Martin Nicol, PredigtKunst. Ästhetische Überlegungen zur homiletischen Praxis : „Ein Plan, wie sich die verschiedenen Moves zu einem sinnvollen Ganzen fügen könnten, zeichnet sich ab. Ideen, die ich auch hatte und die mich begeisterten, werden hinfällig, weil sie in der sich entwickelnden Structure keinen Ort mehr ha­ben. Predigt entsteht, indem ich da und dort so am Detail (Move) arbeite, daß sich die Gestalt des Ganzen (Structure) immer deutlicher abzeichnet. So oder so ähnlich mag es aussehen, wenn Sprache sich aufmacht, künstlerisch die Weltwirklichkeit Gottes zu erkunden.“

PredigtKunst. Ästhetische Überlegungen zur homiletischen Praxis

Von Martin Nicol

1. Kunst – und Predigt?

Die Süddeutsche Zeitung hat den Schriftsteller Martin Walser im Vorfeld jener so umstrittenen Rede anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels mit einem barocken Prediger verglichen[1]. Walser biete, so heißt es, seiner Leser-Gemeinde „keine abstrakte Theologie, kein hohles Pathos, sondern brandende Bilder und Geschichten, Verteidigungsreden der Kindheit wie der Wie­dervereinigung, Märlein vom Einhorn diesseits und jenseits der Liebe, auch heilige Brocken, geistliche Donnerwetter über das, was zu bezweifeln war, viel Heimatlob nebst Variationen über den Würgegriff, empfindsame Episteln zu Knechtschaft, Mangel und Macht.“ Erstaunlich ist, was hier der Kanzelrede zugetraut wird. Pre­digt kann, so lese ich, voller Saft und Kraft sein, spannend und sprachlich an­spruchsvoll wie ein Text der Literatur. Was freilich dem Autor des Artikels, Gerhard Köpf, dabei in den Sinn kommt, ist Predigt des Barock. Zeitgenössische Kanzelrede steht an keiner Stelle zur Debatte. Sprachlust und Sprachkraft, einst auf deutschen Kanzeln anzutreffen, sind, so die These im Hintergrund, längst in die Literatur aus­gewandert.

Wenig Chancen für eine Wende scheint es zu geben, wenn ich mir Martin Walsers Weg zur Sprache ansehe. Walsers „ursprünglicher Schreib- und Sprechimpetus“, so Gerhard Köpf, „ist aus dem Geiste der Predigt. In ihm steckt jene homiletische Kan­zelwucht, wie sie nur in einem Wirtshaus am Bodensee gedeihen und zur Reife ge­bracht werden kann.“ „Homiletische Kanzelwucht“ also sei da dem Schriftsteller zugewachsen auf seinem Lebensweg; zur Reife gebracht wurde solche „Kanzel­wucht“ – in einem Wirtshaus am Bodensee. Homiletische Seminare an einer Theo­logischen Fakultät oder homiletische Übungen im Pastoralkolleg können viel lei­sten; jenes Bodensee-Wirtshaus können sie nicht ersetzten. Was die Homiletik vermag, ist etwas anderes. Die Homiletik kann, so meine These, versuchen, die Pre­digt wieder in einem weiten kulturellen Umfeld zu verorten. Sie wäre dann Rede­Kunst in Nähe zu anderen Künsten. Es muß nicht für alle Zeit abwegig erscheinen, zeitgenössische Predigt und Kunst in einem Atemzug zu nennen. Vieles im homile­tischen Diskurs spricht inzwischen dafür, daß die Nähe zur Kunst in die Orts­bestimmung moderner Predigt gehören wird. Mit konzeptionellen Überlegungen zum Leitbild der Predigt und mit Hinweisen für eine veränderte Praxis will ich einen Beitrag zu solcher Ortsbestimmung leisten.

