Ernst Wolf, Widerstandsrecht und Widerstandspflicht (1964): „Mit dem Aufkommen totalitärer Staaten im 20. Jahrhundert und mit dem Widerstandsversuch vom 20. 7. 1944 gegen Hitler ist die Frage des Widerstandsrechts wieder aktuell geworden. Im Bereich christlicher Lehre ist sie für den Protestantismus noch lebhaft umstritten.“

Widerstandsrecht und Widerstandspflicht

Von Ernst Wolf

Widerstandsrecht u. Widerstandspflicht sind als Fragen nach der Möglichkeit, Erlaubtheit oder Gebotenheit gewaltsamen Vorgehens des Volkes oder des einzelnen gegen offenkundig ungerechte Satzung, innerstaatl. Gewaltmißbrauch oder Anmaßung von Herrschgewalt in der neuesten Zeit stärker zurückge­treten, obwohl sie von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 19. Jh.s im Vordergrund staatswissenschaftl. Den­kens standen und im MA auf dem Boden germ. Lehensrechts mit der gegenseitigen Treue zw. Lehens­herrn und Gefolgsmann auch im Verhältnis von Staat und Kirche und innerhalb der verfaßten Kirche eine erhebl. Rolle spielten. In der Reformationszeit kam der Gesichtspunkt der Glaubensverschiedenheit von Für­sten und Untertanen hinzu, aber auch erneut die Fra­ge, wie Röm. 13; 1.Petr. 2,13-18; Mt. 5,39 einerseits mit Apg. 4,19; 5,29; 2.Thess. 2,3 und Offb. 13 sowie den alttestamentl. Aussagen über Herrschaftsumsturz und Absetzung auf Weisung Gottes hin (Richter 3,15ff.; 1. Sam. 31; 2.Kön. 9;1.Makk. 2,19ff.; 2.Makk. 7,30) andererseits sich als allg. „Weisungen“ verstehen und miteinander vereinbaren lassen.

I. Mit dem Aufkommen totalitärer Staaten im 20. Jh. und mit dem Widerstandsversuch vom 20. 7. 1944 gegen Hitler ist die Frage des Widerstandsrechts wieder aktuell ge­worden. Im Bereich christl. Lehre ist sie für den Pro­testantismus noch lebhaft umstritten, für den Katholi­zismus im Rahmen naturrechtl. und moraltheol. Er­wägungen nicht eindeutig geklärt. Zwar hat der „Syl­labus“ Pius’ IX. von 1864 Revolution und Eidbruch aus vaterländ. Gründen verworfen (63.64); man hat die jesuitische Theorie des Tyrannenmords (Mariana, gest. 1624; Busenbaum, gest 1668; vorher Bellarmin, gest. 1621; Suarez, gest. 1617) vorsichtig abgelehnt, die von der Idee der Volkssouveränität ausgingen; 1415 hatte das Konstanzer Konzil die Verteidigung des Tyrannenmords durch J. Parvus verurteilt. Aber die Erlaubtheit des Widerstands gegen schlechte Herr­scher, wie ihn zuerst Joh. von Salisbury (1159, Policraticus) gegen die Willkür der Eigenkirchenherren vor­trug, und der öffentl. Notwehr eines Volkes auf Grund seiner Souveränitätsrechte gehört gegenüber „priv.“ Tyrannenmord zum Bestand kath. Lehre. -Thomas von Aquin hat den Kampf gegen Tyrannen mit gesetzl. Mitteln und die Tötung des Usurpators im Kriegszustand für erlaubt erklärt. Neuerdings spielt der Gedanke der „soz. Notwehr“ dabei eine Rolle (Angermair), auf die die Erlaubtheit „priv.“ Notwehr z.T. übergeht.

