Von Karl Jaspers
Der priesterliche Typus des Arztes der Urzeiten, der hippokratische Arzt, der mit unbefangenem Blick für das Ganze des Menschen und dessen Lage rationell behandelt, der mittelalterliche Arzt, der autoritäre spekulative Auffassungen festhält, sie alle sind seit Jahrhunderten abgelöst durch den modernen naturwissenschaftlichen Arzt. Nicht mehr Priestertum ist seine Sache, sondern Humanität. Die hippokratische Beschränkung auf Beschreibung und Diät, die autoritär spekulative Haltung des Mittelalters sind dem unendlichen Fortschritt der naturwissenschaftlichen Forschung und ihrer märchenhaften Erfolge gewichen. Aber alle vergangenen Typen sind doch gegenwärtig, wieder wirksam, sinnvoll oder töricht.
Die Grundauffassung des Arztseins der letzten Jahrhunderte war diese: Die Krankheit ist ein Naturvorgang, der den Leib befällt. Der Kranke muß mit ihm fertig werden. Der Arzt steht mit ihm diesem unerwünschten Naturvorgang gegenüber. In Einmütigkeit mit dem Patienten hilft er auf Grund naturwissenschaftlich begründeten Könnens. Der Patient wird belehrt, weiß dann, worum es sich handelt und wirkt mit bei der sinnvollen Durchführung der Therapie. Er stimmt zu, läßt sich im Zweifelsfalle überzeugen oder verwirft den vorgeschlagenen ärztlichen Eingriff.
Dies ärztliche Handeln steht auf zwei Säulen: einerseits der naturwissenschaftlichen Erkenntnis und dem technischen Können, andererseits auf dem Ethos der Humanität. Der Arzt vergißt nie die Würde des selbstentscheidenden Kranken und den unersetzlichen Wert jedes einzelnen Menschen.
Die Wissenschaft wird weitergegeben, durch die Lehre, ausdrücklich, in breitestem Umfang. Die ärztliche Humanität dagegen wird überliefert durch die ärztliche Persönlichkeit, unmerklich in jedem Augenblick durch die Weise des Handelns, des Sprechens, durch den Geist einer Klinik, durch diese still und unausgesprochen gegenwärtige Atmosphäre des ärztlich Gehörigen. Die Lehre ist zu planen. Sie wird klarer, didaktischer. Die wissenschaftliche Forschung vermehrt das Wissen und Können, sie wird kritischer und methodischer. Die Humanität dagegen ist nicht zu planen. Sie entfaltet sich ohne grundsätzlichen Fortschritt neu in jedem Arzte, in jeder Klinik durch die Wirklichkeit des ärztlichen Menschen selber. Für sie gilt die Regel, die der große englische Arzt Sydenham im 17. Jahrhundert aussprach: »Niemand ist anders von mir behandelt worden, als ich behandelt sein möchte, wenn ich dieselbe Krankheit bekäme.«
Diese schöne und einfache Auffassung ist durch die neueren Entwicklungen in Frage gestellt.
Nicht rückgängig zu machen ist die Spezialisierung. Die Steigerung des Könnens hat die Tendenz, den Spezialisten an bestimmte Denkweisen zu bannen. Ein Patient wird der langen Reihe von spezialistischen Untersuchungsmethoden und Behandlungen unterworfen, die aber ihren guten Sinn schädigen, wenn sie nicht aufgenommen werden von dem führenden Blick eines Arztes, der den ganzen Menschen in seiner realen Situation vor Augen hat.
Der wissenschaftlichen Spezialisierung entspricht die Umgestaltung des Unterrichts. Ein Aggregat von Spezialfächern tritt an die Stelle der Schulung im biologischen Denken überhaupt. Die Zeit des Studenten ist durch die Studienpläne so besetzt, daß tiefere Besinnung verhindert wird wegen der Zerstreuung in das Vielerlei des zu Lernenden. Die geistigen Impulse der Jugend, die der Freiheit bedürfen, werden gelähmt durch die Führung des Studiums am Gängelbande der Lehrpläne und durch die enorme Beanspruchung des Gedächtnisses. Die Examina prüfen immer weniger die Urteilskraft, die schon im Unterricht keineswegs entsprechend der Menge der Kenntnisse geübt wird. Es gibt heute echte und großartige biologische Anschauungsweise. Die allgemeine Tendenz scheint aber entgegengesetzt. Man erzieht auf der ganzen Welt Leute, die sehr viel wissen, partikulare Geschicklichkeit gewonnen haben, deren selbständiges Urteil aber, deren Kraft zu forschender Ergründung ihrer Kranken gering ist.