2. Predigt in Deutschland

Die deutschsprachige Predigt ist faktisch noch immer einem Konzept verpflichtet, das intellektuell erkannte und begrifflich fixierte Wahrheit in Kanzelrede umzuset­zen sucht. Die Formel, die kaum ein Homiletiker mehr unterschreiben würde, die gleichwohl die Predigtarbeit im Lande verläßlich beherrscht, heißt noch immer „Vom Text zur Predigt!“

Ich will an dieser Stelle auf die predigtpraktische Problematik der geläufigen For­mel hinweisen[2]. Diese besteht darin, daß dem Predigen ein begrifflich-intellektuel­ler Filter vorgeschaltet wird, der Predigten zum genießbaren Aufguß (applicatio) einer zuvor erkannten und formulierten Wahrheit (explicatio) macht. Predigtspra­che wird zur lebenspraktischen Anwendung vorgängig explizierter Begriffswahr­heit.

Fremd ist solcher Kanzelrede eine Erfahrung mit Sprache, wie sie Martin Walser in Passagen seiner Rede zum Ausdruck bringt, die im Lärm des Walser-Bubis-Streits sofort untergegangen sind. Für den Schriftsteller ist die Sprache ein eigener, über­raschender Faktor im kreativen Sprachgeschehen. Die Sprache, so Walser[3], „hält sich zurück, erwacht sozusagen gar nicht, wenn ich meine schon etwas zu wissen, was ich nur noch mit Hilfe der Sprache formulieren müsse.“ Sprache wird dem Dichter zum Medium der Erkundung von Wirklichkeit. Solche Erfahrung mit Spra­che stellt sich nicht ein, wo sich Kanzelsprache lediglich als gemeindeverständliche Vermittlung theologisch vorgedachter Wahrheit begreift.

Predigten, die „vom Text zur Predigt“ erarbeitet werden, haben ihre Form. Es do­miniert, wenn auch bunter geworden und gefälliger als in Väterzeiten, noch immer das Drei-Punkte-Modell: Ein Gedanke wird in (meistens) drei Punkten entfaltet. Das ist, mit unbestreitbaren Verdiensten, ein ehrwürdiges Modell des alten Europa. Aber „brandende Bilder und Geschichten“ oder „empfindsame Episteln zu Knecht­schaft, Mangel und Macht“ (Gerhard Kopf über Martin Walser) habe ich unter der Dominanz des Drei-Punkte-Modells noch selten gefunden. Das Drei-Punkte-Modell eignet sich zur schlüssigen Entwicklung von Argumenten, kaum aber zur krea­tiven Gestaltung eines sprachlichen Kunstwerks, das aus Bildern lebt und aus Ge­schichten.

Moderne US-amerikanische Homiletik hat für die hörerfreundlichere Gegenwarts­version des Drei-Punkte-Modells eine ebenso einfache wie eindrückliche Formulie­rung: a three-points-and-a-poem-sermon. Man nimmt jetzt zu der Predigt in drei Punkten eben noch ein Gedicht hinzu. Aber grundsätzlich ändert das nichts am Modell. Dieses Modell verfährt mit Bibelwort und Predigtstoff wie eine Ausstech­form für Weihnachtsplätzchen: „cookie cutter“-Modell – für jeden beliebigen Teig exakt dieselbe Form. So lapidar etikettieren darf freilich nur eine Homiletik, die selbst bessere Rezepte anzubieten hat. Die amerikanische Homiletik hat in den letz­ten dreißig Jahren Einsichten in homiletisches Neuland weit jenseits des cookie-cutter-Modells gewonnen. Ich skizziere im folgenden Impulse moderner US-Homi­letik zum Kunstwerk Predigt.

3. Homiletische Impulse aus den USA

Mir selbst haben die homiletischen Einsichten, die ich in den USA gewonnen habe, geholfen, aus den ausgetretenen Pfaden ein wenig herauszukommen. Ich gestehe, daß meine Homiletik an dieser Stelle weiter ist als meine Predigtpraxis. In der Pra­xis haben die drei Punkte eine Kraft, die vermutlich tief in der Person wurzelt und in der Welt, in der jemand kirchlich aufgewachsen ist. Ähnlich ist es in der Kanzel­szene Amerikas. Die Homiletik spricht gerne von einer „homiletical revolution“, die sich vor etwa dreißig Jahren ereignet habe und die nun längst in die Phase der Kon­solidierung gekommen sei. Wer aber in den USA einen (weißen) Gottesdienst be­sucht, wird oft auf eine Predigt stoßen, die sich nicht prinzipiell vom europäischen Vorbild entfernt hat. Diese Unstimmigkeit sollte die deutsche Homiletik nicht dar­an hindern, Impulse von jenseits des Atlantiks aufmerksam wahrzunehmen[4].

Die „Revolution“ in den USA besteht im Kern darin, daß man sich vom herrschen­den deduktiven Predigtmodell abwandte, um die Möglichkeiten des induktiven Predigtmodells auszuloten. Damit änderte sich die Zielsetzung der Predigt. Nicht mehr darum geht es, eine Wahrheit des Glaubens zu erklären (deduktiv), sondern Erfahrungen des Glaubens zu teilen (induktiv)[5]. Freilich darf das induktive Modell nicht als radikale Alternative zum deduktiven Modell verstanden werden. Die Pra­xis wird immer Mischformen zeitigen. Gleichwohl ist mit dem induktiven Modell ein Weg beschritten, der Alternativen zur herkömmlichen Predigtpraxis eröffnet.

Dabei geht es um Alternativen der Konzeption, also der leitenden Vorstellung von dem, was Predigen sein könnte und sein sollte. Es geht aber auch um handfeste Hil­fen zu einer veränderten Praxis. Beides gehört zusammen. Vieles, was in den USA neu ist, rührt daher, daß Konzeption und Praxis aufs engste zusammengesehen und entwickelt werden. Das hat der amerikanischen Homiletik immer wieder den Vor­wurf eines Pragmatismus zu Lasten von Theologie eingebracht. Im einen oder an­deren Fall mag der Vorwurf berechtigt sein. Insgesamt freilich arbeitet die ame­rikanische Homiletik auf einem soliden theologischen Hintergrund. Die Predigt wird, im Nachklang von Ernst Fuchs oder Gerhard Ebeling, als „Ereignis“ (event) von Menschenworten begriffen, in die sich Gott selbst mit seinem Wort einmischt. Im Unterschied zur deutschen Homiletik gelang es in den USA weit überzeugender und auf breiter Basis, die prinzipielle Homiletik mit materialen und formalen Über­legungen zu vermitteln.

David Buttrick hat 1987 ein umfangreiches Werk veröffentlicht[6]: „Homiletic. Moves and Structures“. Bei Buttrick kommt eine Entwicklung zum vorläufigen Ziel, die schon früher eingesetzt hat. Und zwar hat man an Stelle des starren Punkte-Schemas zunehmend Metaphorik der Bewegung für die Predigt in Anwendung gebracht. Man sprach vom „Fluß“ (flow) oder der „Bewegung“ (movement) der Pre­digt. Als Paradigma für die Predigt diente nun nicht mehr die abstrakte Logik eines Besinnungsaufsatzes oder einer Vorlesung. In den Blick traten die Künste, die zeit­lich bewegte Abläufe gestalten[7] und vom lebendigen Ereignis der Aufführung (per­formance) leben, also etwa Tanz, symphonische Musik[8], Theater oder auch der Film. David Buttrick spricht im Blick auf die einzelnen Sequenzen des Bewegungskunst­werks Predigt von „moves“. Das sind kleinere bewegte Einheiten. Man könnte auch sagen, die Moves seien wie die Sequenzen in einem Film (movie). In der Tat gleicht das Predigtmodell Buttricks der Dramaturgie des Films, in dem die Einstellungen und Sequenzen nach einem bestimmten Plan aufeinander folgen. Beim Film ist der Plan im Drehbuch festgehalten. Für die Predigt spricht Buttrick von „structure“. Die Structure ist sozusagen der große Plan, das Drehbuch, nach dem die Gesamt­bewegung der einzelnen Moves verläuft.

Auf den praktischen Nutzen der Unterscheidung in Moves und Structure komme ich noch zu sprechen. Zunächst liegt mir daran, deren konzeptionellen Wert heraus­zustellen. Wenn ich die Intentionen US-amerikanischer Homiletik, wie sie sich un­ter anderem in David Buttricks Werk manifestieren, auf den Punkt bringen will, dann kann ich sagen: Als Predigtparadigma hat der Film die Vorlesung abgelöst. Das klingt einfach, fast beiläufig, bedeutet aber eine prinzipielle Wende im tradi­tionellen Verständnis der Predigt.

Grundsätzlich kommt mit dem veränderten Paradigma eine Homiletik zur Geltung, die sich in Nähe zur Ästhetik sieht. Die Predigt wird zum Kunstwerk. Als solche aber hat sie an deutschen Fakultäten keinen leichten Stand. Impulse zur Studien­reform seit 1968 sind, aufs Ganze gesehen, ins Leere gelaufen. Das herrschende de­duktive Lernmodell wurde durch ein induktives Konzept nicht wirklich, wie da­mals intendiert, in Frage gestellt oder auch nur ausbalanciert. Dietrich Stollberg dürfte mit seinem resignativen Rückblick auf jene Versuche zu einer Reform des Studiums Recht haben[9]. Was die Predigt betrifft, so hat es eine induktive Homiletik schwer, weil die gesamttheologische Ausbildung an den Fakultäten noch immer de­duktiv konzipiert ist. Homiletisch läuft das deduktive Ausbildungsmodell auf die Drei-Punkte-Pre­digt nach der Formel „Vom Text zur Predigt“ hinaus. Das liegt in der Konsequenz einer Abfolge von Biblischer, Historischer, Systematischer und endlich Praktischer Theologie: Was zu sagen ist, wird zuerst expliziert und syste­matisiert, um dann, ganz am Ende, auch noch ein wenig appliziert zu werden. Rhe­torisch-künstlerische Fähigkeiten und Erfahrungen mit Sprechebenen jenseits des wissenschaftlichen Sprechens liegen prinzipiell nicht in der Perspektive einer sol­chen Ausbildung. Predigt als kreatives Sprachgeschehen zur Erkundung der Welt­wirklichkeit Gottes hat es, vorsichtig gesagt, nicht leicht in einem solchen Kontext. Gleichwohl kann sich die Homiletik durch die Macht des Faktischen nicht ihre Vi­sionen verbieten lassen. Gerhard Marcel Martin hat die Predigt in Anlehnung an Umberto Eco als „offenes Kunstwerk“ konzipiert[10]. Walter Brueggemann veröffent­lichte einen flammenden Appell zugunsten der Predigt als einer poetischen Rede in einer prosaflachen Welt[11], und Bernard Reymond[12] propagierte mit Rückgriff auf Schleiermacher eine Predigt, die den Künsten aller Art weitaus näher ist als der exakten Wissenschaft. Weltweit gewinnt die Perspektive einer Predigt als Kunst­werk an Gewicht. Es ist die Frage, was sich dadurch für die praktische Predigt­arbeit ändern könnte.

4. Praktische Aspekte der PredigtKunst

Ich gehe einmal davon aus, Predigt sei als Kunstwerk zu konzipieren. Zugleich lasse ich mich durch David Buttricks Unterscheidung in Moves und Structures inspirie­ren. Als Paradigma für die Predigt dient mir der Film als breitenwirksames Medium unserer Zeit. Drei Aspekte will ich benennen, die sich für meine praktisch-homile­tische Arbeit ergeben.

1. Oraliture. Kein Film ist vorstellbar, bei dem die Rollen gelesen werden. Es geht im Film nicht um die Verlesung von Texten, sondern um die mündliche Gestaltung von Sprache mit Einsatz der ganzen Person. Predigt nach dem Paradigma von Film oder auch Theater ist konsequenterweise nicht mehr als „manuscript preaching“ vor­stellbar. Natürlich hat der Predigt bis in die Details der Sprache eine gründliche Vor­bereitung vorauszugehen. Aber Kanzelkommunikation müßte sich einer Kultur des mündlichen, nicht mehr einer Kultur des geschriebenen und gelesenen Wortes ver­pflichtet fühlen. Das betrifft sowohl die Ausarbeitung der Predigt in wirklicher Sprechsprache als auch ihre rhetorische Gestaltung auf der Kanzel. In Weiterfüh­rung amerikanischer Forschungen zur Kultur des mündlichen Wortes (orality) hat Bernard Reymond in französischer Sprache eine Homiletik entworfen, die von der Predigt als einem mündlichen Geschehen ausgeht[13]. Er hat programmatisch einer „littérature“ das Kunst­wort der „oraliture“ zur Seite gestellt, um mündliche Wort­ereignisse gegenüber schriftgebundenen Sprachgestaltungen als eigene Kunstform zur Geltung zu bringen. Es scheint mir an der Zeit, Predigt als Oraliture zu verstehen.

2. Gestalt. Einer auf das Wie bedachten Homiletik wird gerne der Vorwurf gemacht, sie sei nicht an der Wahrhaftigkeit des Inhalts interessiert, sondern lediglich an der gefälligen Verpackung. Der Vorwurf greift freilich nur dort, wo Mangel an rhetori­scher Gestaltungskraft und Flucht in die Abstraktion theologischer Begriffe als Ausweis reiner, unverfälschter Wahrheit ausgegeben werden. Bei einer Vorlesung nehme ich unter Umständen Langeweile hin, wenn nur die Information stimmt. An­ders im Film. Wenn Film oder Theater das Paradigma für Kanzelrede abgeben, dann wird Langeweile bei der Predigt zum prinzipiellen Makel. Ein Kunstwerk besticht dadurch, daß Form und Inhalt zu einer Gestalt verwoben sind, die ein Publikum unmittelbar und ganzheitlich anspricht. Kein Regisseur könnte die Frage nach dem Wie so geringschätzen wie mancher Kanzelredner. Die Unterscheidung in Mo­ves und Structures weckt den Wunsch, der Predigt eine Gestalt zu geben, die sich hören lassen kann. Wenn ich Moves ansetze als die bewegenden Elemente des Pre­digtgeschehens, dann kann ich nicht ein Move wie das andere gestalten. Die Frage steht im Raum, wie ich jedem Move die Gestalt gebe, die am besten paßt und für die mir die rhetorischen Mittel zu Gebote stehen. Die amerikanische Homiletik hat natürlich narrative Formen propagiert und mit ihnen experimentiert. Wichtig er­scheint mir, daß darüber hinaus die Vielfalt der biblischen Sprechformen für die Predigt fruchtbar gemacht wird[14]. Die Mannigfaltigkeit der einzelnen Moves wird zusammengehalten durch die Structure. Sie sorgt dafür, daß die Gesamtbewegung auch beim ersten Hören nachvollziehbar wird. Von einem lerntheoretisch motivier­ten Modell über eine narrative Gesamtanlage bis hin zu einer gekonnten Collage der einzelnen Moves ist eine Vielfalt an Structures denkbar.

3. Atelier. Im Französischen wird mit „atelier“ unter anderem die künstlerische Werkstatt bezeichnet. Wenn das Kunstwerk die Vorlesung oder den Besinnungsauf­satz als homiletisches Paradigma ablöst, dann muß der Schreibtisch auch nicht mehr den primären Ort für die Predigtarbeit abgeben. Das Atelier könnte zur Me­tapher einer neuen Verortung werden. Eine Predigt wird nun nicht mehr geschrie­ben wie ein akademischer Vortrag. Im Atelier wird die Predigt gestaltet zum Kunst­werk mündlicher Kommunikation. Das Atelier muß nicht immer ein geschlossener Raum sein; beim Film kommen Außenaufnahmen dazu. Es empfiehlt sich, durch die Welt tatsächlich zu gehen[15] – das Predigtprojekt samt theologischem Design im Her­zen, die Augen, die Ohren und alle Sinne geöffnet: Ein Move kann sich im Gehen entwickeln, links, rechts, Form und Inhalt, Schritt für Schritt. Ich weiß dann plötzlich: So muß dieser Move sein. Und irgendwann weiß ich: In diesem Move muß die Predigt kulminieren. Von da aus ergeben sich andere Moves, nehmen Gestalt an. Ein Plan, wie sich die verschiedenen Moves zu einem sinnvollen Ganzen fügen könnten, zeichnet sich ab. Ideen, die ich auch hatte und die mich begeisterten, werden hinfällig, weil sie in der sich entwickelnden Structure keinen Ort mehr ha­ben. Predigt entsteht, indem ich da und dort so am Detail (Move) arbeite, daß sich die Gestalt des Ganzen (Structure) immer deutlicher abzeichnet. So oder so ähnlich mag es aussehen, wenn Sprache sich aufmacht, künstlerisch die Weltwirklichkeit Gottes zu erkunden.

5. To make things happen

Film oder Theater bieten keine Begriffswahrheit, sondern Gestaltungen. Als Devise für die Predigtarbeit könnte dienen, was ich in den USA zuweilen so vernommen habe: to make things happen – nicht Begriffe darlegen, sondern Gestaltungen sich ereignen lassen! Oder, um es konkret und am Beispiel zu sagen: Nicht über das Trösten reden, sondern trösten! Genau das ist es, was eine tröstliche Predigt kate­gorial von einer Vorlesung über das Trösten unterscheidet.

Ich bringe ein kleines, unscheinbares Beispiel. Es zeigt schön, wie das aussehen kann: to make things happen. Es zeigt, wie klein der Schritt von der alten in eine erneuerte Predigtweise sein kann. Deduktives und induktives Predigen können nä­her beieinanderliegen, als es die konzeptionelle Unterscheidung zunächst erkennen läßt.

Eine Studentin hat bei einem Gottesdienst im Rahmen des Homiletischen Seminars nicht mehr über die Sache geredet, sondern die Sache selbst sich ereignen lassen. Es ging um die Geschichte von Maria und Martha (Lk 10,38-42). Die Studentin hat zwar auch erklärt bzw. informiert: Die Wiederholung des Namens sei im Judentum zur Zeit Jesu ein Zeichen besonderer Vertrautheit gewesen. Aber die Predigerin hat es nicht dabei belassen. Sie hat es sinnenfällig gemacht, hat es uns miterleben las­sen: nicht „Martha, Martha“ (mit erhobenem Zeigefinger), sondern „Martha, Mar­tha“ (mit Liebe und Zuneigung in der Stimme). Die Predigerin hat nicht über das Wiederholen von Namen geredet, sondern sie hat den Namen „Martha“ wiederholt. Da entstand im Vollzug der Kanzelrede eine eindrucksvolle Szene, eine kleine In­szenierung, ein, wenn man so will, Stück Film oder Theater. Genau diese kleine Szene war dann im Nachgespräch ein Punkt der Predigt, der bei vielen Hörerinnen und Hörern als besonders eindrücklich im Gedächtnis haften geblieben ist. So ein­drucksvoll kann das sein und so einfach: to make things happen. Und so einfach könnte es in der Praxis sein, den konzeptionellen Wechsel einzuleiten von der Pre­digt als Vorlesung zur PredigtKunst.

Praktische Theologie 35 (2000), S. 19-24.


[1] G. Köpf, In den Schuhen des Fischers. Der Prediger, der uns die Leviten liest. Eine Einführung in die geistliche Rhetorik des Schriftstellers Martin Walser: Wochenendbeilage der SZ vom 10./11.10.98.

[2] Zur hermeneutischen Problematik vgl. M. Nicol, Musikalische Hermeneutik. Hinweis auf das Ereignis in der Schriftauslegung: PTh 80 (1991) 230-238; ders., Im Ereignis den Text entdecken. Überlegungen zur Homiletischen Schriftauslegung, in: Einfach von Gott reden, FS Friedrich Mildenberger, hg. v. J. Roloff u. H. G. Ul­rich, Stuttgart u. a. 1994, S. 268-281.

[3] M. