Karl Jaspers über sich selbst in seiner Lebensbeschreibung von 1946: „Als ich mit 18 Jahren (1901) aus der Kirche austreten wollte, sagte mein Va­ter: ‚Mein Junge, es ist leicht, nein zu sagen, wenn man nichts Bes­seres weiß. Die Welt ist zu gutem Teil des Teufels. Die menschlichen Ordnungen soll man achten, wenn sie nicht offenbar schaden. Man kennt das Unheil nicht, das entsteht, wenn sie zerbrechen. Wir sind nicht allein auf der Welt. Solange man lebt, hat man die Verpflich­tung, an alle anderen zu denken.’“

Lebensbeschreibung[1]

Von Karl Jaspers

Geboren bin ich am 23.2.1883 in Oldenburg, evangelischer Konfes­sion.

Ich bin aufgewachsen in der Geborgenheit eines glücklichen Eltern­hauses. Mein Vater, Jurist, war in seiner Jugend Verwaltungsbeam­ter (Amtshauptmann), seit 1881 Bankdirektor in Oldenburg. Beide Großeltern waren Bauern an der Nordseeküste. Beide Familien wa­ren liberal, mein Vater liberaler Landtagsabgeordneter, die mütterli­che Familie eine ausgesprochen politische Familie. Ein Bruder mei­ner Mutter, Theodor Tantzen, Bauer auf dem großväterlichen Be­sitz, mehrfach in Gestapohaft, schon 1919-24 Ministerpräsident in Oldenburg, ist jetzt dort wieder Ministerpräsident.

Die Gesinnung, die uns Kinder umgab, war getragen von der Forde­rung der Wahrhaftigkeit und Offenheit, des Fleißes und der Zuver­lässigkeit, der Treue und der Ehrfurcht vor der Überlieferung. Ge­gen Großherzog und Kirche in dem kleinen Lande stand man kühl, aber respektvoll. Preußentum und Militär wurde als fremd empfun­den. Man lebte in jenen friedlichen Zeiten für seinen Beruf, für die geistige Welt und für die Jagd in maßvoller Lebensfreude. Mein Va­ter war uns Autorität, obgleich er in seiner Erziehung jeden Befehl vermied und alles, was er wünschte, uns begründete. Wir schenkten ihm grenzenloses Vertrauen. Für die Weise des Sprechens in der Fa­milie erzähle ich folgende Anekdoten: Mein Vater sollte zum Hauptmann ernannt werden, als er die Grenze des militärpflichtigen Alters erreichte. Er lehnte diese damals hohe Ehre ab. Vom erstaun­ten Regimentskommandeur gedrängt, sagte er: Herr Oberst, Sie ver­langen meine Begründung. Sie dürfen sie mir nicht übelnehmen: ich diene keinen Tag länger als ich nach dem Gesetze muß, denn mir ist die Militärluft wesensfremd und ich kann nicht anders als je­den militärischen Vorgesetzten wie meinen persönlichen Feind anse­hen. Solche Erzählungen meines Vaters blieben nicht ohne Einfluß. Eines Tages in jener Zeit fragte er mich, ob ich den jungen K. kenne (einen Schüler in meiner Klasse und Sohn eines Berufsofficiers). Ich antwortete: Nein, ich will mit Officiersjungen nichts zu tun haben. Mein Vater darauf ganz ernsthaft: Mein Junge, du mußt keine Vorurteile haben, ein Officier kann auch ein anständiger Mensch sein.

Die holländische Geschichte lernten wir mit einem Stolz, als ob es die unsrige sei. Manchmal sagte mein Vater: Schade, daß wir nicht zu Holland gehören. Aber das waren bloße Stimmungen. An Auf­lehnung und Änderung dachte niemand. Jedoch herrschte in der ge­samten Familie eine Ablehnung gegen die Invasion des „ostelbi­schen“ Officiers- und Assessorentypus. Es war eine mehr menschli­che als politische Gegnerschaft. Auch Bismarck wurde nicht verehrt. Die sogenannten „Getreuen von Jever“ waren schon persönlich für meinen Vater, der selber Jeveraner war, wunderliche Leute.

Ich besuchte das humanistische Gymnasium in Oldenburg 1892-1901. Obgleich dort viel zu lernen war und ich manche Lehrer sehr gern hatte, stand ich in Opposition zur Schule, vom Vater darin bestärkt. Meine eigentliche Erziehung brachte nur das Elternhaus. Wir gehörten zu den sogenannten oberen Kreisen. Als ich es 1899 ablehnte in eine der drei Schülerverbindungen einzutreten, die in den beiden oberen Schulklassen alle Schüler erfaßten, begründete ich das damit, daß ich die Einteilung der Stände, die der Auswahl der Schüler zu den drei Verbindungen zugrunde lag, für meine menschlichen Beziehungen nicht anerkenne. Der Direktor erklärte, das sei ein neues bedenkliches Zeichen meines Oppositionsgeistes, die Lehrer würden ein wachsames Auge auf mich haben.