Diese Tendenzen zur Spezialisierung und Verschulung sind die allgemeinen Tendenzen des Zeitalters. Überall erwächst aus der Technik der großen Betriebe, dem Umgang mit Massen die Nivellierung, in der die Menschen zu Teilen einer Maschinerie werden. Die Kraft des Urteils, der Fülle des Sehenkönnens, die persönliche Spontaneität werden in der Verapparatisierung gelähmt.
Auch das Verhältnis von Arzt und Kranken wird hineingezogen in den Großbetrieb. Die Unumgänglichkeit des Kassenwesens und der gewaltige Umfang der Kliniken bedrohen die ursprüngliche Beziehung des einzelnen Arztes zum einzelnen Kranken.
Arzt zu sein ist aber heute so schwer nicht nur wegen dieser allgemeinen Tendenz des Zeitalters, sondern dazu noch wegen der unlösbaren Fragen, die jederzeit im Arztsein als solchem auftreten, nur heute in neuer Gestalt. Werfen wir auf sie einen Blick.
Das Verhältnis von Arzt und Patient ist in der Idee der Umgang zweier vernünftiger Menschen, in dem der wissenschaftliche Sachkundige dem Kranken hilft.
Das bedeutet: Der vernünftige Mensch will und kann begreifen und dementsprechend sich verhalten, wenn der Sachverständige ihn informiert.
Es bedeutet ferner: Der vernünftige Kranke will Therapie nur, sofern eine wissenschaftlich begründete, also echte Therapie möglich ist. In den anderen, zahlreichen Fällen will er nur Diagnose und Beobachtung, damit im gegebenen Falle ein wirksamer therapeutischer Eingriff nicht versäumt werde. Für den vernünftigen Kranken und Arzt gilt der Grundsatz: So wenig wie möglich eingreifen, Beschränkung auf rationell begründete Mittel.
Dies Ideal setzt voraus, daß Arzt und Kranker beide in der Reife der Vernunft und Menschlichkeit leben. Sprechen wir zunächst vom Kranken.
Mancher Kranke bringt die Voraussetzung der Vernunft nicht mit. Er geht zum Arzt, weil er unter allen Umständen behandelt werden will. Die Konsultation endet seiner Erwartung gemäß in jedem Fall mit Anweisungen. Der Drang, ständig behandelt zu werden, die Angst derer, die von irgend etwas geheilt sein wollen, die Beanspruchung des Arztes durch Forderungen, die unerfüllbar sind, erzwingt die Entfaltung von Behandlungsmethoden, die nicht rationell wirksam sind. Ein berühmter Pharmakologe sagte vor dreißig Jahren in seiner Heidelberger Antrittsvorlesung überspitzt etwa: »Wir haben ein Dutzend wirksamer Heilmittel; das Übrige ist Produkt der Angst der Kranken und der Interessen der pharmazeutischen Industrie.«
Der Kranke will ferner eigentlich nicht wissen, sondern gehorchen. Die Autorität des Arztes ist ihm ein erwünschter fester Punkt, der ihn eigenen Nachdenkens und eigener Verantwortung überhebt. »Mein Arzt hat angeordnet«, ist die bequemste Befreiung.
Der Kranke will auch, wenn es ernst wird, wenn das Leben bedroht oder nach menschlicher Voraussicht schon verfallen scheint, es gar nicht wissen. Falls er das Gegenteil sagt, begehrt er Beruhigung, nicht Wahrheit.
Weil der Mensch als Kranker so oft nicht vernünftig, sondern unvernünftig und widervernünftig ist, muß sich die ideale ärztliche Beziehung notwendig verkehren.
