Otto Dibelius’ Predigt zum „Tag von Potsdam“ (1933): „Wenn der Staat seines Amtes waltet gegen die, die die Grundlagen der staatlichen Ordnung untergraben, gegen die vor allem, die mit ätzendem und gemeinem Wort die Ehe zerstören, den Glauben verächtlich machen, den Tod für das Vaterland begeifern – dann walte er seines Amtes in Gottes Namen!“

Heute vor 90 Jahren hielt Otto Dibelius zur zur Reichstags-Eröffnungsfeier am 21. März 1933 in der Nikolaikirche Potsdam folgende Predigt, die die Ambivalenz eines nationalreligiösen Protestantismus gegenüber dem Nationalsozialismus zum Ausdruck bringt. Für eine historische Einordnung siehe Manfred Gailus, Ein großes, freudiges „Ja“ und ein kleines, leicht überhörbares „Nein“.

Festpredigt des Generalsuperintendenten der Kurmark, D. Dr. Otto Dibelius, zur Eröffnung des Reichstags am 21. März 1933

Ist Gott für uns, wer mag wieder uns sein?“ (Römer 8,31)

Über diesen Text hat D. von Dryander[1] bei der Eröffnung des Deutschen Reichstages am 4. August 1914 gepredigt. Es war ein Tag, an dem das deutsche Volk das Höchste erlebte, was eine Nation überhaupt erleben kann: einen Aufschwung des vaterländischen Gefühls, der alle mit sich fortriss: ein Aufflammen neuen Glaubens in Millionen Herzen; eine heiße Bereitschaft, das eigene Leben zu opfern, damit Deutschland lebe – ein Reich, ein Volk, ein Gott! An einem solchen Tage gemeinsamer Erhebung drängt dies Wort sich auf, dies Wort voll Glaubenstrotz und Siegeszuversicht: Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?

Der heutige Tag ist jenem ähnlich, und ist doch wieder anders. Durch Nord und Süd, durch Ost und West geht ein neuer Wille zum deutschen Staat, eine Sehnsucht, nicht länger, um mit Treitschke[2] zu reden, „eine der erhabensten Empfindungen im Leben eines Mannes zu entbehren“, nämlich den begeisterten Aufblick zum eigenen Staat. Noch sind wir nicht wieder ein eigenes Volk. Nein, wir sind es nicht! Das weiß niemand so gut wie die Kirche, die das Evangelium allen Gliedern des Volkes zu bringen hat. Aber das Verlangen ist doch da bei Ungezählten, sich aus Klassenhass und Parteizerklüftung in das zu retten, was uns alle eint: dass wir Deutsche sind! Noch ist der Glaube in deutschen Landen nicht wieder die große, bewegende Kraft, die er einstmals war. Aber eine Bereitschaft zu neuem Glauben ist bei Hunderttausenden da. Vielleicht noch mehr als Bereitschaft! Gustav Schmoller[3] hat einmal gesagt: alle großen Entscheidungen der deutschen Geschichte seien begleitet von einer neuen, tieferen Erfassung unserer evangelisch-protestantischen Grundlagen. Gibt es nicht zu denken, dass der neue Anfang in der politischen Geschichte Deutschlands zusammenfällt mit jenem neuen Ringen um das rechte Verständnis des Evangeliums in unserer Kirche, das wir alle kennen: Wollen Ullrich von Hutten[4] und Martin Luther sich wieder die Hand reichen und das deutsche Volk in neuem Glauben vor Gottes Angesicht stellen?

Ein Reich, ein Volk, ein Gott – ist es noch nicht wieder Erfüllung, so ist es doch Sehnsucht. Vielleicht ist diese Sehnsucht, in anderthalb Jahrzehnten der Not in der Seele angesammelt und jetzt hervor gebrochen, mehr Verheißung hat als die Erfüllung von damals, die aus dem Gewitter des Krieges wie mit einem Schlage entsprang!