Unsere Erziehung fand statt ohne Kirchlichkeit, aber auch ohne Kirchenfeindschaft. Taufe und Confirmation wurden vollzogen, aber kein regelmäßiger Kirchenbesuch. Die Pfarrer galten als kind­lich. Mit ihnen war man freundlich, aber diskutierte nicht. Als ich mit 18 Jahren (1901) aus der Kirche austreten wollte, sagte mein Va­ter: „Mein Junge, es ist leicht, nein zu sagen, wenn man nichts Bes­seres weiß. Die Welt ist zu gutem Teil des Teufels. Die menschlichen Ordnungen soll man achten, wenn sie nicht offenbar schaden. Man kennt das Unheil nicht, das entsteht, wenn sie zerbrechen. Wir sind nicht allein auf der Welt. Solange man lebt, hat man die Verpflich­tung, an alle anderen zu denken. Wenn du einmal 70 Jahre alt sein wirst, von allen Ämtern zur Ruhe gesetzt bist und vor dem Tode stehst, dann kannst du reinen Tisch machen und aus der Kirche aus­treten, ohne es öffentlich bekannt werden zu lassen. Überlege dir, daß du kein falsches Beispiel gibst.“ Mir leuchtete das ein. Ich blieb in der Kirche. Mein Vater hat später mit 73 Jahren danach gehan­delt.

Zum Studium wählte ich 1901 zunächst die Jurisprudenz, nach drei Semestern die Medizin. Medizin wählte ich, weil mir unter den praktischen Berufen der des Arztes am meisten erwünscht war. Heimlich hoffte ich auf eine wissenschaftliche Laufbahn, und zwar in der Philosophischen Fakultät, wie ich es nur einmal meinem Va­ter bei Begründung meines Studienwechsels von der Jurisprudenz zur Medizin in einer Denkschrift 1902 aussprach.

Reisen nach Italien, Arbeiten auf der zoologischen Station in Helgo­land, Famulieren in Kliniken brachten mich mit mannigfachen Wis­sensgebieten in Berührung. Aber es fand nach den ersten zerstreuen­den Semestern eine Concentration der Arbeit auf das Ziel des Arztes hin statt.

Ich war Gegner der studentischen Corps und Burschenschaften, ob­gleich ich von manchen Seiten zum Eintritt aufgefordert wurde. Ich verabscheute den Lärm des studentischen Treibens. In einem Briefe aus Heidelberg an meine Eltern vom 19.11.1901 heißt es: „Gestern war hier eine große Studentenversammlung gegen Chamberlain. Beim Beginn sprangen sechs Studenten in Wichs von ihren Plätzen auf, zogen, als wenn es Kampf auf Leben und Tod gebe, ihre Säbel und hauten dreimal auf das vor ihnen stehende Pult. Professor Schä­fer, ein Historiker, schilderte in guter Weise die Art der Kriegsfüh­rung bei den Deutschen und Engländern in den verschiedenen Krie­gen des 19. Jahrhunderts. Zwischendurch, z.B. als er sagte „Cham­berlain ist ein gemeiner Lügner“ allgemeines Trampeln und große Begeisterung. Unter anderem wurde geleistet: „Das deutsche Volk ist das deutsche Heer und das deutsche Heer ist das deutsche Volk“ (allgemeines Bravo). Unter fürchterlichem Radau wurde dann die Resolution (ein Protest gegen Chamberlains Worte in Edinburg) an­genommen. Ich konnte mich nicht entschließen, an dem Getrampel teilzunehmen.“

Ich blieb wesentlich unpolitisch. Als Student spürte ich keinerlei Mitverantwortung für den Gang der Dinge. Dieser schien mir zwar auf lange Sicht verhängnisvoll: dieses ganze Treiben mußte mit ei­nem Unheil enden. Ich selber aber lebte meinen geistigen Aufgaben und persönlichen Freundschaften, im Grauen vor der politischen Wirklichkeit und in Verachtung Wilhelms II, jedoch in dem trügeri­schen Glauben, es werde für unser Leben noch Frieden bleiben. 1914 riß aus allen Täuschungen. 1919 trat ich der demokratischen Partei bei, 1923 trat ich wieder aus, weil sie mir keinen Charakter und keine klare Linie zu haben schien. Alle anderen Parteien waren mir noch fremder. So beschränkte ich mich wieder auf meine wis­senschaftliche Arbeit.