Was zunächst die rückhaltlose ärztliche Wahrhaftigkeit betrifft: Anspruch auf Wahrheit hat nur der Kranke, der fähig ist, die Wahrheit zu ertragen und mit ihr vernünftig umzugehen. Der vernünftige Kranke nimmt teil an der Ungewißheit. Dazu gehört die Kraft, vermöge des im Wissen noch Ungewissen, auch bei böser Prognose den Raum des Möglichen nicht völlig preiszugeben; z. B. 1927 wurde der Kranke, der an perniziöser Anämie kurz vor dem Tode stand, wider alle Voraussicht durch die aus Amerika kommende Lebertherapie gerettet. Der Arzt pflegt auch bei der schlimmsten Prognose diesen Spielraum des Möglichen festzuhalten mit der Wendung: »wenn nicht ein Wunder geschieht.« Nur die Vernunft im Bunde mit der Transzendenz gewährt diese Kraft, das Nichtwissen in allem Wissen nicht nur theoretisch, sondern praktisch zu bewahren. Die Angst aber will gegen alle Vernunft Gewißheit. Die Folge ist, daß der Arzt nicht jedem Kranken jederzeit sein Wissen mitteilen kann.
Wenn aber im Kranken gar etwas wie eine radikale Widervernunft wirksam ist, dann kann jenes Arztideal noch weniger wirklich bleiben. Dieser Tatbestand wird fühlbar in dem Bereich der Erscheinungen, die dem naturwissenschaftlichen Denken die größten Schwierigkeiten machen: bei den Umsetzungen aus der seelischen in die körperliche Sphäre. Es treten körperliche Krankheitserscheinungen auf, die mit den Kategorien naturwissenschaftlichen Denkens nicht angemessen aufgefaßt werden.
Was der Kranke von seiner Krankheit denkt, erwartet, befürchtet, wünscht und hofft, das scheint ein Faktor im Krankheitsverlaufe selbst zu sein. Was der Arzt sagt und tut, faßt der Kranke auf seine Weise auf. Der Arzt hat nicht nur die Verantwortung für die Richtigkeit seiner Aussagen, sondern auch für deren Wirkung auf den Kranken in dessen getrübter, widervernünftiger Seelenlage. Der Arzt kann gar nicht in der Gemeinschaft offener Vernunft mit dem Kranken stehen.
Dies nun wurde im Zeitalter der großen naturwissenschaftlichen, therapeutisch so segensreichen Entdeckungen fast vergessen, manchmal unwillig beobachtet. Worum es sich da handelte, das lag doch außerhalb der Würde der ärztlichen Therapie. Die Krankheitserscheinungen hießen nervös oder hysterisch. Es waren keine richtigen Krankheiten. Man wurde mit ihnen irgendwie fertig, aber ohne die Grundlage einer Forschung.
Gegenüber dieser ärztlichen Selbstgewißheit, mit der der Bereich neurotischer Störungen als eigentlich nicht zur Medizin gehörig beiseite geschoben wurde, begannen seit Beginn des Jahrhunderts andere Erwägungen: Albert Fraenkel sprach damals von dem »Arzt als Krankheitsursache«. Bei den Unfallneurosen wurde die Aufmerksamkeit auf einen seelischen Faktor der Erkrankung gelenkt. Die Psychotherapie bei nervösen Erscheinungen wurde durch Dubois und andere Nervenärzte begründet. Diese sinnvolle Sache gegenüber Krankheitserscheinungen, vor denen man mit naturwissenschaftlichen Mitteln ratlos blieb, war das Thema auch in den Studien von Breuer und Freud von 1896. Menschenfreundliche Ärzte erreichen glückliche Wendungen in hoffnungslos aussehenden Fällen durch intuitiven Zugriff oder durch geduldige Mühe. Aber so war es immer. Man ist dieser Erscheinungen nicht in höherem Maße therapeutisch Herr geworden als vor fünfzig Jahren. Nur kennt man sie viel anschaulicher in ihrer Vielfachheit.
Die Spezialisierung, die Verschulung des Unterrichts, die Tendenzen des Zeitalters im Massenbetrieb, die naturwissenschaftliche Ratlosigkeit vor dem Psychischen, alle diese Momente haben das heutige Arztsein mitbestimmt. Sie hatten zum Ergebnis eine bei Ärzten und Kranken verbreitete Unzufriedenheit.
