Von Jürgen Mohr
I. Biographie
Christoph Friedrich Blumhardt wurde am 1. Juni 1842 in Möttlingen bei Calw als Sohn der Pfarrersleute Johann Christoph Blumhardt (1805 bis 1880) und seiner Ehefrau Dorothea, geborene Köllner (1816 bis 1886) geboren. Christoph war 5 Jahre alt, als 1847 sein Vater im Kampf um die kranke Gottliebin Diffus Jesus ist Siegen als Realität erfuhr. Die in Möttlingen daraufhin einsetzende Bußbewegung blieb nicht auf die kleine Kirchengemeinde begrenzt. Im Juli 1852 bezog die Familie mit der inzwischen zum Haus gehörigen Gottliebin und ihren Geschwistern das Kurhaus im ›württembergischen Wunderbad zu Boll‹. Das evangelische Konsistorium in Stuttgart verlieh dem Vater die Rechte einer Pfarrstelle für Bad Boll. Christoph Blumhardt wuchs heran und durchlief den normalen Werdegang eines württembergischen Pfarrers. Nachdem er im Seminar in Urach das Abitur abgelegt hatte, begann er in Tübingen mit dem Studium der evangelischen Theologie. Im Anschluß daran arbeitete er drei Jahre in verschiedenen Gemeinden als Vikar. Während dieser Zeit erfuhr Christoph Blumhardt schon bald sehr viel Zustimmung und Anerkennung von Seiten der Gemeinde. Er schrieb dem Vater davon und bekam die erstaunliche Antwort, die Gemeinde unverzüglich zu wechseln. Der Pfarrer, zu dem er dann kam, verbot ihm jeglichen Hausbesuch und ließ ihn Versteinerungen suchen. »Das war eine Radikalkur«, notierte er später in seinem Tagebuch. Diese Kur schien der Vater fortzusetzen, als Blumhardt 1869 ins Kurhaus nach Bad Boll wechselte. Der Vikar Blumhardt arbeitete zunächst als Gehilfe in der Hausgemeinde. Die Milchflaschen zu spülen und die Schuhe zu putzen, gehörte zu seinen täglichen Verrichtungen. Beobachtend und nachahmend lernte er am Modell der Predigt und der Seelsorge seines Vaters selbst zu predigen und Seelsorge zu üben.
Zunächst aber gestand er sich seine eigene Unzulänglichkeit ein: »Vorderhand fühle ich mich viel zu schwach, eine eigentliche Stütze von Papa zu sein. Ich könnte für ihn predigen, aber damit wäre ihm mehr geschadet als genützt, abgesehen davon, daß die Leute schwerlich damit zufrieden wären. Und im Briefschreiben ist’s eine heikle Sache, wenn Gott nicht eine Gabe gibt. Nun, viel daran herumdenken, ist auch nicht recht; wenn’s Gott so fügt, will ich mich zu allem hergeben.«[1] Langsam begann er damit, den Vater in dessen Korrespondenz zu entlasten. Er beantwortete Briefe nach Rücksprache und im Sinne des Vaters. Die Freunde von Bad Boll akzeptierten die Briefe des Sohnes als ›Briefe aus Bad Boll‹. Mehr und mehr erkannte Christoph Blumhardt, daß der Brief für ihn das Medium ist, in dem er sich äußern muß: »Und die Apostel schreiben auch kein Büchlein, das Einzige, was man hat, sind die Evangelien und die Apostelgeschichte; aber sie wollen keine Lehre geben; nur der Hebräerbrief allein macht sich dahinter, ein Buch zu schreiben, wie der Cato und alle die römischen Schriftsteller, das fällt einem Apostel nicht im Schlafe ein, sondern wie es ihnen gerade kommt, schreiben sie ein Brieflein und denken: die Sache muß persönlich den Leuten gesagt werden.«[2] Schon bald entwickelte sich ein umfangreicher Briefwechsel, wie er auch beim Vater bestanden hatte. Doch es fiel ihm nicht leicht, einen Brief zu formulieren: »Ich weiß nicht, sage ich etwas dummes oder nicht, tue ich Dir wohl oder wehe mit diesem Gedanken. Ich bin darüber tüchtig im Feuer gestanden, wohl zwei Stunden lang, aber immer sicherer hieß es in mir: das soll ich Dir schreiben.«[3]
Auch die »Seelsorge an den vielem, die Verkündigung, wollte er von seinem Vater lernen. So nahm er »als Vikar lange fort für Andachten, Bibelstunden und Predigten Stoff aus seines Vaters Andachten und Predigten«, um sich »in seinem Geist, den Menschen anzusehen und mit ihm zu reden«, einzuleben.