1908 machte ich mein medizinisches Staatsexamen. An der psychia­trischen Klinik in Heidelberg wurde ich Assistent unter Nissl, mei­nem verehrten Chef. Nach einer Reihe einzelner wissenschaftlicher Publikationen erschien 1913 meine „Allgemeine Psychopathologie“, die mir plötzlich ein Ansehen verschaffte und meine Laufbahn eröff­nete, welche 1921 zu einem Ordinariat für Philosophie in Heidelberg führte, wo ich blieb unter Ablehnung von Rufen nach Greifswald und Kiel, später nach Bonn.

Wegen Militäruntauglichkeit war ich nie im Heer, in Friedenszeiten immer zu meiner tiefen Befriedigung, jedoch in den Jahren 1914-1918 mit einem herabdrückenden Bewußtsein.

Zeitungen las ich zwar jederzeit, aber kurz und schnell. Meine Bi­bliothek wuchs seit meiner Schulzeit. Die einzig kostbare Welt der Bücher vermittelte das innerliche Gespräch mit den Menschen durch die Jahrtausende.

Das größte geistige Ereignis für mich war meine persönliche Be­kanntschaft mit Max Weber seit 1909, dem größten, edelsten, gei­stesmächtigsten Deutschen, dem ich begegnet bin. Als er 1920 starb, hielt ich in Heidelberg eine Trauerrede bei der studentischen Feier. 1932 schrieb ich in der Hoffnung, dem Unheil unwahrhaftigen und barbarischen politischen Geschehens zu einem kleinen Teil entge­genzutreten, eine Schrift über Max Weber als vorbildlichen Deut­schen. Es kostete mich damals Überwindung, vom „Deutschen“ zu sprechen – nur dieses eine Mal tat ich es –, denn mit dem Namen „Deutsch“ ist immer soviel Mißbrauch getrieben worden. Es ist merkwürdig, daß ich erst jetzt seit 1945 rückhaltlos zu sagen vermag, daß ich ein Deutscher bin und mein Vaterland liebe.

Kant und Plato, Goethe und Shakespeare, die Bibel brachten mir die dauerndsten Eindrücke, Spinoza liebte ich seit meiner Schüler­zeit, Kierkegaard und Nietzsche wurden die großen, fruchtbaren Unruhestifter, die es anzueignen und zu überwinden galt. Für sie hatte ich die tiefste Verehrung als für die weltgeschichtlichen Opfer und Propheten unseres Zeitalters. Hegel und Marx studierte ich mit Belehrung. Plotin, Nicolaus Cusanus und Schelling bringen mir im­mer wieder eine einzig beschwingende metaphysische Musik. Fichte und Luther waren mir ebenso unentbehrlich als Gegenstand meiner Studien, wie Gegenstand elementarer Abneigung.

Rundfunk höre ich ungern, aber gelegentlich der Nachrichten we­gen. Musik höre ich gern, aber ohne Bedürfnis und ohne Musikali­tät. Kino ist mir unangenehm. Ich besuche es kaum alle paar Jahre einmal. Theater besuchte ich in der Jugend mit Begeisterung, später nicht mehr.

Das Jahr 1933 kam trotz aller vorhergehenden Sorge für mich uner­wartet. Im März 1933 sagte ein Kollege unter meiner bekümmerten Zustimmung: ich komme mir vor, als wenn wir von einem fremden Volk besetzt wären.

Bis 1937 habe ich an der Universität Heidelberg meine Lehrtätigkeit fortgesetzt. Die Hemmungen waren beträchtlich. Kein Antrag wur­de mir mehr bewilligt. Der Assistent am philosophischen Seminar gehorchte mir nicht mehr. Ich legte daher die Geschäftsführung des Seminars 1935 nieder. Meine Vorlesungen und Seminare wurden je­doch nicht gestört (nur hörte ich immer wieder von Plänen in dieser Richtung). Ich habe sachlich gelesen wie vor 1933, vielleicht mit grö­ßerem Ernst und anderer Ergriffenheit. Anpassungen habe ich nicht vollzogen, außer in einem Punkt: das Wort Rasse nahm ich nicht mehr in den Mund, und über den Rassenwahn, den ich vor 1933 ge­legentlich bekämpft hatte, sagte ich kein Wort mehr. Über die Ju­denfrage sprach ich nicht, dagegen in meinen geschichtlichen Vorle­sungen eingehender und ehrfurchtsvoller als früher über das Alte Testament, besonders über Jeremias und Hiob, auch wochenlang über Spinoza, beides ohne Beanstandung, unter fühlbarem Beifall meiner Hörer. Als ich nach meiner Entlassung die letzte Vorlesung hielt, wurde mir am Ende durch das bei Studenten übliche Tram­peln, gesteigert durch Klappern mit den Tischen, eine Zuneigung kundgegeben in einem Maße, wie ich sie nicht erwartet hatte. Als ich in das Docentenzimmer trat, hielt der Lärm, vom Flur hörbar, noch immer an, und die Collegen blickten fra­gend auf mich, was denn das sei.