Es ist merkwürdig, daß im Kontrast zur außerordentlichen Leistungsfähigkeit der modernen Medizin nicht selten eine Stimmung des Versagens auftrat. Die Entdeckungen der Naturwissenschaften und Medizin haben zu einem nie dagewesenen Können geführt. Aber es scheint, als ob es für die Menge der kranken Menschen immer schwerer wurde, ihren für den einzelnen Menschen rechten Arzt zu finden. Man könnte meinen, die guten Ärzte würden seltener, während Wissenschaft als Können ständig wachse.
Bleibt nichts übrig, als diesem Lauf der Dinge zuzusehen, gelegentlich erschreckt, dann resigniert?
Am lautesten fordern die psychotherapeutischen Glaubensbewegungen eine radikale Erneuerung, ja, Verwandlung des Arztwesens. Durch Freud setzte eine Bewegung ein, die unter dem Namen der Psychoanalyse den Sinn der Psychotherapie von Grund aus verwandelte.
Erstens erweiterte die Analyse innerhalb der Medizin ihren Anspruch. Nicht nur Neurosen, nicht jene früher als abseitig betrachteten Erscheinungen allein, sondern alle Krankheiten macht sie sich unter dem Namen der Psychosomatik zum Gegenstand. Nicht weniger als eine Revolution der Medizin ist heute ihr Ziel.
Zweitens schritt sie weit über die ärztliche Aufgabe hinaus. Sie bot sich nicht nur den Kranken, sondern jedem Menschen an. Der Mensch als Mensch ist krank. Jedem dient es zu seinem Heile, sich der Analyse unterziehen zu lassen.
Heute treten prominente Ärzte auf, die den Kranken zum Sinn seines Lebens führen wollen. Denn in aller Krankheit, ob es sich um Neurosen handelt oder Infektion oder Karzinom, sehen sie eine Symbolik. Diese zu verstehen und die durch sie kundgegebenen Probleme der kranken Seele zu lösen, das sei die ärztliche Aufgabe. Jores erklärte in seiner Hamburger Rektoratsrede: »Krankheit ist Folge der Sünde«, sie tritt auf zum »Heil der Seele«, sie hat ihre Rolle »zum Reifwerden« und muß als solche vom Arzt begriffen werden.
Trotz vieler richtiger Beobachtungen Freuds und mancher guter Beobachtungen seiner Nachfolger ist hier grundsätzlich etwas geschehen, das nicht nach jenen einzelnen Richtigkeiten, sondern im Sinn des Ganzen selber begriffen und beurteilt werden muß. Was manche Ärzte ausgesprochen haben und was auch von mir andernorts begründet wurde, darf ich in Kürze formulieren:
Hier ist die Idee des Arztes überschritten und zugleich verloren. Psychotherapeutische Bewegungen, zwar auf ärztlichem Boden erwachsen, haben sich von ihm losgelöst und werden Glaubensbewegungen dieses ratlosen Zeitalters.
Ärztliche Heilung ist nicht das Bringen des Seelenheils. Die Vermengung von Arzt und Seelsorger muß die Aufgabe beider verwirren. Eine Modernität leer gewordener Menschen läuft vergeblich Heilserwartungen nach, die solche Psychotherapeuten erwecken. Das ärztlich Mögliche wird versäumt, das seelisch Begehrte nicht erreicht.
Die großen Dinge geschehen still. Vielleicht hat die mögliche Erneuerung der Idee des Arztes ihren bevorzugten Ort heute beim praktischen Arzt, der ohne Autorität von Klinik und Amt mit dem Kranken in dessen wirklichem Leben zu tun hat. Hier kann für den Blick des Arztes, der den Menschen sieht, all das, was Spezialisten vermögen und was ohne die Einrichtungen des Krankenhauses sich nicht verwirklichen läßt, zu den einzelnen Maßnahmen werden, die er, wenn er zu ihnen rät, durch die Führung des Ganzen in der Hand behält. Dieser ärztliche Blick hat den Sinn für die Situationen. Er hat die Sorge für die Natürlichkeit des Menschen in seiner Umwelt. Er läßt die Untersuchung des Kranken sich nicht auflösen in ein Aggregat der Untersuchungsresultate von Laboratorien, sondern er vermag dies alles abzuschätzen, zu nutzen und unterzuordnen. Er läßt diese diagnostischen Methoden in ihren Grenzen zur Geltung kommen, aber verliert sein Urteil nicht an sie. Er kennt die imponierenden modernen therapeutischen Maßnahmen, aber er weiß sie im Range ihrer Wirksamkeit zu unterscheiden. Ihm ist wieder etwas von der hippokratischen Haltung eigen, die den Lebenslauf ins Auge faßt, die den Umgang des Kranken mit seiner Krankheit zu gestalten vermag. Er kennt die bleibende Bedeutung der hygienischen und diätetischen Ordnungen. Er gewinnt durch die Dauer der Zeit jenes persönliche Verhältnis zum Kranken, in dessen Klarheit das Sterben leichter wird.
