen Zufalls ist, sondern der wissenschaftlichen Kon­trolle über die natürlichen Todesursachen und daher schon über die Altersprozesse entspringt, die dazu führen, so daß ein der­art verlängertes Leben auch die Körperkräfte beibehält: Wäre dann die indefinite Verlängerung für die Subjekte selber erstre­benswert? Laßt uns verzichten auf solche Einwände wie den Hinweis auf das Ressentiment der Vielen gegen die Ausnahme für die Wenigen, wie immer sie erlangt sein möge, oder auf das Unedle schon des Wunsches danach, den Bruch der Solidarität mit dem gemeinsamen sterblichen Los. Urteilen wir nach rein egoistischen Gründen. Eine von Gullivers Beschreibungen gibt uns einen wertvollen Fingerzeig. »Sie erinnern sich an nichts als an das, was sie in ihrer Jugend und ihren mittleren Jahren gelernt und beobachtet haben.« Das rührt an einen Punkt, der von seniler Altersschwäche unabhängig ist: Wir sind endliche Wesen, und selbst wenn unsere Vitalfunktionen unbeeinträchtigt weiterliefen, so gibt es doch Kapazitätsgrenzen unseres Gehirns für das, was es speichern und dem noch hinzufügen kann. Es ist die geistige Seite unserer Existenz, die früher oder später Halt gebieten muß, auch wenn die Hexenmeister der Biotechnologie eines Tages die Tricks entdeckt haben sollten, die Leibesma­schine unbegrenzt weiterlaufen zu lassen. Hohes Alter bedeutet beim Menschen eine lange Vergangenheit, die der Geist in seine Gegenwart mit einbegreifen muß als das Substrat seiner per­sönlichen Identität. Die Vergangenheit in uns wächst allezeit, mit ihrer Last von Wissen und Meinungen und Gefühlen und Entscheidungen und erworbenem Können und angenommenen Gewohnheiten und, natürlich, von Dingen über Dingen, die entweder erinnert oder, selbst wenn vergessen, doch irgendwie verzeichnet sind. Der Platz für all das ist finit, und die genannten Hexenmeister müßten auch periodisch die alten Inhalte von Bewußtsein und Gedächtnis löschen können (wie bei Computern), um für neue Raum zu schaffen. Dies sind etwas ausschweifende Phantasien; wir bedienen uns ihrer nur, um die Bewußtseinsseite bei der Frage nach der Sterblichkeit und dem individuellen Wohl ins Licht zu stellen. Die schlichte Wahrheit unserer Endlichkeit ist die, daß uns endloses Fortexistieren (durch welche Mittel auch immer) nur möglich wäre um den Preis, entweder die Ver­gangenheit und damit unsere wahre Identität zu verlieren, oder nur in der Vergangenheit und damit ohne wirkliche Gegenwart zu leben. Ernsthaft können wir weder das eine noch das an­dere wollen und daher auch nicht ein physisches Fortleben um diesen Preis. Es würde uns in einer Welt gestrandet lassen, die wir nicht einmal als Zuschauer mehr verstünden – wandelnde Anachronismen, die sich selbst überlebt haben. Es ist eine sich ändernde Welt infolge der Neuankömmlinge, die fortwährend eintreffen und uns hinter sich lassen. Mit ihnen Schritt halten zu wollen, ist zu unrühmlichem Scheitern verurteilt, um so mehr, als der »Schritt« sich derartig beschleunigt hat. Wenn wir älter werden, erhalten wir unsere Warnungen, unabhängig von unse­rem physischen Zustand. Um ein einziges Mal mich selbst als Beispiel zu nehmen: Es hält sich bis in mein Alter, nur wenig gedämpft, eine angeborene Sensibilität für visuelle und poetische Kunst durch; nach wie vor bewegen mich die Werke, die ich zu lieben gelernt habe und mit denen ich alt geworden bin. Aber die Kunst unserer Zeit ist mir fremd, ich verstehe ihre Sprache nicht, und in dieser Hinsicht fühle ich mich schon als Fremdling in der Welt. Die Aussicht, endlos immer mehr und in jeder Hinsicht ein solcher zu werden, wäre erschreckend, und die Gewißheit, die dies ausschließt, ist beruhigend. So brauchen wir also nicht die Horror-Fiktion der jammervollen Struldbrugs, uns den Wunsch nach irdischer Unsterblichkeit zurückweisen zu lassen: Nicht einmal die Jungbrunnen, die uns die Biotechnologie vielleicht eines Tages anzubieten vermag, um die physischen Strafen für sie zu umgehen, können das Ziel rechtfertigen, der Natur mehr abzuzwingen, als sie unserer Spezies ursprünglich für die Länge unserer Tage zugedacht hat. An diesem Punkt also fallen Private wohl und öffentliches Wohl zusammen. Und damit beschließe ich mein Plädoyer für die »Sterblichkeit als Segen«.

Es sei gesagt, daß diese Seite der Sterblichkeit, die nur im Den­ken erkannt, doch in keiner Erfahrung gefühlt wird, nichts von der Last hinwegnimmt, die allem Fleisch durch die immergegenwärtige Möglichkeit des Todes auferlegt ist. Betont sei auch, daß das, was wir hierüber einen »Segen« für die Einzelperson gesagt haben, nur auf ein vollständiges Leben, satt an Jahren, zutrifft. Diese Voraussetzung ist weit davon entfernt, als Regel erfüllt zu sein, und in allzu vielen Gesellschaften mit niedriger Lebenser­wartung ist sie die seltene Ausnahme. Es ist eine Pflicht der Zi­vilisation, vorzeitigen Tod unter Menschen weltweit und in allen seinen Ursachen zu bekämpfen – Hunger, Krankheit, Krieg und so fort. Was unsere Sterblichkeit als solche angeht, so kann unser Verstand keinen Streit darüber mit der Schöpfung haben, es sei denn, er verneint das Leben selbst. Was jeden von uns betrifft, so könnte das Wissen, daß wir hier nur kurz weilen und daß unserer zu erwartenden Zeit eine unverhandelbare Grenze gesetzt ist, sogar nötig sein als Antrieb dafür, unsere Tage zu zählen und sie so zu leben, daß sie durch sich selber zählen.

Übersetzung des Vortrags »Burden and Blessing of Mortality«, den Hans Jonas am 19. März 1991 in Amsterdam vor der Stichting Koninklijk Paleis Amsterdam gehalten hatte.

Quelle: Hans Jonas, Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt am Main: Insel, 1992, S. 81-100.


[1] Daß der Stoffwechsel zum Zweck der Energiegewinnung stattfindet und daß deren Primärform, die pflanzliche Photosynthese, dem gesamten Lebensgebäude auf Erden zugrunde liegt, braucht hier nicht weiter ausgeführt zu werden. Es sei aber gesagt, daß die folgenden Beschreibungen hauptsächlich auf das Modell des tierischen Stoffwechsels zugeschnitten sind. Nicht alles davon paßt unverändert auf die Pflanze. Die Einseitigkeit sei damit entschuldigt, daß das Phänomen der Sterblichkeit am besten am tierischen Beispiel zu verdeutlichen ist, das auch uns Menschen umschließt.

Hier der Text als pdf.

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