II. Die vielfach in die Nähe der kath. gerückten prot. Verteidiger des Tyrannenmords (Monarchomachen), bei denen in ähnl. Weise Theokratie des AT.s und Tyrannenhaß des klassischen Altertums, Volks­souveränität und Rechtsbefugnis der Stände im Le­hensstaat eine Rolle spielen, sind damit zwar stark in das Denken ihrer Zeit (16. Jh.) eingeordnet, sehen aber die Frage des Widerstandsrechts stärker als eine religiöse. Zu den Calvinisten (Hotoman, du Plessis-Mornay, Buchanan, Danaeus u.a.) kommen auch Lutheraner. Ihre geschichtl. Wirkung ist verhältnismäßig gering, zumal die Lutheraner des ausgehenden 16. und 17. Jh.s einen unbedingten Obrigkeitsgehorsam vertreten und daher, wie der dänische Hofprediger H. Masius, die luth. Religion als die dem Fürsteninteresse allein ent­sprechende empfehlen.

III. Heute ist für die Frage des Widerstandsrechts ihre Erörterung bei den Reformatoren selbst und in den Bekenntnis­schriften wieder wichtig sowie Ansätze zur Behand­lung der Frage in der neuesten Theologie. Die schroffe Gegenüberstellung von Reformierten und Lutheranern läßt sich dabei nicht aufrecht erhalten trotz den Ver­schiedenheiten in der Staatslehre, in der Auffassung des Verhältnisses von Volk und Staat und vor allem von dem Maß der pol. Mitverantwortlichkeit des Chri­sten, die ihm eine Widerstandspflicht auferlegen kann. Die in der ev. Theologie strittige Frage ist vor allem die, ob Aus­übung der Widerstandspflicht oder Inanspruchnahme des Widerstandsrechts ledigl. Sache pol. Ermessens (und damit der „Politi­ker“) sei oder Angelegenheit des Glaubensgehorsams jedes Christen. Im allg. pflegt man dem Calvinismus das Eintreten für eine Widerstandspflicht bis hin zum Tyrannenmord als u. U. von Gott gebotenes Verhalten zuzu­schreiben, dem Luthertum hingegen ledigl. eine jede Antastung der „Obrigkeit“ ablehnende passive Re­sistenz, die ein grundsätzl. Nein zur Revolution ein­schließt. Diese Gegenüberstellung trifft z. T. für das 17. Jh. und die Folgezeit zu, nicht für die Reformato­ren selbst.

IV. Die Fragen um Widerstandsrecht und Widerstandspflicht haben sämtliche Reformatoren stark beschäftigt, weil Staatswesen und christl. Bekenntnis für sie aufs engste miteinander ver­bunden waren und weil jene Fragen so zugleich zu Fragen nach Gewinnung und Wahrung von Glaubens­freiheit wurden. Gemeinsam ist den Reformatoren a) das Wissen um eine bes. pol. Mitverantwortung der Stände mit dem Kaiser; b) der Gedanke, daß es eine Stufung pol. Ämter gebe mit Strafvollmacht der höhe­ren gegenüber den niederen; c) die Erwägung von Grenzfällen nach dem Vorbild bibl. oder antiker Mu­stergestalten (Ehud, Richter 3,15; Jehu, 2.Kön. 9 u. a. m.) und des Gedankens, daß Gott selbst gegen tyrannische Bedrückung durch außergewöhnl. Tun helfen könne und werde. Verschiedene Wege gingen sie jedoch bei dem Versuch, aus den einschlägigen bibl. Worten und Beispielen und z. T. aus überkommenen naturrechtl. Grundsätzen, germ. Rechtserbe und an­tiker Staatslehre (Aristoteles) allg. Regeln für ein Verhalten abzuleiten, das den bloß „passiven“ Wider­stand, das Strafen mit dem Worte Gottes und die persönl. Notwehr überschreitet, indem es zu gewaltsamer Beseitigung „schlechter“ Obrigkeit vorstößt.

1. Zwingli hat frühzeitig ein (eingeschränktes) Widerstandsrecht vertreten, zus.fassend in seinem 1530 an Karl V. ge­richteten Bekenntnis (Fidei ratio): „Mag auch eine Obrigkeit sich furchtbar und schreckenerregend ge­bärden, fehlt ihr dies (näml. Güte und Gerechtigkeit), so wird sie durch ihre ordnungsmäßige Einsetzung nach meiner Meinung in keiner Weise entschuldigt. Zugleich meine ich aber, daß ein Christ einem solchen Tyrannen gehorchen müsse bis zu der Gelegenheit, von der Paulus sagt: wenn du frei werden kannst, ge­brauche es lieber (vgl. 1.Kor. 7,21); aber ich glaube, daß sie von Gott allein gezeigt wird, nicht vom Men­schen, nicht heiml., sondern so offen, wie Saul ver­worfen wurde …“ (Art. 11). Nach Zwinglis Meinung darf eine christl. Obrigkeit nichts gegen Gottes Wort gebieten, andernfalls ist sie „mit Gott“ abzusetzen (Thesen 1523, Nr. 42).

2. Ähnl. lehrt Calvin, daß Gott zur Notzeit Retter und Rächer erwecken werde. Vor allem entwickelt er in seiner „Institutio“ von 1536 (Kap. 6) die Lehre von den mit den lakedämonischen Ephoren oder den röm. Volkstribunen der Antike als Kontrollinstanzen zu vergleichenden „Ständen“, denen als göttl. verordnete Pflicht zukommt, zur Wahrung der Rechte der Unter­tanen gegen pflichtvergessene Herrscher vorzugehen, besonders wenn die Obrigkeit den Gehorsam gegen Gott zu hindern versucht. Dann verliert sie ihr Amt, und dann ist u. U. sogar der Widerstand des einzelnen gegen den zur Privatperson gewordenen Gewalttäter denkbar, wie später Beza meint, indem er über Cal­vins ständisches Widerstandsrecht hinausgeht, an das die Monarchomachen (s. o.) anknüpfen. Die Ephoren-Lehre be­gegnet schon 1530 bei Melanchthon. Wenn auch Beza und Knox über Calvin hinausgehen, ist doch zu beach­ten, daß die in Art. 14 des schottischen Bekenntnisses von 1560 stehende und viel zitierte Formel „Tyrannei zu unterdrücken“ eingeordnet ist in die Aufzählung der vom Christen „zum Nutzen des Nächsten“ gefor­derten Werke der zweiten Tafel des Dekalogs und unmittelbar verbunden mit der Forderung, die Schwa­chen vor der Gewalt der Bösen zu schützen und nicht zu dulden, daß unschuldiges Blut vergossen werde, wenn man es hindern kann. Hier wird nicht nur von erlaubtem, sondern von göttl. gebotenem Widerstand gegen die pol. Macht gesprochen, u. U. unter An­wendung von Gewalt, aber ausschließl. innerh. der Verantwortung für den Nächsten und für den Staat. K. Barth hat im Anschluß daran den Gedanken er­neuert, daß „der in Liebe tätige Glaube an Jesus Chr.“ u. U. „unsere aktive Resistenz ebenso notwendig“ machen könnte „wie er, wenn wir nicht vor diese Wahl gestellt sind, die passive Resistenz oder auch unsere positive Mitarbeit notwendig macht“ (Gotteserkennt­nis und Gottesdienst nach ref. Lehre, 1938, S. 214; Kirchl. Dogmatik III 4, 1951, S. 513ff.).