Man kann es für eine Utopie erklären, die alte Idee des Arztes, wie sie im Hausarzt verkörpert war, erhalten zu wollen. Sie verschwindet, weil die Menschen überhaupt, also auch die Kranken und Arzte, anders werden. Sie sind immer weniger fähig, Kranke und Arzte im alten Sinne zu sein.
Aber ist das wirklich wahr, endgültig? Ist nicht auch eine Wirklichkeit ersten Ranges heute, daß Kranke jetzt wie immer in Gestalt des praktischen Arztes ihren eigentlichen Arzt suchen und finden? Wird nicht eine nüchterne, warmherzige, wissende Gestalt des persönlichen Arztseins bleiben und in kommenden Generationen immer von neuem entstehen?
Die Antwort auf solche Frage ist analog, ob es sich um den Arzt, um den Lehrer, um den Pfarrer, um Politik, um den Arbeitsbetrieb handelt. Wer die schaurigen Entwicklungsmöglichkeiten für unausweichlich hält, dem ist zu sagen: Niemand kann diese Unausweichlichkeit gewiß wissen, aber jedenfalls fördert seine Meinung das Schlimme, was er voraussagt. Laut sprechen in den eigentlich menschlichen Forderungen die Gegeninstanzen. Ein übermächtig Wirkliches, gegen das ein Widerstand im Augenblick unwirksam scheint, ist darum keineswegs dauernd wirklich. Der Verstand sagt immer das Negative voraus; das Positive muß hervorgebracht und kann nicht vorausgesagt werden. Es kommt aber nicht von selbst, daher hat es einen Sinn für jeden, zu fragen, wofür er in seinem Berufe leben wolle, wo er standhalten wolle. Niemand weiß, was am Ende gelingt.
Angesichts all der Torheit, des anspruchsvollen Eigennutzes, der Bequemlichkeit, der Unredlichkeit so vieler Kranker steht der Arzt für seine innere Haltung vor einer Entscheidung:
Entweder kehrt er unwillig um. Er will gar keine vernünftigen Patienten mehr. Er ist bereit, den ungeheuren Sturz unserer Zeit in der Einschätzung des Menschen mitzumachen. Er will heilen, wie man Tiere heilt. Fragen der Patienten sind schon lästig. Oder der Arzt will sich trotz allem an die Vernunft im Kranken wenden und ihr Genüge tun.
Und dann die zweite Entscheidung: Entweder vertraut er sich der unklaren Situation an, in der er sich zum Bringer des Heils der Seele steigern läßt, unmerklich die naturwissenschaftlichen Möglichkeiten geringer schätzt und schließlich versäumt. Oder er folgt der alten Idee des Arztes, die auf Wissenschaft und Humanität sich gründet. Sie ist mit der Wissenschaft selbst eine ewige Idee. Aber sie besteht nicht von selbst, sondern bedarf ständiger Erneuerung. Sie muß ihre Gestalt finden unter den neuen Bedingungen des technischen Massendaseins. Sie kann überall durch einen Arzt, der er selbst ist, wirklich sein.
Versuchen wir zum Abschluß einen Blick auf die Idee einer solchen modernen Arztpersönlichkeit.
Wer möchte sagen, wie der Arzt sein soll! Das Ideal ist jedenfalls nicht so einfach, wie das zu Anfang gezeigte der vernünftigen Gemeinschaft mit dem Kranken, sondern steht auf dem Grund der Erfahrungen alles Versagens, der Kranken und seiner selbst.
