Biographische Notiz über Fridolin Stier (1902-1981)
Von Martha Sonntag
Als Studenten besuchten wir Fridolin Stier eines Tages während der Sommerferien in seiner Heimat Karsee bei Wangen im Allgäu. Dorthin zog es ihn immer wieder, vor allem zur Zeit der Ernte und an den Gedenktagen der Toten der Familie. „Heimat“ war ihm mehr als der Geburtsort (am 20. Januar 1902 kam er zur Welt). Er zeigte uns den Oberhof bei Karsee, das Hofgut seiner Mutter, das der Vater, damals Lehrer in Karsee, 1911 übernommen hatte. Dort wuchs er auf, als Ältester von acht Kindern – von früh an eng mit der Natur und dem bäuerlichen Leben verbunden. An jenem Sommertag führte er uns durch die Wiesen und Felder, sog tief den Duft des frischen Öhmds ein und begann Geschichten aus seiner Kinder- und Jugendzeit zu erzählen. Und wir sahen den barfüßigen Hütebuben, der – die herbstliche Kühle spürend – die Füße in den dampfenden Kuhfladen wärmte, und den stets zu Abenteuern aufgelegten Lausbuben.
Eine Geschichte ist mir noch besonders in Erinnerung: An seinem Primiztag kam eine Magd zwei Stunden weit zu Fuß her, um ihm die Gaben der kranken Bäuerin im Deckelkorb zu bringen. „Hochwürden, gent Se mir au dea Sega dônei, damit en mit hoimnemma kâ!“ Und er segnete den Korb. Die Magd schloß eilig den Deckel und machte sich auf den Heimweg. Da wir in Tübingen bei unserem alttestamentlichen Lehrer den kritischen und wachen Zugang zur Überlieferung gelernt hatten, staunten wir, mit welcher Selbstverständlichkeit er die volkstümliche Frömmigkeit seiner Allgäuer Bauern akzeptierte. Er sah in ihr das Menschliche und liebte es.
„Etwas von daheim“ nahm er immer mit nach Tübingen, ein Stück Geräuchertes, Käse, Brot. Aber nicht nur er freute sich am vertrauten Geschmack auf der Zunge. „Das ist für die kleine Maus mit den listigen Augen, die täglich hier was sucht“, erklärte er seinen Hausgenossen einmal und legte ein Stückchen Speck vor den Küchenschrank. „Heimatlich“ waren ihm auch die ersten Kirschen, die ersten Erdbeeren im Jahr. Er genoß sie wie ein großes Geschenk. Und als ein heftiges Erdbeben das auf Knollenmergel gebaute, gefährdete Haus auf dem Tübinger Osterberg, in dem er lange Jahre gewohnt hat, erschütterte, beachtete er die Aufregung in seiner Umgebung nicht. Er schaute vielmehr zuerst nach den Schwalben, die in einer Mauerspalte nisteten.
Vater und Ortspfarrer betreuten Fridolin Stiers Vorbereitung auf das Progymnasium. Nach dem Landexamen absolvierte er bis zum Abitur das niedere Konvikt in Rottweil. Das war der damals übliche Weg zum Theologiestudium. So zog er anschließend ins Tübinger Wilhelmstift und studierte von 1922 bis 1926 katholische Theologie und orientalische Sprachen.
Seine Lehrer waren u. a. der Alttestamentler Paul Rießler und der Orientalist Enno Littmann; bei ihnen lernte er Arabisch, Syrisch, Äthiopisch, Koptisch und die Keilschriftsprache. (Die Liebe zu den Sprachen ist ihm geblieben: Wenn er sich später zu Urlaubsreisen in fremde Länder begab, begann er die Reisevorbereitungen mit dem Erlernen der Sprache.) 1927 empfing Fridolin Stier die Priesterweihe und war kurze Zeit als Vikar in Heilbronn und Stuttgart tätig. 1928/29 wurde er zu weiteren Studien am Päpstlichen Bibelinstitut in Rom vom Seelsorgedienst beurlaubt.
Danach war er Repetent für Dogmatik und Altes Testament am Tübinger Wilhelmstift. 1932 promovierte er mit einer Dissertation über „Gottes Engel im Alten Testament“ und wurde ein Jahr später zum Lehrbeauftragten für Altes Testament an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen ernannt. Der Lehrstuhl seines Lehrers Rießler war durch dessen Tod vakant geworden. 1936 habilitierte sich Fridolin Stier. Die Berufung auf den Lehrstuhl für Altes Testament wurde ihm zwar zugesagt, aber immer wieder verschoben, denn er vertrat ja ein Fach, das im Dritten Reich als jüdisch und damit „undeutsch“ verpönt war. Im Januar 1938 entzog dann das Kultministerium auf höhere Weisung diesen Lehrstuhl der katholisch-theologischen Fakultät und errichtete dafür ein Ordinariat für Rassenkunde. Fridolin Stier bekam die Mitteilung, daß seine Ernennung aus „grundsätzlichen Erwägungen“ nicht erfolgen könne. – 1940 begann er neben seiner Lehrtätigkeit mit dem Studium der Medizin, in der Absicht, später als Arzt in die Missionen zu gehen.