3. Die luth. Bekenntnisschriften betonen, daß das Evangelium priv. Vergeltung verbiete, „daß niemand der Obrigkeit in ihr Amt greife“ (Apologie 16, 7), und als Tat der Liebe gebiete, den G. und der Obrigkeit, auch heidnischer, gehorsam zu sein. Luther hat das Widerstandsrecht in seiner Theologie und Rechtslehre wiederholt und als Frage des Grenzfalls unter so versch. Gesichts­punkten erwogen, daß bis heute das Verständnis sei­ner Ansicht umstritten ist. Er kennt die Auffassung der Juristen seiner Zeit und läßt sie, obwohl er jeden gewaltsamen Widerstand gegen den Kaiser als höchste „christl.“ Obrigkeit im Grunde ablehnt, doch gegen­über kaiserl. Unterdrückung der Ref. im allg. gelten, zumal „Euangelion nicht widder die weltl. rechte leh­ret“ und das Unrecht christl. Obrigkeit gegen den De­kalog zu ihrer Selbstauflösung als Obrigkeit führen kann. Der einzelne hat hier freil. nur das Recht persönl. Notwehr u. des „passiven“ Widerstandes der ent­schlossenen Gehorsamsverweigerung und ihrer Kon­sequen­zen. Die Fürsten hingegen dürfen dem Kaiser, der die föderalistische Struktur des Reiches mißachtet, zur Aufrechterhaltung der pol. Ordnung gewaltsam widerstehen und müssen es, sofern der Christ überall für die Ordnung einzutreten hat und der christl. Fürst einem tyrannischen Kaiser gegenüber für die Wahrung der ersten Tafel des Dekalogs, d. h. für Reinheit der Lehre und Ordnung der Kirche, sorgen soll. Ganz klar liegt der Fall des Widerstandes dort, wo rechtswidrige Anmaßung von Herrschgewalt im Aufruhr begegnet (Bauernkrieg), oder wenn ein Herrscher wahnsinnig wird. Dann droht Anarchie. Alle diese Fragen gehören wesentl. in das „weltl. Regiment“ Gottes. Der Christ aber ist, gerade weil er unter dem „geistl. Regiment“ Gottes lebt, von daher für das weltl. mitverantwortl., handelt jedoch mit dem geistl. Mittel des Wortes. Sein geistl. Widerstand, der sich dort, wo die weltl. oder kirchl. Obrigkeit gegen das erste Gebot streitet, nur als Erleiden äußert, ist Ausfluß einer grundsätzl. Widerstandspflicht im Kampf zw. Chr. und Satan. Sie richtet sich daher in erster Linie gegen den geistl. Ty­rannen, der mit seinem Machtanspruch Gottes Recht und das Naturrecht verfälscht (während der weltl. es nur mißbraucht), gilt aber auch der Erhaltung der dem weltl. Naturrecht gemäßen Ordnung, da der Satan im Kampf gegen Chr. auch diese zu zerstören sucht. Der Christ darf also weder einem rechtswidri­gen Befehl gehorchen noch die Obrigkeit als (naturrechtl.) Ordnung Gottes selbst gefährden. Göttl. Gebot ist schließl. der Widerstand abgesehen von einem mögt, bes. Befehl Gottes eindeutig dort, wo sich die Recht­losigkeit zum Herrn macht und Herrschwillkür mit dem Recht gleichsetzt, den menschl. Machtwillen als die alleinige Quelle des Rechts gelten läßt. Gegen diese Verkehrung, diesen apokalyptischen Tyrannen mit sei­nen totalitären Ansprüchen, der den geistl. Tyrannen in der Kirche und den weltl. im einzelnen Staatswesen dämonisch überbietet, seiner Gesetzlosigkeit (2.Thess. 2,9) gegenüber kennt Luther eine Revolutionspflicht des Christen: „Wenn ich allein einen Aufstand machen könnte, täte ich es.“ Allerdings begegnet ihm ein solches dämonisch-totalitäres Machtgebilde nur im Papsttum. Nur der Christ, der um den Unterschied der beiden Reiche weiß, erkennt diese äußerste Bedro­hung der Ordnung, deren Träger man vernichten muß wie eine „Bestie“ (Disputation über Mt. 19,21 v. 9.5.1539). Hier handelt es sich um eine Macht, die sowohl das Evangelium mit Füßen tritt wie auch das weltl. Recht auflöst. Ihr gegenüber ist gewaltsamer Widerstand Pflicht, so sehr Gewaltanwendung im eigenen Interesse oder zur Verteidigung des Evangeliums über­haupt (Kreuzzug) abgelehnt wird. Daß Luther jenes „Untier“ nur in dem Leib und Seele tyrannisierenden Papsttum geschichtl. vor Augen hat, schließt nicht aus, die hier geltende Widerstandspflicht auf den ihm (noch) unbe­kannten Fall entspr. Dämonisierung weltl. Herrschaft, eines „Unrechtsstaates“, der „ohne Gesetz“ lebt, an­zuwen­den.