Der Arzt wird ein Wissender. Er sieht die Grenzen des Menschen, seine Ohnmacht, sein unendliches Leiden. Er sieht die Geisteskrankheiten, diese furchtbare Tatsache unseres Menschendaseins. Er steht täglich vor dem Tode. Von ihm wird erwartet, nicht nur, was er leisten, sondern auch, was er nicht leisten kann. Die Welt verlangt von ihm jede Hilfe, und sie verlangt noch mehr. Sie möchte vergessen, möchte einen wohltätigen Schleier über das Unheil, möchte die Selbsttäuschungen der gequälten Kreatur. Der Arzt kommt dem Nichtwissenwollen entgegen. Schweigen in seinem menschenfreundlichen Sprechen, Zulassen der Unwahrheit, ja, ein Verhalten, das wie eine Verleugnung der Gefahr, wie ein Ausreden des Todes aussehen kann, muß er – widerstrebend – vollziehen.
Er täuscht sich nicht über die Wirklichkeit des Schrecklichen, aber hält es für sinnvoll, in seinem Berufe vernünftig zu tun, was zur Hilfe für leidende und sterbende Menschen möglich ist, auch wenn es verschwindend scheint im Strom des Unheils. Er verbindet die kleine Wunde, während durch Menschen ständig größere gerissen werden. Er sorgt für die Erhaltung des einzelnen Lebens, während Leben in Millionen durch Menschen vernichtet wird.
Eine Haltung der scheinbaren Unbetroffenheit braucht gerade der Arzt, welcher der ergriffenste ist. Er gewinnt die Kühle im Zusehen, auch in der eigenen Gefahr. Mancher große Arzt bewährte sich, indem er die eigene Krankheit beobachtete und erkannte in Ruhe bis zum Tode. Dieser Ruhe entspringt das Sehen, das eindringt, ohne durch Tränen die Klarheit des Blickes zu verlieren – ihr wird das Operieren möglich, das die Hand nicht zittern läßt. Es ist ein hoher Anspruch, daß in der Kühle das Herz wach bleibt.
Der Arzt sieht die Grenzen seines Könnens. Er kann den Tod nicht abschaffen, wenn er heute auch das Leben in einer noch nie dagewesenen Weise zu verlängern vermag. Er kann die Geisteskrankheiten nicht abschaffen, wenn er auch in bestimmten Fällen zu helfen vermag. Er kann das Leiden nicht abschaffen, wenn er es heute auch über alle früheren Maße hinaus zu lindern vermag. Trotz aller Erfolge ist dem Arzt fühlbarer, was er nicht kann, als das, was er kann.
Es gehört zu seinem Wesen, menschenfreundlich zu handeln, auch wo er nicht heilen kann, und noch dem hoffnungslosen Kranken beizustehen. Der Arzt bringt dem Geisteskranken eine Gesinnung entgegen, die ihm gebietet, dem Unglücklichen, den er nicht gesundmachen kann, noch das Maximum von Lebensmöglichkeit zu geben, in ihm noch den Menschen zu ehren.
Sein Beruf ist ein Beruf ständiger Enthüllungen. Der Arzt muß anders werden, wie Menschen sonst sind. Die Verführung angesichts all des Grauens ist groß:
Er kann zum Skeptiker werden, der alles Unheil und alle Schwächen sieht und am Ende Zyniker wird aus Ekel.
Er kann Naturalist werden, der nichts sieht als das kausale Geschehen, die Erbarmungslosigkeit der Natur und das Unverhoffte der zufälligen Wendungen, das ständige Werden und Vergehen, in dem jeder Einzelne völlig gleichgültig ist.
Er kann ein Ungläubiger werden: Es gibt nichts anderes als diesen endlosen Kreislauf des Elends. Wenn er alle die für eine harmonische Weltanschauung unbequemen Tatsachen sieht, so kann ihm die Gottheit verschwinden.
Skepsis, Naturalismus, Glaubenslosigkeit sind die inneren Gefahren, vor denen vielleicht jeder Arzt gestanden hat. Wie er sie überwindet, das erst macht die Tiefe seines menschlichen Blickes, die Energie seines Hoffens, seine Leidenschaft trotz allem, von der man sagen kann: Noch am Grabe pflanzt er die Hoffnung auf.