Das Regime bekam seine diktatorische Gewalt im März 1933 nicht auf legalem Wege, sondern durch einen Gewaltstreich. Die verfas­sungswidrige Ausschaltung der Communisten aus dem Reichstag brachte erst die Majorität für die Nationalsocialisten und Deutsch­nationalen. Damit war der Terror da. Wir Deutsche fanden uns plötzlich im Zuchthaus. Die Armee versagte. Eine Gegenaktion war nach meiner und meiner Freunde Auffassung unmöglich. Ein unbe­greiflicher Rausch ergriff einen großen Teil der Bevölkerung. Damit wurde der Grund gelegt zu einem Verhalten, in das auch ich ein­ging. Eine völlige Verborgenheit der eigentlichen Meinung, Offen­heit nur noch im allerengsten Freundeskreis, eine abwehrende, in Allgemeinheiten sich ergehende Sprechweise, ein Widerspruch ge­gen Vorwürfe, im entscheidenden Augenblick vor der Gestapo das Bekenntnis der eigenen Loyalität, der Eid auf Hitler im Sommer 1934 – den die gesamte akademische Corporation einschließlich der damals noch im Amt befindlichen Juden in einer unfeierlichen Mas­senaktion leistete –, das Stillesein bei wachsender Empörung und der Ahnung kommenden Unheils, – das alles bewirkte einen Seelen­zustand, den man als tief unwürdig empfand und doch nicht ändern konnte. Jeder Versuch einer Gegenwehr führte nur zur Selbstver­nichtung nach dem Satze von Goebbels: Wir lassen die Mäu­se aus den Löchern, sehen ihnen eine Weile zu, um sie dann totzuschlagen. Wir hatten nur eine Hoffnung: Befreiung von außen. Im Mai 1933 sagte mein Freund Erich Frank zu mir: wenn die Westmächte mit dem Einmarsch noch ein halbes Jahr warten, hat Hitler gesiegt; jetzt wäre es eine Leichtigkeit. Wir waren tief betroffen von dem Concor­dat der katholischen Kirche mit Hitler, dem Flottenpakt Englands mit ihm. Wir hatten ein Gefühl, daß die Außenstehenden, statt uns zu helfen, nicht nur dabeistehen, sondern den Zuchthausverwalter noch in seinem Ansehen stützen. Das eigene Schuldbewußtsein im Sinne der politischen Schuld eines jeden Staatsbürgers für das Regi­me, dem er verfällt, war damals nur im Keim bei mir da, mehr das Bewußtsein des Verhängnisses. Aber es verwandelte sich, als wir un­tätig (außer ständigem Bemühen für Einzelfälle bei den Behörden) dabeistanden, wie jüdische Freunde beraubt, deportiert und ermor­det wurden. Seit 1938 ging noch einmal ein Riß durch unser Wesen. Wir hätten auf die Straße gehen und schreien können, bis man auch uns vernichtete. Wir taten es nicht. Seitdem ist in das Denken ein anderer Zug gekommen.

Trotzdem fühle ich etwas in mir, das seit der Kindheit unverändert ist. Den Sinn meiner Arbeit sah ich und sehe ich im Philosophieren. Ich bin der Überzeugung, daß es ein Denken gibt, das lebensnah und lebensnotwendig ist, ohne unmittelbar in das Leben einzugrei­fen, außer durch die Erziehung des inneren Handelns, in dem ein je­der den Grund legt für Sinn und Gehalt dessen, was er in der äuße­ren Welt tut. Dieses Philosophieren ist nur möglich auf dem Boden der Wissenschaften und bei gleichzeitiger wissenschaftlicher Arbeit. Darum bin ich ausgegangen von wissenschaftlichen Fachstudien und kehre ständig zurück zu Informationen in den einzelnen Wis­senschaften.

Dreimal habe ich bisher eine systematische Arbeit versucht: meine Allgemeine Psychopathologie (1913), meine Psychologie der Welt­anschauungen (1919), meine „Philosophie“ (1932). Seitdem sehe ich meine Aufgabe in zwei Werken, die mir als meine abschließende Le­bens­leistung erscheinen. An beiden war ich längst und bin ich seit­her tätig. Für beide haben die letzten bösen zwölf Jahre einen neuen Ursprung eröffnet. Ich nenne sie „Philosophische Logik“ und „Welt­geschichte der Philosophie“.