Als die Fakultät nach Beendigung des Krieges den Lehrstuhl für Altes Testament zurückbekam, verlangte sie die Besetzung nach dem Vorschlag aus dem Jahre 1934. So erhielt Fridolin Stier endlich im Juli 1946 die Ernennungsurkunde zum ordentlichen Professor.
Was er seinen Hörern bedeutet hat, sprach Professor Rudolf Reinhardt (Tübingen) in der Gedenkrede beim Begräbnis vor der großen Trauergemeinde aus:
„Ich kann und darf im Namen jener Generation reden, die das Glück hatte, von Fridolin Stier in die Welt des Alten Testaments eingeführt zu werden. Ich spreche von Glück, damals dabeigewesen zu sein. Viele von uns wurden durch die Vorlesungen des Verstorbenen geprägt, und keiner kann heute sagen, welches theologische Profil er ohne diese Kollegstunden gewonnen hätte. Dabei war Fridolin Stier kein bequemer Lehrer. Vieles von dem, was in anderen Vorlesungen ausgebreitet wurde, setzte er voraus: Textgeschichte und Umwelt, Überlieferungsstränge und Handschriften, die Exegese Wort für Wort, Satz für Satz. In unvergleichlicher Eindringlichkeit hat er uns jungen Studenten aber gezeigt, daß der Gott der Bibel nicht in der Verfügbarkeit des Menschen steht.“ (Theologische Quartalschrift, Heft 4/1981).
In seine Vorlesungen kam er nicht selten einige Minuten zu spät. Man spürte gelegentlich dabei seinen Ärger, wegen der Lehrverpflichtung aus der Arbeit am Schreibtisch gerissen zu sein. Er verlangte von seinen Schülern ein gründliches Sich-Einlassen auf den Text. Wer kein Hebräisch gelernt hatte, tat sich schwer, ihm zu folgen. Über-setzen war für ihn eine mit Leidenschaft betriebene Arbeit. Oft ging er mit Wörtern um wie mit einem Schlüsselbund, immer wieder versuchend, hoffend, daß das Verschlossene – der Sinn des Textes – sich offenbare.
Aber dann kam oft der Augenblick, wo wir den Stift weglegten: Er redete frei aus dem Herzen – manchmal war es wie der vulkanische Ausbruch eines prophetischen Geistes, eifernd für den Grenzen und Bilder sprengenden Jahwe. Was tat’s, wenn die angekündigte Vorlesung nur einige Textstücke vermittelte? Sie waren mehr als das Ganze.
Texte, bei denen er immer wieder verweilte, waren jene, in denen die Geschichte Gottes mit dem Menschen konkret wird: in Jona, im wandernden Elija, in Jeremia, in Amos, in Abraham, im kämpfenden Jakob, in Ijob. Viel später erst begriffen wir, wie sehr es seine eigenen, sehr persönlichen Fragen waren, die in jenen Texten aufbrechen.
In Arbeitskreisen war es nicht leicht mit ihm. Er zwang zum Zuhören, oft eine Stunde lang. Bisweilen entfernte er sich von seinem Konzept – wenn er die Zeit vergessen hatte, entschuldigte er sich. Er machte uns nachdenklich und aufgewühlt. Dialog war dann möglich, wenn er die echte Frage spürte. Es war ihm auch schwer, Termine einzuhalten, Verpflichtungen zu übernehmen. Er erlebte sie als einengende Grenzen für sein ständiges Unterwegs-Sein.
Als Fridolin Stier im Oktober 1952 „zum Zwecke wissenschaftlicher Forschung“ von der Lehrverpflichtung an der katholisch-theologischen Fakultät entbunden wurde, waren seine Schüler tief betroffen. Nur wenige wußten um den Zusammenhang mit seiner Lebensgeschichte. Der erste Band seiner Aufzeichnungen, in dem der Schmerz um den Tod der Tochter durchbricht, gibt die Erklärung. Das Bekenntnis zu ihr wurde ihm damals zum Verhängnis.
Ab 1955 hielt er Vorlesungen über antike Religions- und Geistesgeschichte des Vorderen Orients an der philosophischen Fakultät der Universität Tübingen. Kurz zuvor, 1953, kam es zur ersten Begegnung mit Martin Buber in Tübingen, mit dem ihn bis zu dessen Tod eine herzliche Freundschaft verband.