Sehnsucht und Erfüllung aber ruhen in derselben Wahrheit des ewigen Gottes. So sei denn der Reichstag von 1933 mit demselben Wort begrüßt wie damals der Reichstag von 1914: Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?

Das Wort kommt aus dem Zentrum evangelischen Glaubens.

Das war es, was Martin Luther in der einsamen Turmstube des Wittenberger Augustinerklosters blitzartig erkannte: Gott ist nicht gegen die Menschen, wie er in jahrelanger Verzweiflung gemeint hatte. Er ist nicht der ewige Fordernde, nie Zufriedengestellte, der mit den Menschen handelt Auge um Auge, Zahn um Zahn. Gott spricht am Kreuz von Golgatha: für euch! Was ich tue und was ich offenbare – es ist für euch!

Das war es, was dem Geschlecht der Freiheitskriege wieder in Flammen aufgegangen war: Gott hat die Welt nicht, wie die Aufklärung meinte, als eine Maschine geschaffen, die er nun ablaufen lässt. Gott handelt!  Er handelt in der Geschichte. Er handelt in jedem Menschenleben. Er ist ein persönlicher Gott – für uns!

Das ist es, was die Menschen unserer Tage wieder anfangen zu begreifen: In der Welt der Religion gelten alle die Tatsachen Gottes, nicht die Einfälle der Menschen. Religionen, die sich die Menschen konstruieren, es seien mystische oder völkische oder zusammengemischte Allerweltsreligionen, sind kraftlose Hirngespinste. Gott handelt. Gott offenbart. Und seine Offenbarung ist Jesus Christus, der gekreuzigt ist für uns!

Das ist die Wahrheit, die unsere Kirche bezeugt.

Diese Wahrheit aber wird nur verstanden, wenn man begreift, dass sie Gnade ist!

Nicht deshalb ist Gott für uns, weil wir darauf einen Anspruch hätten, oder weil es seine Pflicht und Schuldigkeit wäre, die Verdienste eines Volkes zu belohnen. Gott ist für uns – aus unbegreiflicher Gnade!

Freunde, wenn der innere Umschwung im deutschen Volk kommen soll, auf den wir warten, dann muss neben manchem anderen auch der törichte Protest moderner Menschen gegen das Wort Gnade verschwinden. Gnade, so sagen sie, mache knechtische Seelen! Mag sein, dass Gnade, die Menschen üben, Knechte macht. Aber Gnade von Gott? Von dem Apostel an, der von sich sagte: von Gottes Gnaden bin ich, was ich bin! – bis zu den preußischen Königen, die sich Könige „von Gottes Gnaden“ nannten – bis zu Bismarck, der nach der Abendmahls Feier bei seinem 70. Geburtstag dem Geistlichen die Hand reichte mit dem Wort: Ja, es war viel Gnade! – es ist eine einzige Kette von Menschen, die es beweisen: die Gnade Gottes demütigt, aber sie macht Männer! Sie beugt unter das Gericht, aber sie gibt königliche Freiheit, den Menschen und dem Schicksal gegenüber. Aus der Erfahrung der Gnade: Gott ist für uns! steigt die trotzige Siegeszuversicht empor: wer mag wider uns sein! Weil Gott für uns ist, darf der Mensch das Wort sprechen, das ohne diese Tatsache der Gnade Vermessenheit und Frevel wäre: Gott wird mit uns sein!

* * *

Damit aber ist die Losung gegeben, die an einem neuen Abschnitt unserer inneren Geschichte die Herzen erfüllen muss: Mit Gott zu neuer Zukunft!