Als Johann Christoph Blumhardt 1880 starb, hatte er zuvor seinen Sohn als Nachfolger bestimmt. Mit Spannung und Skepsis zugleich beobachteten die alten Freunde des Hauses, die langjährigen Gäste, den Wechsel vom Vater auf den Sohn. Es kam zu keinem Bruch; der Übergang erfolgte nahtlos. Blumhardt wuchs in die neue Aufgabe hinein. Die ›Hauskirche‹ erfuhr durch den Wechsel vom Vater auf den Sohn keinen Schaden. Der Sohn erhob keinen Anspruch auf Originalität oder Übertrumpfung des Vaters. Er machte schlicht weiter wie sein Vater: »… ich war ein armseliger Mensch. Aber eines habe ich gehabt, ich habe gedacht: Hat mein Vater das Rechte gehabt, so muß ich es auch erben können; auf das kann es nicht ankommen, was ich bin, wenn der Heiland eingreift.«[4]
Die Erinnerung an den Vater blieb bis ins Alter hinein lebendig. Sie verwies ihn an die Konformität mit Jesus, der das Modell für die Begegnung mit Menschen bildet. »Wir sollten immer denken wie Jesus: Was ich in mir Hohes und Wahres habe, das muß in andern auch irgendwo versteckt sein; und ich will recht behutsam sein, daß ich nicht durch Verachtung oder Härte oder Geringschätzung das Hohe kränke, das in andern noch nicht ganz geboren ist. ›Glaube an die Menschen‹ hat einmal mein Vater zu mir gesagt, als ich in großer Not an ihn schrieb, weil in jenen Tagen die freiere Christentumsrichtung, die man die ungläubige nannte, um mich herum tobte. ›Wie soll ich mich benehmen‹, habe ich gefragt, ›diesen ganz anders denkenden Menschen gegenüber?‹ Kurzerhand schrieb mir mein Vater: ›Du sollst sie alle nehmen, wie du selber bist. Glaubst du, dann steckt auch in andern ein Glaube; suchst du Gott, so sucht auch etwas in den andern Menschen Gott, ob du es siehst oder nicht‹«[5] Ein andermal schrieb ihm der Väter: »Du hast jeden für einen Gläubigen zu nehmen, für einen rechten Menschen!«[6]. In grenzenloser Offenheit den Menschen gegenüber ließ er die Grenzen und Zäune nicht gelten, die die sich als ›gläubig‹ bezeichnenden Frommen aufrichteten. Als er einmal bei einer Schiffsreise an der Reling stand und von einem Deck aufs andere sah, stand plötzlich hinter ihm eine ›liebe, fromme Schwester, eine Diakonissin‹. Er hörte sie sagen: »Ach, die armen Menschen!«, wie wenn sie sagen wollte: »Diese Weltkinder«. Das traf ihn und er drehte sich um: »Sehen Sie doch, sind das nicht Schafe Gottes, die nur noch keinen Hirten haben?«. Er hatte die Augen dafür, die Sehschule seines Vaters eröffnete ihm eine neue Optik: »Meine Lieben! Wollen wir im Namen des Herrn in die Welt gehen, dann müssen wir offene Augen haben, müssen die Menschen lieben können, müssen sanftmütig kommen und die Menschen nehmen, wie sie sind, müssen das Gute in ihnen sehen. Gott ist nicht mit dir, wenn du richtest und alles schlecht findest. Gott ist nur mit dir, wenn deine Augen auf das Gute sehen können und wenn du Hoffnung haben kannst auch für die verlorensten Menschen.«[7]
1870 hatte Christoph Blumhardt Emilie Bräuninger vom Einsiedelhof bei Kirchentellinsfurt geheiratet. Emilie Blumhardt übernahm bald die Aufgabe ihrer Schwiegermutter als Hauswirtschaftsleiterin dieser großen Gemeinde von Familienangehörigen, Mitarbeitern und heilungssuchenden Kurgästen. Acht Jahre, nachdem Blumhardt die Pfarrstelle Bad Boll übernommen hatte, wandelte sich seine Einstellung. Er verweigerte sich mehr und mehr den nur Heilung suchenden Frauen und Männern, die auch nach dem Tode des Vaters weiterhin in Scharen nach Bad Boll kamen. Er forderte für alle eine grundlegende Buße. Er selbst war nach einer schweren Erkrankung seiner Frau in eine tiefe Lebenskrise (1889) geraten. In der Mitte der 90er Jahre verzichtete er schließlich auf die pfarramtlichen Rechte der Gemeinde Bad Boll. Das kirchliche Leben nahm andere Formen an. Das Gespräch bei den Mahlzeiten und die tägliche Andacht vor dem Frühstück wurden zu den tragenden Elementen des spirituellen Lebens in seiner Hausgemeinde. 1899 bekannte sich Christoph Blumhardt in Göppingen auf einer Arbeiterversammlung zu den Zielen der Sozialdemokratie. Die Presse kommentierte dieses Bekenntnis im Sinne einer Zugehörigkeit zur sozialdemokratischen Partei. Blumhardt widersprach nicht, sondern trat in die Partei ein, woraufhin ihn die Kirchenleitung nötigte, auf die Rechte und den Titel eines württembergischen Pfarrers zu verzichten.
Er soll es mit Leichtigkeit hingenommen haben: »Was soll ich mit dene Läpple do!?« (gemeint ist das Beffchen). Nach dem Verzicht erwarteten seine Freunde ihn in Göppingen, er kam, zeigte nach oben und sagte: »Es wird regiert!«. An seiner Tätigkeit aber änderte sich durch den kirchenamtlichen Eingriff nichts, was über die von ihm selbst schon eingeführten Änderungen hinausging.
Blumhardt hatte erkannt, daß es nicht genügte, sich den Elenden und Kranken in der Hausgemeinde zuzuwenden. Die entkirchlichten Massen der Industriearbeiter in den Gründerjahren gerieten mehr und mehr in seinen Blick. Im württembergischen Landtag wandte er sich in den Jahren 1901 bis 1906 als Mitglied der fünfköpfigen SPD-Fraktion gegen die Erhöhung der Getreidezölle und setzte sich ein für die Erteilung eines Lehrauftrages für Homöopathie, für die Errichtung einer Arbeiterkammer, für die Erbauung einer Bahnlinie in seinem Wahlkreis Göppingen und die Trennung von Kirche und Schule.