Durch die philosophische Logik möchte ich mitwirken an dem logi­schen Selbstbewußtsein dieses Zeitalters (der erste Band: Von der Wahrheit ist druckfertig, die drei weiteren Bände sind Lehrbücher der Kategorienlehre, Methodenlehre und Wissenschaftslehre; sie be­dürfen noch weiterer Arbeit).

In der Weltgeschichte der Philosophie möchte ich – ohne chronolo­gische Darstellung – das geschichtlich vorliegende Philosophieren als das eine große, in sich überall zusammenhängende Phaenomen des Offenbarwerdens des Seins im Menschsein, als die philosophia peren­nis vergegenwärtigen. Sie hat sich aus den Wurzeln (in China, Indien, Griechenland) in großen Rhythmen in ständiger Bedingtheit durch die sociologischen Zustände und Gegebenheiten in Bezug auf Wissenschaft und Religion entfaltet.

Beide Werke werden ihre volle Frische nur gewinnen, wenn es mir vergönnt ist, die Philosophie vor einer eifrigen und kritischen Ju­gend zu lehren, die mir mit Vertrauen begegnet.

Von 1921 bis 1937 war ich ordentlicher Professor der Philosophie an der Universität in Heidelberg, von 1937 bis 1945 nach meiner Ent­lassung in den Ruhestand mit Ausarbeitung von Schriften beschäf­tigt. 1945 wurde ich reaktiviert. Schriften konnte ich seit 1938 nicht mehr drucken. 1943 wurde es mir ausdrücklich verboten. Eine Ein­ladung zu Gastvorlesungen in Basel 1941 für zwei Jahre anzuneh­men, wurde mir verweigert.

Gegen den Nationalsocialismus bin ich politisch nicht aktiv tätig ge­wesen. Ich bin nie verhaftet worden.

Von 1919-1923 war ich Mitglied der deutschen demokratischen Par­tei. Vorher und nachher habe ich nie einer Partei angehört. Auch heute bin ich keiner Partei beigetreten.

Karl Jaspers

Quelle: Karl Jaspers/K. H. Bauer, Briefwechsel 1945-1968, hrsg. v. Renato de Rosa, Berlin-Heidelberg-New York, 1983, S. 1-7.


[1] 1946 in Heidelberg für die amerikanischen Militärbehörden abgefasst.

Hier der Text als pdf.

3 Kommentare

    1. Lieber Christian, Danke für die Info, die ja dann einiges erklärt, warum Carl Wilhelm Jaspers (1850–1940) im Alter von 73 Jahren aus der Kirche austritt.

      1. Hier der entsprechende Text aus Karl Jaspers Philosophische Autobiographie: „Als mein Vater die Siebzig überschritten hatte, trat er in der Tat aus der Kirche aus. Er bat auf dem kirchlichen Büro, die Sache vertraulich zu behandeln. Nach einigen Tagen kam der Pfarrer. Mein Vater: Es wäre, Herr Pfarrer, für uns beide das beste, wenn wir darüber nicht sprächen. Meine Begründung könnte Sie kränken. Mein Entschluß ist endgültig. Der Pfarrer drang in meinen Vater. Darauf dieser: Ich bin alt und beordne vor dem Tode meine Verhältnisse. Was die Kirche lehrt und tut, habe ich selten gebilligt. Nur ein Beispiel: Vor kurzem nahm sich ein junger Mann das Leben. Die Kirche veröffentlichte eine Verurteilung des Selbstmords, ein Pfarrer weigerte sich, die Beerdigung zu vollziehen. Ich dachte: Was ermächtigt Sie zu solcher Verurteilung? und wie können Sie, die Sie den Toten nicht mehr erreichen, die Angehörigen so quälen! Sie werden verstehen, Herr Pfarrer, warum ich meinen Austritt nicht unnötig bekanntwerden lassen möchte. Er will nichts für andere bedeuten. – Zu uns sagte mein Vater, er habe von Pfarrern am Grabe soviele Taktlosigkeiten gehört, daß er seine Angehörigen bei seiner Bestattung damit verschonen wolle. – Als mein Vater im Sterben lag, im 90. Lebensjahr, und Abschied nahm, meinte er zu seiner ihm verbundenen frommen Ärztin: Glaube, Liebe, Hoffnung, heißt es – vom Glauben halte ich nicht viel.“ (S. 113)

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