Ja, mit Gott zu neuer Zukunft! Wir wollen wieder frei werden von dem Geist, der nur das Materielle kennt, der die Wirtschaft für das Schicksal hält, der den Menschen der Maschine unterordnet, der von den Wolkenkratzern Neuyorks bis zu den Kraftwerken Südrusslands nur noch diesen einen Typus des mechanisierten Menschen anerkennen will! Wir wollen wieder sein, wozu Gott uns geschaffen hat. Wir wollen wieder Deutsche sein! Und wir werden es nur sein, wenn der Glaube an Gott, dem Vater unseres Herrn Jesus Christi, der Pulsschlag unseres Lebens wird. Es ist nicht wahr, dass das Evangelium etwas Fremdes in die deutsche Art hineingetragen habe und eine Erlösung von Jesu Christi, statt einer Erlösung durch Jesu Christi nötig sei, damit wir wieder Deutsche werden. Das Gegenteil ist wahr. Erst durch das Evangelium finden die Völker ebenso wie die einzelnen Menschen ihr wahres Selbst. Das Evange­lium schablonisiert nicht und nivelliert nicht. Schiller lässt den jungen Piccolomini im jugendlichem Überschwang von seinem Feldherrn sagen:

Jedwedem zieht er seine Kraft hervor,
die eigentümliche, und zieht sie groß,
lässt jedem ganz das bleiben, was er ist;
er wacht nur drüber, dass er’s immer sei
am rechten Ort; so weiß er allen Menschen
Vermögen zu dem seinigen zu machen.

Genau das ist es, was – freilich auf ganz anderer Ebene – die Menschen zu allen Zeiten an ihrem Herrn Jesus Christus erfahren haben. Das ist es, was die Völker erfahren, wenn sie zum christlichen Glauben kommen: Gott lässt jedes von ihnen ganz das bleiben, was es ist – nur dass sie es jetzt erst in Klarheit und Zucht zu sein vermögen! Deutsche Zukunft ist nur möglich im Glauben an Gott! Das ist es, was wir in dieser Stunde ersehnen: Durch Gottes Gnade ein deutsches Volk!

Mit Gott zu neuer Zukunft! Ein neuer Anfang staatlicher Geschichte steht immer irgendwie im Zeichen der Gewalt. Denn der Staat ist Macht. Neue Entscheidungen, neue Orientierungen, Wandlungen und Umwälzungen bedeuten immer den Sieg des einen über den anderen. Und wenn es um Leben und um Sterbenden der Nation geht, dann muss die staatliche Macht kraftvoll und durchgreifend eingesetzt werden, es sei nach außen oder nach innen.

Wir haben von Dr. Martin Luther gelernt, dass die Kirche der rechtmäßigen staatlichen Gewalt nicht in den Arm fallen darf, wenn sie tut, wozu sie berufen ist. Auch dann nicht, wenn sie hart und rücksichtslos schaltet. Wir kennen die furchtbaren Worte, mit denen Luther im Bauernkrieg die Obrigkeit aufgerufen hat, schonungslos vorzugehen, damit wieder Ordnung in Deutschland werde. Aber wir wissen auch, dass Luther mit demselben Ernst die christliche Obrigkeit aufgerufen hat, ihr gottgewolltes Amt nicht zu verfälschen durch Rachsucht und Dünkel, dass er Gerechtigkeit und Barmherzigkeit gefordert hat, sobald die Ordnung wiederhergestellt war.

Das muss die doppelte Aufgabe der evangelischen Kirche auch in dieser Stunde sein. Wenn der Staat seines Amtes waltet gegen die, die die Grundlagen der staatlichen Ordnung untergraben, gegen die vor allem, die mit ätzendem und gemeinem Wort die Ehe zerstören, den Glauben verächtlich machen, den Tod für das Vaterland begeifern – dann walte er seines Amtes in Gottes Namen! Aber wir wären nicht wert, eine evangelische Kirche zu heißen, wenn wir mit demselben Freimut, mit dem Luther es getan hat, hinzufügen wollten: staatliches Amt darf sich nicht mit persönlicher Willkür vermengen! Ist die Ordnung hergestellt, so müssen Gerechtigkeit und Liebe wieder walten, damit jeder, der ehrlichen Willens ist, seines Volkes froh sein kann. Die beiden Reiche, die Luther so sorgfältig auseinander hielt, das Reich der weltlichen Gewalt und das göttliche Reich der Gnade werden eins in der Person des Christen. Das ist unser heißes Anliegen, dass eine neue deutsche Zukunft heraufgeführt werde von Männern, die aus Dank für Gottes Gnade ihr Leben heiligen in Zucht und Liebe und dass der Geist solcher Männer dann das ganze Volk durchdringe! Herr lass uns wieder werden, was unsere Väter waren: durch Gottes Gnade ein geheiligtes Volk!

Und zum letzten Mal: mit Gottes zu neuer Zukunft! In Millionen von Herzen glüht die Hoffnung, dass diese Zukunft eine Zukunft neuer deutscher Freiheit werde! Noch liegen auf uns die Lasten der Vergangenheit! Noch seufzen Hunderttausende von Brüdern und Schwestern, die Gott zu Gliedern eines freien Volkes berufen hat, unter fremder Knechtschaft. Es ist des deutschen Volkes Schicksal stets gewesen, sich die Freiheit immer aufs Neue erkämpfen zu müssen. Und es hat die Freiheit jedes Mal wieder gewonnen, wenn ein neuer Pulsschlag des Glaubens durch seine Glieder ging. Wer den Tod nicht fürchtet, ist schwer zu erschrecken – das ist ein altes Wort. Wer des ewigen Lebens gewiss ist, weil er erfahren hat, dass Gott für ihn ist – der steht unerschrocken wider alle Feinde, draußen und drinnen. In dem lebt eine Kraft des Sieges. Ein Volk von solchem Glauben beseelt, wird durch Gottes Gnade noch einmal ein freies Volk!

* * *

Das Gotteshaus, in dem wir feiern, ist zweimal geweiht worden. Das erste Mal, als die Mauern standen und ein Notdach sie überdeckte. Das zweite Mal, als die Kuppel gewölbt war, die die Blicke und Herzen gewaltig nach oben zieht.

Das Deutsche Reich ist zum ersten Mal geweiht worden, als vor 62 Jahren die Mauern aufgeführt waren, die Nord und Süd zusammenschlossen. Der zweiten Weihe harren wir entgegen. Das ist heute unser Gebet: dass Gottes Gnadenhand über den Bau des Deutschen Reiches die Kuppel wölbe, die einem deutschen, einem geheiligten, einem freien Volk den Blick für immer nach oben zieht, Deutschland wieder und für immer: ein Reich, ein Volk, ein Gott!

Lass mich’s noch einmal erleben,
Lass mich’s noch einmal, Herr, noch seh’n.
Und dann will ich’s ohne Grämen
Meinen Vätern melden gehn!
Amen.

Chor:

Wach auf, wach auf, du deutsches Land, du hast genug geschlafen,
Bedenk, was Gott an dich gewandt, wozu er dich erschaffen.
Bedenk, was Gott dir hat gesandt und dir vertraut, sein höchstes Pfand;
Drum magst du wohl aufwachen!
Du solltest bringen gute Frucht, so du recht gläubig wärest,
In Trieb und Tun, in Scham und Zucht, wie du solch’s selbst begehrest,
In Gottes Furcht dich halten sein und suchen Gottes Ehr allein,
Dass du niemand beschwerest.
(Johann Walter, 1570)

Gehalten zur Reichstags-Eröffnungsfeier am 21. März 1933 in der Nikolaikirche Potsdam.

Quelle: Günther van Norden, Der Deutsche Protestantismus im Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1979, S. 52-55.


[1] Oberhofprediger Ernst Hermann von Dryander (1843-1922).

[2] Heinrich von Treitschke (1834-1896), Autor der fünfbändigen „Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert“.

[3] Gustav von Schmoller (1838-1917), Hauptvertreter der jüngeren Historischen Schule der Nationalökonomie.

[4] Ulrich von Hutten (1488-1523) war Kirchenkritiker, Humanist, Dichter und Publizist.

Hier der Text als pdf.

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