Schon bald merkte er, daß er der Doppelbelastung einer Tätigkeit als Abgeordneter in Stuttgart und eines Predigers und Seelsorgers in Bad Boll auf die Dauer nicht gewachsen war. Einer Wiederwahl entzog er sich deshalb 1906 durch eine Palästinareise. Eine Malariainfektion zwang ihn schon bald nach seiner Heimkehr dazu, sich von Bad Boll ins benachbarte Jebenhausen zurückzuziehen. Ein- oder zweimal in der Woche kam er weiterhin zu Predigt und Seelsorge ins Kurhaus. Am 2. August 1919 starb er in seinem Haus Wieseneck, das er zusammen mit Anna von Sprewitz bewohnte, die nach der schweren Erkrankung seiner Frau die Leitung des Kurhauses übernommen hatte und seine engste Mitarbeiterin wurde.
II. Exemplarische Texte
1. Brief an den Vater von Hermann Hesse
»5. Mai 1892
Lieber Herr Hesse!
Gerne bin ich bereit, Ihren Sohn aufzunehmen, und mit wärmster Teilnahme will ich mich seiner annehmen und sehen, wo der eigentliche Grund seiner Mißbildung liegt. Es kann eine Gestörtheit sein und ein tieferes Seelenleiden vorliegen; es kann aber auch bloß eine Verschränktheit sein infolge der Schulbildung. Nicht alle jungen Leute ertragen die heutige Art des Studierens und verlieren sich selbst.
Es wird auch viel darauf ankommen, wie er’s aufnimmt, daß er hierher kommt. Ich rate, ihm selbst zunächst den Gedanken, hierher zu kommen, vorzulegen, daß sich in ihm selbst die Veränderung seiner Lebensstellung vorbereiten kann und es ihm nicht als eine Gewaltmaßregel erscheint. Vielleicht erkennt er selbst an, daß etwas Krankhaftes ihn umtreibt, so daß er gerne etwas für seine Gesundheit tut.
Alles schroffe Behandeln muß vermieden werden; denn nur langsam wird sein Geist sich zurechtfinden.
Ich lasse ihn bestens grüßen, und es würde mich freuen, wenn er Vertrauen fassen könnte, bei mir Verständnis zu finden. Sollte es mir gelingen, ihn ein wenig für praktische Tätigkeit zu interessieren, so wäre viel gewonnen; denn Arbeit mit den Händen ist Speise für die Seele.
Ich will mein Möglichstes tun und grüße Sie herzlich und ganz besonders den lieben Papa Gundert, welchem ich mich in sein Gebet empfehle.
Ihr ergebener Christoph Blumhardt.«[8]
2. Bericht eines Gastes von Bad Boll
»Einst saß eine Bauersfrau im Saal. Mir fiel auf, daß Blumhardt während der Andacht einigemal zu ihr hinüberschaute. Als die Gäste sich entfernt hatten und die Frau zurückgeblieben war, redete er sie an: ›Was hast denn du für einen Jammer?‹ Die Frau antwortete: ›Oh, Herr Pfarrer, ich habe die Hölle auf Erden.‹ Er fragte: ›Was ist das für eine Hölle?‹ Sie antwortete: ›Oh, mein Mann, mein Mann!‹ Er: ›Was ist denn mit deinem Mann?‹ Sie: ›Oh, Herr Pfarrer, der sauft so. Und wenn er in der Nacht im Rausch heimkommt, dann reißt er mich oft an den Haaren und tritt mich!‹ Er: ›Was machst Du dann?‹ Sie: ›Dann gehe ich auf meine Bühne (Dachboden, Anm. J. M.) hinauf und falle auf meine Knie und schrei zu meinem Herrgott: Siehst Du denn mein Elend nicht? Hilf mir doch! Und da liege ich oft ein paar Stunden auf den Knien.‹ Blumhardt (sehr streng): ›Dies dumme Beten läßt du zuerst bleiben.‹ Die Frau (sehr erstaunt): Ja, Herr Pfarrer, nicht einmal beten soll ich? Was bleibt mir dann noch?‹ Blumhardt (sehr bestimmt): ›Also, dies dumme Beten läßt du bleiben! Das ist Nummer eins! Und nun will ich dir sagen, was du tun mußt. Du gehst jetzt heim und besorgst deine Kinder und deine Haushaltung und dein Vieh im Stall und deine Acker und Wiesen und um den Kerl kümmerst dich nicht!‹ Die Frau: ›Aber Herr Pfarrer, wir sind doch verheiratet!: Blumhardt: ›Du bist doch mit keiner Sau verheiratet! Also, so mach’s wie ich es dir gesagt habe! Aber noch einmal: Dies dumme Beten läßt du bleiben! Als die Frau weggegangen war, fragte ich: ›Herr Pfarrer, warum haben Sie der Frau das Beten verboten?: Da schaute er mich sehr erstaunt an, aus seinem Blick las ich die Frage: ›Bist du auch noch so dumm?‹ Dann sagte er: ›Ja, liebes Kind, nennst du denn das Beten, was das Weib macht? Beten, das heißt doch, seine Not abschütteln und auf Gott warten. Wenn aber dieses Weib stundenlang auf der Bühne auf den Knien liegt, da guckt sie ja nur auf ihr Elend, und je länger sie auf ihr Elend starrt, desto größer wird es. Die Frau kommt je elender von der Bühne herunter, als sie hinaufgegangen ist. Sie muß zuerst lernen, von ihrem Elend wegzugucken.‹
Nach einem oder zwei Jahren kam ich wieder nach Bad Boll. Da fragte ich Blumhardt, was aus jenem Weib geworden sei. Er besann sich eine Weile, dann sagte er: ›Das ist schon lange alles wieder gut.‹ Als ich fragte, wie das zugegangen sei, erzählte er: ›Ich weiß nicht mehr. Sind’s ein paar Wochen oder ein paar Monate gewesen, da saß das Weib wieder in der Andacht. Nach der Andacht fragte ich sie: ›Na, Frau, wie geht’s?‹ Sie antwortete: ›Oh, Herr Pfarrer, jetzt habe ich den Himmel auf Erden.‹ Als ich sie fragte, wie das gekommen sei, fing sie an, so breit und umständlich zu berichten, daß ich sie bald unterbrach und ihr sagte: ›Ich will es dir selber erzählen. Nicht wahr, wie du nichts mehr mit deinem Mann gesprochen hast und er das erste Mal wieder mit einem Rausch heimkam, sagte er: ›Weib, was ist denn mit dir los? Warum schwätzt denn kein Wörtchen mit mir?‹ Und als er keine Antwort bekam, legte er sich brummend ins Bett. Als er wieder mit einem Rausch kam, sagte er: ›Ja, Weib, bist du denn krank?‹ Und als er wieder ohne Antwort blieb, legte er sich kopfschüttelnd ins Bett. Beim dritten Mal aber sagte er: ›Weib, jetzt sage mir doch endlich, was ist mit dir los? Guck, das ist doch kein Leben mehr, das wir miteinander führen. Wir sind doch verheiratet! Tu mir doch den einen Gefallen und schwätz ein einziges Wort mit mir!‹ Und wie du ihm das erste Wort wieder gönntest, da war der Mann glückselig und seitdem geht er ordentlich und lieb mit Dir um.‹ Darauf rief die Frau verwundert: ›Ja, Herr Pfarrer, woher wissen Sie denn alles so genau? Gerade so, wie Sie gesagt haben, ist alles zugegangen.‹ Da sagte ich zu der Frau: ›Ha, das ist gut wissen, Du hast den Kerl nur zu arg verwöhnt! So, jetzt geh heim, und jetzt darfst Du auch wieder beten!«[9]
3. Aus den »Vertraulichen Blättern für Freunde von Bad Boll«
»Es ist ein göttlich-natürliches Gesetz, daß Leib und Seele zusammengehören, und daß da, wo auf den einen Teil eingewirkt wird, immer auch der andere Teil seine Berücksichtigung finden muß. Leib und Seele trennen wollen, heißt einen Totschlag ausüben. Es kann durch leidenschaftlich einseitige Leibesbehandlung die Seele getötet und ihr Gottesrecht mit Füßen getreten werden; und umgekehrt kann eine einseitige Seelsorge das göttliche Recht des Leibes schädigen, wie solches leider vielfach vorgekommen ist. Jeder Einsichtige muß erkennen, daß die kirchliche Praxis, die sich so ausgebildet hat, daß die Seelsorger nach gar nichts zu fragen gewohnt sind, als nur nach der geistigen Lage des Menschen, zum größten Schaden des Reiches Gottes ausgeschlagen ist. Gerade heute empfindet der ›Geistliche‹ schmerzlich, daß er gleichsam ausgeschlossen ist, sobald es sich um das körperliche Leben der Menschen handelt, sei’s in politischer, sei’s in sozialer, sei’s in sanitärer Hinsicht. Man hat sich daran gewöhnt, in allen wichtigen Fragen an der Kirche vorüberzugehen, – sie hat ja nur für die Seele zu sorgen. Es ist aber ein Zustand der Ungesundheit einer menschlichen Gesellschaft, wenn die Pflege des Seelenlebens ganz getrennt ist von der Pflege des Leibeslebens, oder sagen wir auch: wenn die Religion, vom Boden des Lebens getrennt, in abgesonderten Lokalen ihre Rolle abspielt und ausspielt. Es muß ebenso der Seele zum Hungertode verhelfen, wenn nicht das Leibesleben sich mit Wucht derselben annimmt, wie das Leibesleben verkümmern muß, wenn in demselben nicht die Seele und der Geist des Menschen berücksichtigt wird. Nach der einen oder der anderen Seite verhungerte Menschen giebt es nun heutzutage allerdings viele, und so kann es vorkommen, daß man bei einem Menschen alles vergessen muß, um ihn kopfüber in eine Kuranstalt des Leibes zu bringen, ganz einerlei ob dort irgend welche Rücksicht auf die seelischen Bedürfnisse genommen wird oder nicht, es handelt sich einfach um rasche Lösung einer Leibesfrage. Ebenso kann es umgekehrt geschehen, daß bei einem Menschen augenblicklich das Leibliche ganz in den Hintergrund tritt, ja daß man sozusagen den Leib in die Schanze schlagen muß, um ihn nur seelisch, geistig aus elenden, zerrütteten Zuständen herauszubringen. Das eine wie das andere ist Folge eines schon verderbten Geschöpfes, an dem die wahre Gottesordnung zerbrochen ist. Wo ein Mensch Mensch ist und nicht durch Verkümmern des Leibes oder der Seele verkrüppelt dasteht, da ist Leib und Seele aufeinander angewiesen, und bei Wiederherstellungen in Krankheitsfällen muß beides berücksichtigt werden. Man frage irgend einen tiefer denkenden und erfolgreich wirkenden Arzt, ob er ganz ohne Einwirkung auf das Inwendige des Menschen fertig werden kann? Oder man frage irgend einen tiefer wirkenden Pfarrer, ob er bei gewissen Kranken durch bloßes seelsorgerisches Einwirken etwas erreicht, wenn er nicht auch dem Leibe sein Recht zukommen läßt, sei’s durch einen Arzt oder sonst durch vernünftige Pflege des Leibes.
Jesus nun vor allem steht in Wort und That als ein Beispiel vor den Augen aller Welt, an welchem sie erkennen soll, daß Leibliches und Seelisches nicht getrennt werden kann. Er ist für Sich selbst, in Seiner Person, das ursprüngliche Gefüge von Leib und Seele ineinander und füreinander und zu einander, so daß bei Ihm die Trennung der beiden, der Tod, zur Unnatur wird. In Betreff aber Seines Wirkens an anderen, als Heiland der Menschen, ist Er sozusagen das Muster ebensosehr eines Arztes aus göttlicher Vollmacht, als eines Seelsorgers aus göttlicher Vollmacht.«[10]
III. Wirkung
1. Prophetische Seelsorge
Christoph Blumhardt wußte um die Notwendigkeit der neuen Sinne, um das Reich Gottes, seine Anfänge und seine Entwicklungen schon hier und jetzt wahrzunehmen: »Ich habe nie in meinem Leben etwas anderes beobachtet als das Reich Gottes, in meinen dummen und in meinen gescheiten Jahren. Schon von Kind auf habe ich nie etwas anderes gesucht als das Reich Gottes und habe deswegen auch ein ziemlich scharfes Auge. Ich habe das Reich Gottes gesucht, jetzt sehe ich es auch. Ich habe Lichtern begegnet, die mir heute noch im Herzen brennen.«[11] Die eigene Seelsorge verstand er als Erkenntnisse, die ihm die neuen Sinne vermittelt haben. Dabei dienten ihm die menschlichen, natürlichen Sinne als Vergleich. Er sprach vom ›Riechen‹[12], mehr noch aber vom Hör- und vom Sehsinn. Die Metapher Auge war es dann auch, die Blumhardt am häufigsten gebrauchte, wenn er davon sprach, daß ihm eine neue Schau der Dinge von Gott ermöglicht wurde: »Mich übernimmt es oft, denn ich habe scharfe Augen bekommen vom lieben Gott und bin sehr weitsichtig, oft mir selber zur Qual; manchmal schaue ich in die Menschenwelt hinaus bis ins letzte Zipfelchen, wo noch die Barbarei herrscht, und da kommen mir all die Fragen, die man im Kleinern vor sich hat: ›Wie sollen wir es machen?‹, ziemlich kleinlich vor …«[13] Das neue Sehen zeichnet sich aus durch besondere Schärfe und Tiefe. Seine Perspektive wurde bestimmt durch die Gesichtspunkte Hoffnung, Gerechtigkeit, Zukunft und Reich Gottes. Dabei verlor für Blumhardt das vordergründige Sichtbare seinen Stellenwert, und das noch nicht Sichtbare gewann an Bedeutung. Das Kommen des wiederkehrenden Christus bestimmte schon die Gegenwart. Dessen Zukunft, das Werden des Reiches Gottes in unserer Welt, eröffnete Blumhardt die prophetische Sicht: »Oh meine Lieben, wie schön ist es, ein solches Reich Gottes vor Augen zu haben! Wie herrlich ist es, daß wir schauen dürfen mit unseren leiblichen Augen, hören mit unseren leiblichen Ohren, fühlen mit unseren Händen das Reich Gottes! – Werdet wie die Kinder! Schaut hinein in die Welt als Kinder! Ihr werdet Wunder um Wunder erleben.«[14] Zugespitzt konnte er formulieren: »Denn aus der Liebe kommt uns das Auge, daß wir die Dinge sehen, wie sie sind.«[15]
Blumhardt wußte, daß Gott die Welt liebt. So predigte er »Ihr Menschen seid Gottes!« Wo er den vielen zurief »Nehmt euch berufen!«, da sprach er dem einzelnen zu »Du bist Gottes!« oder »Nimm dich als erwählt!« oder »Nimm dich als berufen!«.
Er selbst bezeichnete seine Tätigkeit als prophetisches Handeln: »Ich muß prophetisch sein, die Propheten sehen die ganze Schöpfung im Heil.«[16] So war es prophetische Seelsorge, die den Menschen ›mit den Augen Jesu ansieht‹ und auch eine eigene Sicht für die Sünde bekommt: »Meine Lieben, wir sind blind geworden durch das Anschauen der Sünde. Man hält oft viel darauf, einfach immer nur die Sünde anzusehen, aber, meine Lieben, die Sünde ist der Mensch nicht. Die Sünde ist die Decke, die den Himmel verdeckt, in welchem das Tiefste des Menschenherzens seufzt, weil dieser Himmel sich nicht offenbaren kann unter dieser Decke der Sünde.«[17] Blumhardt sprach nicht nur vom klarsichtigen Auge, er hatte es (vgl. Exempl. Text 2).
2. Gastliche Seelsorge
Wer in den Gästebüchern von Bad Boll blättert, die alle noch vorhanden sind, wird staunen darüber, wie zahlreich die Besucher und Besucherinnen waren, die nicht nur aus Württemberg, sondern weit darüber hinaus, besonders aus der Schweiz, nach Bad Boll kamen. »Man lernt die Blumhardt-Bewegung und die Kraft, die in ihr gelegen hat, nicht am schlechtesten kennen, wenn man die biographischen Richtungsänderungen betrachtet, die durch ihre Botschaft bewirkt wurden.«[18] Da finden sich die Namen junger Theologiestudenten, die später Theologiegeschichte geschrieben haben. Der junge Eduard Thurneysen klagt in Bad Boll, daß ihm die Gotteserfahrung fehlt. Blumhardt fragte ihn, ob er in seinem Leben etwas Schönes kenne, für das er sich begeistern könne. «Ja, Schillers Dramen, Musik und Natur.« Darauf der schwäbische Prophet: »Dann isch des dei Gott.«[19] Später nahm Thurneysen dann Karl Barth mit nach Bad Boll. Auch Hermann Kutter war dort, ebenso wie Leonhard Ragaz. Leonhard Ragaz schildert eine Szene aus dem voll besetzten Speisesaal, als Blumhardt sich zu ihm an den Tisch setzte: »Und da fiel mir eins aufs untrüglichste auf: wie er mit einem divinatorischen Blicke die ganze seelische Situation der an diesem Tische versammelten Gesellschaft erfaßte und sich darauf einstellte.«[20] Wer den Durchblick hat, weiß zu erschüttern: »Wahrlich … seit den Tagen der Propheten und Apostel hat kein Mensch so hell und gewaltig aus Vollmacht heraus Gottes Wort gesprochen. Ein Teil dieser Worte wird in der ›Neuen Bibel‹ stehen, von der Blumhardt gelegentlich geredet hat.«[21] In frühen Jahren erfuhr Ragaz in Christoph Blumhardts Art und Wirken eine »sieghafte Bürgschaft der Realität Jesu«, und er wurde ihm ein »wunderbarer Kommentar zu den Evangelien«[22] Später erlebte er während einer Tischrede Blumhardts eine visionäre Erscheinung, eine Art Verklärung Jesu[23]. Dies mag fremdartig erscheinen, einmalig war es nicht.
Nach der Krise im Seminar von Maulbronn wurde der junge Hermann Hesse zu Blumhardt gebracht und verlebte dort, wie er sich selbst erinnerte, seine schönste Zeit (vgl. Exempl. Text 1). Als sich der Schüler in eine junge Frau verliebte, die Aussichtslosigkeit dieser Liebe erkannte, sich das Leben nehmen wollte, bekam nicht der Junge, sondern die Mutter harte Worte zu hören.
Menschen, die zu Blumhardt in die Seelsorge kamen, haben einander davon erzählt: »Ich ging gestern mit deinem Brief zum Pfarrer, der ja immer den innigsten Anteil an dir nimmt. Er sagte, es habe ihm geahnt, daß dies der Ausgang mit dem Auge sein würde. Er sprach dann mit einer solchen Klarheit über dich, daß ich über seinen psychologischen Blick staunen mußte«, so schrieb Ludwig Richter aus Bad Boll an seinen Sohn Heinrich.[24] Und Senfft von Pilsach notierte: »Zu Weihnachten 1903 traf ich mit meinen Angehörigen in Boll ein; mein jüngerer Bruder war leider etwas erkrankt. Wir nahmen das zunächst nicht ernst, während Herr Pfarrer mit der ihm eigenen Fähigkeit zu sehen, ihn gleich mit Sorgen betrachtete. Das Jahr wird eckig, sagte er ernst am Neujahrstage zu meiner Mutter, und in der Tat, die Erkrankung nahm bald einen bösen Charakter an, und Herr Pfarrer gewann den Eindruck, daß dies junge Menschenleben seinem diesseitigen Ende entgegengehen solle.«[25]
Der persönliche Zuspruch »Du gehörst zu Gott!« würde leer bleiben, wenn er nicht auch praktisch als Solidarisierung Gestalt annähme. Was Blumhardt sagte, wurde als Realität erfahren. So war es. »Es war der erste Schritt in eine neue, bessere Zukunft hinein, wenn Blumhardt einem sagte: ›Ich stehe hinter dir!‹«[26] Der Seelsorger treibt nicht in erster Linie Seelsorge. Er ist Seelsorge. Seelsorge ist die Frucht seiner Existenz.
Wie seine Andachten und Predigten mitgeschrieben, abgeschrieben und weitergegeben wurden, so haben Menschen seine Briefe bis ins hohe Alter aufgehoben und verwahrt. Als Eugen Jäckh und Blumhardts Tochter Gottliebin voneinander unabhängig in den 40er und den frühen 50er Jahren darangingen, die noch erhaltenen Briefe Christoph Blumhardts zu sammeln, da fanden sie nicht selten Bemerkungen, die diesen den Rang einer Reliquie zuschrieben. Else Baronin von Ardenne, die Effi Briest Theodor Fontanes, schrieb kurz vor ihrem Tode: »Seit geraumer Zeit mache ich mich ganz frei für meine letzte Erdenzeit, konnte mich nur nicht trennen von des lieben Vaters Briefen als Zeugen meiner allerliebsten Zeit; den Jahren, in denen ich wirklich gerne und trotz allem persönlichen Schweren, leicht und dankbar gelebt habe.«[27] Zuweilen leben ganze Familien vom Trost, der in einem Brief enthalten ist. Wenn Ragaz in einer besonderen Stunde in Boll der Person Jesu in Blumhardt begegnete, so kam den Adressaten in seinen Briefen offenbar der Lebendige entgegen. So findet sich eine Randnotiz: »Brief von Pfarrer Blumhardt nach meines Vaters Tod – damals siegte das Leben, nicht der Tod – ja nicht vernichten; es geschah etwas, das unsere ganze weitere Entwicklung der Familie betraf!«[28]
2. Politische Seelsorge
Wer weit denkt, kann Seelsorge nicht eng umgrenzen. Seelsorge an der Gesellschaft und Seelsorge am Einzelnen sind nicht zu trennen. Seelsorge an der Gesellschaft ist immer auch Seelsorge am Einzelnen, wie Seelsorge am Einzelnen immer auch Seelsorge an der Gesellschaft ist. Der Briefwechsel zwischen Howard Eugster-Züst und Christoph Blumhardt ist ein Lehrstück für die Seelsorge. Die beiden Seelsorger Eugster-Züst und Blumhardt üben sich in der Kunst der Wahrnehmung und helfen einander zu einer neuen Sehweise im Blick auf die eigene Person, die persönliche Lebensgeschichte und die Geschichte des jeweiligen Volkes. Davon zeugt ein fast vollständig erhaltener Briefwechsel aus den Jahren 1886 bis 1919.
1885 trafen sie sich zum erstenmal: der Appenzeller »Weberpfarrer« Eugster-Züst und Blumhardt. Aus dieser Begegnung und wiederholten Besuchen in Bad Boll resultierte eine enge Freundschaft. Eugster, fast 20 Jahre jünger als Blumhardt, geriet in eine schwere seelische Krise, nachdem er in Basel das Studium aufgenommen hatte und mit der dort gelehrten liberalen, wissenschaftsorientierten Theologie konfrontiert wurde.
Die Begegnung mit Blumhardt führte zur entscheidenden Wende im Leben des jungen Eugster. Der Lebensweg des Weberpfarrers, Gewerkschaftssekretärs, Nationalrats und Regierungsrats Eugster ist ohne Blumhardts Einfluß kaum denkbar. Es ist etwas Eigentümliches um diese Gemeinschaft, die sich als Grundzug durch die gesamte Korrespondenz nachweisen läßt. Da steht am Anfang der Treueschwur: »Wir wollen verbunden bleiben in der Treue für das Zion Gottes …«[29], korrespondierend mit dem Bekenntnis Eugsters: »Es ist mir klargeworden, wie ich immer noch, gleichsam ohne Euch, glaubte, mit dem lieben Gott verkehren zu können, und doch hätte ich es schon längst merken sollen, daß alles, was von Gott kommt, durch Euch kommt und alles andere nicht mehr gelten soll.«[30] In dieser engen, fast mystischen Beziehung lag sicherlich eine Gefahr. Hatte der Seelsorger Blumhardt einen Menschen zu sehr an sich gebunden und ihn damit aller seiner Freiheit beraubt? Oder verstanden sich beide gleichermaßen an den Einen gebunden, den nachzufolgen sie sich zur Lebensaufgabe gemacht hatten? Die seelsorgerliche Beratung Blumhardts, als die Wahl Eugsters zum Nationalrat anstand, ist Beweis für die Freiheit des Verhältnisses der beiden Männer. Zu Recht wurde bei beiden »ein Werkstattfieber« diagnostiziert und die gesamte Korrespondenz als der Austausch von »Werkstattbriefen« (Arthur Rich) bezeichnet. Diese Briefe sind Seelsorge auch dort, wo sie das Reich Gottes, Zeichen dieses Reiches, in der Gegenwart zu sehen und zu deuten versuchen: »So stehe ich nun frei und wünsche, daß ich noch, solange ich lebe, in etwas mithelfen kann, den Blick aufs Reich Gottes zu schärfen«[31]. Blumhardt und Eugster helfen einander jeweils wechselseitig zu einer neuen Sicht, einer »Sehweise« auch des politischen Geschehens »von Gott her« und »auf Gott hin«. »Es ist die sozialistische Erwartung einer brüderlichen, die Klassenscheidung überwindenden und alle Herrschaft von Menschen über Menschen hinter sich lassenden Gesellschaft, was die beiden Briefpartner an das Ziel der eschatologischen Gottesherrschaft denken lässt«[32] So ›sah‹ Blumhardt den Sozialismus, er verstand ihn vom ethischen Prinzip der Gemeinschaftsmoral her und stellte ihm jegliche Herrschaftsmoral gegenüber. Eugster und Blumhardt waren der Partei beigetreten, ohne jedoch die kritische Distanz zu einer weltlichen Bewegung zu verlieren. Sie sahen hier am ehesten eine Möglichkeit, »Politik aus der Nachfolge‹ zu gestalten. Das Prüfen der Geister und das Hören auf die Weisung des Heiligen Geistes übten beide im brüderlichen Gespräch. Eugster hat nie »ein Geheimnis daraus gemacht, daß er das ohne die geistige Hilfe Blumhardts nicht geschafft hätte. Es gab keinen Entscheid, den er ohne dessen Rat getroffen hätte, und über alles, was er unternahm, hat er ihn eingehend informiert. Auf diese Weise hat Blumhardt ein wichtiges Kapitel der schweizerischen Arbeiterbewegung mitgeschrieben.«[33] Ein sehr wesentlicher Brief verdient besonders hervorgehoben zu werden. Er ist einer der ausführlichsten Blumhardts an Eugster. Aus der Distanz des Alters und des Ortes geschieht hier Seelsorge am Seelsorger. Der Brief ist eindrückliches Zeichen dafür, daß Blumhardt sich auch nach seinem Rückzug aus dem politischen Leben des Stuttgarter Landtages nach wie vor den »unterdrückten Menschen« verpflichtet fühlte und ihnen zu ihrem Recht verhelfen wollte. So ist er ja auch, zwar ohne weiter ein Mandat zu übernehmen, bis zu seinem Tod Mitglied der Partei geblieben: »Als ich noch im Landtag war und mich mit politischen Dingen beschäftigte, auch mich mit sozialen Problemen abgab, habe ich einerseits empfunden, welch großer Vorteil es ist, auch einmal in diesen menschlichen Bewegungen zu stehen, sich herzlich zu beteiligen und Erfahrungen zu machen.
Gerade im Beruf, Bahn zu machen für das Reich Gottes, scheint es mir ganz notwendig, daß dieses geistige Leben und das Wort Gottes, das aus diesem hervorgehen soll, gleichsam aufsteigen muß aus der Erkenntnis auch der materiellen Dinge, besonders der die Menschen heute noch in ihrem Leben drückenden und das Leben verderbenden Verhältnisse. Das Nichtverstehen und die Unerfahrenheit in den irdischen Dingen macht manchen Verkündiger des Wortes Gottes unfähig, in der kraftvollen Weise der Wahrheit zu dienen, wie es den Männern Gottes gegeben war, die nicht durch Universitätsstudium, sondern durch das praktische tägliche Leben und Arbeiten gebildet, den Geist Gottes empfangen haben«.[34]
Literatur
I. Quellen mit Texten von Ch. Blumhardt
Johannes Harder (Hg.), Ansprachen, Predigten, Reden, Briefe 1865-1917. Neue Texte aus dem Nachlaß. Bd. 1. Von der Kirche zum Reich Gottes. 1865-1889. Bd. 2. Seid Auferstandene! 1890-1906. Bd. 3. Geliebte Welt. 1907-1917. 2. Auflage, Neukirchen/Vluyn, 1982.