Dann bleibt er unbeirrbar durch die Schrecken, im Vertrauen zu einem unbedingten Grunde, aus dem jede Hilfe unter Menschen, jeder Akt der Liebe, schon bloßer Menschenfreundlichkeit ein unersetzliches Gewicht hat.
Dann vermag der Arzt zu ertragen, daß die Skepsis sein Lebenselement bleibt, das nicht zerstört, sondern vor Täuschungen bewahrt, der Naturalismus, soweit er die Realitäten sehen lehrt, die Glaubenslosigkeit, sofern er jeden magischen, abergläubischen Glauben fallen läßt.
Aber daß er sein Wissen um die Entschleierungen des Menschen so oft allein tragen soll, kann ihn zur Menschenverachtung verführen. Nur wenn er seine ursprüngliche Güte bewahrt und das Wissen um den Bruch des Menschseins selbst, damit um seine eigene Hinfälligkeit und das eigene Ungenügen, vermag er auch dieser Gefahr eines ruinösen Überlegenheitsgefühls zu entgehen.
Daher gewinnt der Arzt erst auf Grund seiner ständigen Selbsterhellung mit der Distanz zu sich selbst und zum Kranken zugleich seine Reife.
Berühmt ist der Satz des Hippokrates: »Iatros philosophos isotheos.« Der Arzt, der Philosoph wird, wird einem Gotte gleich. Damit ist nicht etwa der philosophisch bloß Lehrende gemeint, sondern der handelnde Arzt, der mit seinem Arztsein denkend unter ewigen Normen im Strom des Lebens Philosoph ist – das ist schwer. Es kann über seine Seele wohl unbemerkt ein Schleier sich legen angesichts von allem, was er in Kauf nehmen muß: Das schließliche Nichtkönnen bei seinem grenzenlosen Willen, zu helfen, die Ohnmacht vor so vielem Schrecklichen, das Schweigen, um den Trug der Selbsttäuschung nicht anzutasten (da er die rettende Gnade des Glaubens nicht zu geben vermag), das Nichtwissen im Ganzen, das ihm verwehrt, Heiland zu sein, als den so viele Kranke heimlich ihn begehren.
Das Höchste, was ihm hier und da gelingt, ist Schicksalsgefährte zu werden mit dem Kranken, Vernunft mit Vernunft, Mensch mit Mensch, in den unberechenbaren Grenzfällen einer zwischen Arzt und Kranken entstehenden Freundschaft.
Dann darf man fragen, ob nicht die ärztliche Persönlichkeit auf eine legitime Weise selber zu einer heilenden Kraft wird, ohne Zauberer oder Heiland sein zu müssen, ohne daß Suggestion, ohne daß irgendeine andere Täuschung vorliegt. Die Gegenwart einer Persönlichkeit, in ihrem Willen zum Helfen einen Augenblick ganz für den Kranken da, ist nicht nur unendlich wohltuend. Das Dasein eines vernünftigen Menschen mit der Kraft des Geistes und der überzeugenden Wirkung eines unbedingt gütigen Wesens weckt im anderen, und so auch im Kranken, unberechenbare Mächte des Vertrauens, des Lebenwollens, der Wahrhaftigkeit, ohne daß darüber ein Wort fällt. Was der Mensch dem Menschen sein kann, erschöpft sich nicht in Begreiflichkeiten.
Entscheidend ist der Arzt, dem sein ärztliches Wesen wie ein Geschenk des Himmels zuteil wurde. Die ärztliche Persönlichkeit ist das nie zu Fordernde, nie zu Planende. Sie ist das, wodurch die lernbaren therapeutischen Mittel erst ihre Führung haben. Ich glaube, wir alle kennen solche Ärzte, und in jedem Arzt, der sich zu seinem Berufe geboren weiß, ist solches wirksam.
Quelle: Karl Jaspers, Wahrheit und Bewährung. Philosophieren für die Praxis, München: Piper, 1983, S. 47-58.
[1] Vortrag gehalten beim Festakt des Schweizerischen Arzttages am 6. Juni 1953 in Basel.