V. Das ist, nachdem frühzeitig eine ganz absolutist. Auslegung des luth. Obrigkeitsgehorsams verbunden mit einer Trennung der beiden Regimente das (dt.) Luthertum fortschreitend pol. entmündigt hat (s. o. Masius!) und man sich nur noch vereinzelt an Lu­thers Erkenntnisse erinnerte, sonst aber nur einen „passiven“ Widerstand als bloß leidenden Gehorsam und die rein theoret. Erwägung eines göttl. Spezial­befehls zum Widerstand vertrat, in der Zeit nationalsozialistischer Be­drückung durch den norwegischen Primas E. Berggrav geschehen, indem er die Verteidigung des Rechts­staates als Christenpflicht lehrte (Der Staat und der Mensch, 1946, darin der Vortrag von 1941: Wenn der Kutscher trunken ist): „Will der Staat total sein, das heißt, will er selbst Lebensanschauung sein und eine Lebensauffassung erzwingen, dann ist nach Luther der Teufel los. … Nur solange die Obrigkeit selbst Gott zu ihrer Obrigkeit hat, ist sie Obrigkeit nach Gottes Ordnung“ (S. 306). 1952 hat Berggrav auf der zweiten Vollversammlung des Luth. Weltbundes im Blick auf einen drohenden totalitären Wohlfahrtsstaat ausgeführt:

„Man kann bloß im allg. sagen, daß die luth. Lehre in praxi obrigkeitsunterstützend, prinzipiell aber auch revolutionär ist, indem man eine Obrigkeit, die in Tyrannei und Gesetzlosigkeit verfallen ist, nicht mehr als Obrigkeit aner­kennt … Wenn die Obrigkeit ohne G. und mit grober Willkür tyrannisch wird, dann gibt es dämonische Zustände und infolgedessen ein Regiment, welches nicht unter Gott steht. Gehorsam einer teuflischen Macht gegenüber wäre aber nichts anderes als Sünde … Unter solchen Umständen be­steht prinzipiell das Recht zum Aufruhr in der einen oder in der anderen Form“ (S. 79). Ferner: „Die Pflicht zur Teil­nahme an pol.-bürgerl. Aufgaben setzt für den Christen voraus, daß er ein Entscheidungsrecht und -pflicht hat und zu einer Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Befehle der Obrigkeit verpflichtet ist“ (81).

Gegen Berggrav erhebt ein Teil des dt. Luthertums die herkömml. Bedenken von Römer 13 und der Tren­nung der beiden Reiche her. Das Widerstandsrecht wird als „Er­messensfrage“ dem Berufspolitiker allein zugewiesen und das für Luther entscheidende „geistl.“ Urteil des Christen über die Rechtmäßigkeit jeweiliger Obrig­keit abgelehnt, der Widerstand des Politikers als „geschichtl. Wagnis“ zugleich darauf verwiesen, daß es „auch für ein schuldbeladenes, blutbeflecktes Werk“ Vergebung der Sünden gebe. Der einzelne hat kein Recht zu aktivem Widerstand. „Den Weg gewaltsamer Mittel zu bedenken und zu realisieren ist nur eine Möglichkeit für Persönlichkeiten, die sich in einer verantwortl. Position im Staatsgefüge befinden oder als einstige Amtsträger daran teilhatten. … Das Wissen um den eigentl. pol. Notzustand und seine tiefsten Hintergründe ist dem priv. Bürger versagt“ (Künneth).