Robert Lejeune (Hg.), Jesus ist Sieger! Predigten und Andachten 1880-1888. Zürich-Erlenbach/Leipzig 1937. (L 1). – Sterbet, so wird Jesus leben! Predigten und Andachten 1888-1896, Zürich-Erlenbach/Leipzig 1925. (L 2). – Ihr Menschen seid Gottes! Predigten und Andachten 1896-1900, Zürich-Erlenbach/Leipzig 1936. (L 3). – Gottes Reich kommt! Predigten und Andachten 1907-1917, Zürich-Erlenbach/Leipzig 1932. (L 4).
Arthur Rich (Hg.), Christus in der Welt – Briefe an Richard Wilhelm, Zürich 1958.
Louis Specker, Politik aus der Nachfolge. Der Briefwechsel zwischen Howard Eugster-Züst und Christoph Blumhardt 1886-1919, Zürich 1984.
II. Sekundärliteratur:
Rudolf Bohren, Prophetie und Seelsorge: Eduard Thurneysen/Rudolf Bohren, Neukirchen-Vluyn 1982.
Eduard Buess/Markus Mattmüller, Prophetischer Sozialismus. Blumhardt-Ragaz-Barth, Freiburg/Schweiz 1986.
Eberhard Kerlen, Zu den Füßen Gottes: Untersuchungen zur Predigt Christoph Blumhardts, München 1981.
Klaus-Jürgen Meier, Christoph Blumhardt, Christ-Sozialist-Theologe. Basler und Berner Studien zur historischen und systematischen Theologie, Band 40, Bern/Frankfurt.M/Las Vegas 1979.
Leonhard Ragaz, Der Kampf um das Reich Gottes in Blumhardt, Vater und Sohn – und weiter!, Zürich-Erlenbach/München/Leipzig 1922.
Leonhard Ragaz, Mein Weg. Band 2, Zürich 1952.
Gerhard Sauter, Die Theologie des Reiches Gottes beim älteren und jüngeren Blumhardt. Band 14 der Reihe »Studien zur Dogmen-Geschichte und systematischen Theologie«, Zürich/Stuttgart 1962.
Quelle: Geschichte der Seelsorge in Einzelportraits, Bd. 3, hg. v. Christian Möller, Göttingen 1996, 137-152.
[1] Harder, Band 1, 30.
[2] Harder, Band 1, 114.
[3] Blumhardt an Eleonore Vopelius, 19. 7.1878, unveröffentlicht; Blumhardt-Archiv Bad Boll.
[4] Harder, Band 1, 135.
[5] Lejeune, L 4, 53.
[6] Harder, Band 3, 14.
[7] Harder, Band 3, 129-130.
[8] Blumhardt an den Vater von Hermann Hesse, Harder, Band 2, 22.
[9] Erinnerungen von Johannes Weissinger, Harder, Band 3, 205.
[10] Vertrauliche Blätter für Freunde von Bad Boll, 1895, Nr. 8,13-15.18.
[11] Harder, Band 2, 117.
[12] Harder, Band 2, 122.
[13] Lejeune, L 4, 228.
[14] Harder, Band 3, 34.
[15] Lejeune, L 3, 438.
[16] Harder, Band 2, 134.
[17] Lejeune, L 4, 102. Das erinnert an: »Deshalb sind die Sünden in Wahrheit nicht dort, wo sie gesehen und gefühlt werden. Denn nach der Theologie des Paulus ist keine Sünde, kein Tod, kein Fluch mehr in der Welt, sondern in Christus, der das Lamm Gottes ist, das die Sünden der Welt trägt… Dagegen sind nach der Philosophie und der Vernunft Sünde, Tod usw. nirgendwo als in der Welt, im Fleisch, in den Sündern … Die wahre Theologie aber lehrt, daß keine Sünde mehr in der Welt ist, weil Christus, auf den der Vater die Sünden der ganzen Welt geworfen hat, sie in seinem Leibe überwunden, zerstört und getötet hat« (Martin Luther, WA 40/1, 445, 19 ff.; zitiert nach Hans Joachim Iwand, Nachgelassene Werke, Band 4, München 1964, 301.
[18] Buess, 55.
[19] Bohren/Thurneysen, 37.
[20] Ragaz, Weg, 128.
[21] Leonhard Ragaz: Der Kampf um das Reich Gottes in Blumhardt, Vater und Sohn – und Weiter!; Zürich 1925,16.
[22] AaO., 12.
[23] Ragaz, Weg, 134 f.
[24] Harder, Band 1, 71.
[25] Senfft Freiherr von Pilsach: Dem Gedächtnis Christoph Blumhardts, Berlin 1925, 23.
[26] Eberhard Zellweger: Der jüngere Blumhardt – Was verdanken wir ihm?, Basel 1945, 9.
[27] Else Baronin von Ardenne, Lindau, den 20.1.1941, unveröffentlicht, Landeskirchliches Archiv der Evangelischen Landeskirche in Württemberg.
[28] Adele Linder, Notiz im Blumhardt-Archiv, Bad Boll.
[29] Specker, 56.
[30] Specker, 69.
[31] Specker, 323.
[32] Artur Rich in Specker, 20 f.
[33] Specker, 409.
[34] Specker, 241-242.