Als Emeritus ist Fridolin Stier vielen ein verehrter Lehrer geblieben: in regelmäßigen Kursen für Tübinger Theologen, im Priesterseminar in Rottenburg, in der katholischen Hochschulgemeinde, bei zahlreichen Akademieveranstaltungen, in Rundfunkansprachen, im Freundeskreis in Tübingen und Berlin, in der Reinhold-Schneider-Gesellschaft- und ebenso durch seine Veröffentlichungen[1].
Einem Auftrag der Verlage Kösel und Patmos folgend, begann Fridolin Stier mit unerhörter Gründlichkeit, Wort um Wort abwägend, die Übersetzung des Neuen Testaments. Wer die Hinweise dazu in seinen Notizen beachtet, versteht, warum diese Arbeit für ihn so mühsam war. Es gehörte aber auch zu seinem Persönlichkeitsbild, daß er diese „Schwerarbeit“ unterbrach, sobald persönliche Anliegen von Mitmenschen an ihn herangetragen wurden. 1972 schloß er die erste Fassung seiner Übersetzung ab. Es ist als ausgesprochen tragisch zu bezeichnen, daß es ihm nicht vergönnt war, sein Werk zu vollenden. Noch wenige Monate vor seinem Tod – schon von großer Müdigkeit heimgesucht – arbeitete er mit einem Freund daran, zuletzt an der Vereinheitlichung der Übersetzung der synoptischen Evangelien. Seine Schüler und Freunde hoffen auf eine Veröffentlichung, auch wenn der Tod ihm das Unvollendete aus der Hand genommen hat.
Von seinen engbeschriebenen schwarzen Tagebuchheften wußten seine Freunde, weil er gelegentlich aus diesem sehr persönlichen „Fahrt- und Logbuch“, wie er es nannte, einige Texte vorlas. Sie drängten ihn, diese Aufzeichnungen einem größeren Leserkreis zur Verfügung zu stellen. Die Veröffentlichung ist ihm schwergefallen, und immer wieder packten ihn Zweifel, ob das Preisgegebene Aufnahme finde.
Die ersten Reaktionen darauf konnte er gerade noch – lächelnd – auf dem Sterbebett zur Kenntnis nehmen.
Das letzte Werk, mit dem er sich beschäftigte – Zeilen unterstreichend – war: Johannes vom Kreuz (Vida y Obras de San Juan de la Cruz). Als ich ihn einmal fragte, was ihn daran so anziehe, antwortete er: „Seine Seele suchte Gott.“
Im Herbst 1980, als er in der medizinischen Klinik letzte Versuche der Ärzte gegen die Leukämie über sich ergehen ließ, antwortete er auf die Frage nach den Schmerzen: „Ich habe keine Schmerzen, aber es ist ein schmerzhafter Zustand.“ Er sprach nicht vom Tod, aber er wußte trotz ärztlicher Vertröstungen um sein Herannahen. Oft wollte er allein sein; er erzählte uns die Geschichte von dem alten Hofhund daheim, der sich versteckte, als er seinen Tod kommen fühlte.
Seinem Sterbebett gegenüber steht in seinem Arbeitszimmer ein Bildnis des Auferstandenen. Vielleicht war es die Zwiesprache mit ihm, die ihn wenige Tage vor seinem Tod, so wird berichtet, wie in einer Vision sagen ließ: „Siehst du die Schrift dort an der Wand? Fürchtet euch nicht!“
Er starb am 2. März 1981. Auf seinem Grab im Tübinger Stadtfriedhof fand ich für eine solche Stätte ungewöhnliche Zeichen des Gedenkens: eine Erdscholle mit Gräsern und Wiesenblumen, einen Boskop-Apfel, ein Pilgerkreuz, an das schmiedeeiserne Grabkreuz gebunden. Spuren aufmerksamer Leser seiner Aufzeichnungen? Sie sagen mehr als ein Nachruf.
Quelle: Fridolin Stier, An der Wurzel der Berge. Aufzeichnungen II, Freiburg i.Br.: Herder, 1984, S. 262-268.
[1] Neben zahlreichen Zeitschriftenaufsätzen sind hier zu nennen: Begründung und Herausgabe (ab 1950/51) der Internationalen Zeitschriftenschau für Bibelwissenschaft und Grenzgebiete; Das Buch Ijjob, München 1954; Geschichte Gottes mit dem Menschen, Düsseldorf 1959; Ausgewählte Psalmen, Schallplatte mit Text, Düsseldorf 1965; Markusevangelium, München 1964, Schallplatte 1965; Texte zu Bildmappen von HAP Grieshaber: Kreuzweg (St. Wyszyhski), Berlin 1967, Die Wallfahrt nach Kevelar (Heinrich Heine), Kevelaer 1975; Vielleicht ist irgendwo Tag, Aufzeichnungen I, Freiburg und Heidelberg 1981.