VI. Praktisch wirkte sich diese Einstellung aus, als im Kirchenkampf die Bekennende Kirche unter dem Titel des Wächteramts der Kirche gegen einzelne Hand­lungen und Pläne der NS-Regierung Verwahrung ein­legte, vor allem in der Denkschrift der Vorläufigen Leitung vom Mai 1936 (W. Niemöller, Die Bek. Kirche sagt Hitler die Wahrheit, 1954). Über Ansätze zur Wahrnehmung eines Widerstandsrechts kam man freil. nicht hinaus. Ihnen und der Einstellung von Berggrav ent­spricht weithin das theol. Gutachten im Remerprozeß (s. Lit.). Eine Mittelstellung hat bereits 1921 ange­sichts der Weimarer Republik der luth. Theologe P. Althaus bezogen, indem er sich zur Notwendigkeit bekannte, „über das altluth. Nein zu jeder Revolu­tion hinauszuführen“ (Obrigkeit und Führertum,1936, 53 ff.; vgl. NT Deutsch, Brief an die Römer, 1935, S. 109 f.; 1946, S. 112f.). Die grundsätzl. Erörterung des Widerstandsrechts ist also im Protestantismus neu in Gang ge­kommen.

Lit.: G. Schmidt, Die Lehre vom Tyrannenmord (1901). — F. Kern, Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im früheren MA (1914). — K. Müller, Luthers Äußerungen über das Recht des be­waffneten Widerstandes gegen den Kaiser (1915). — K. Wolzendorff, Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen rechtswidrige Ausübung der Staatsgewalt (1916). — P. Kirn, Saul in der Staatslehre = Staat und Persönlich­keit (1928). — H. Lüthje, Melanchthons Anschauung vom Recht des Widerstandes gegen die Staats­gewalt. Zs. für Kirchen-Gesch. (1928). — Pachali, Das Revolutionsproblem in der theol. Ethik des dt. Luthertums. Theol. Studien und Kritiken, H. 4 (1929). — J. Bohatec, Calvin und das Recht (1934). — H. Friedel, Der Tyrannen­mord in Gesetzgebung und Volksmeinung der Griechen (1937). — F. Schoenstedt, Studien zum Tyrannenbegriff und Tyrannenmordproblem im späten MA (1937). — W. A. Schulze, Ref. und Widerstandsrecht Ev. Theol., H. 8 (1948—1949). — H. J. Iwand und E. Wolf, Entwurf eines Gutachtens zur Frage des Widerstandsrechts nach ev. Lehre Jg. Ki., H. 7-8 (1952). — Kraus, Die im Braunschweiger Remerprozeß erstatteten moraltheol. und hist. Gutachten (1953). — R. Angermair, Moraltheol. Gutachten über das Widerstandsrecht nach kath. Lehre, s. Kraus a. a. O. — E. Berggrav, Staat und Kirche in luth. Sicht. Das leben­dige Wort in einer verantwortl. Kirche (1952). — J. Heckel, Widerstand gegen die Obrigkeit? Zeitwende – Die neue Furche H. 3 (1954). — W. Künneth, Das Widerstandsrecht als theol.-eth. Problem (1954). — K. H. Becker, Luth. Demokratie. Dt. Universitäts-Ztg., Nr. 24(1953). — H. von Borch, Obrigkeit und Wi­derstand (1954). — H. Clavier, The Duty and the Right of Resistance according to the Bibel and to the Church (1956). — B. Pfister – G. Hildmann, Widerstandsrecht und Grenzen der Staats­gewalt, Tagungsberichte (1956). — J. VON Gierke, Widerstandsrecht und Obrigkeit (1956). — H. Weinkauff, Über das Widerstandsrecht Jurist. Studienges. Karlsruhe, H. 20 (1956). — W. A. Schulze, Römer 13 und das Widerstandsrecht Arch. f. Rechts- u. Soz.philosophie42 (1956). — W. von Trott zu Solz, Widerstand heute oder das Aben­teuer der Freiheit (1958). — H. Thielicke, Theol. Ethik H, 2, 399ff. (1958). — W. Schier, Das Recht zum Widerstand (1959). — A. Arndt, Agraphoi nomoi. NJW, 430ff. (1962). — J. Mausbach – G. Ermecke, Kath. Moraltheologie III, H. 48 (1953).

Quelle: Friedrich Karrenberg (Hrsg.), Evangelisches Soziallexikon, Stuttgart: Kreuz-Verlag, 41963, Sp. 1349-1354.

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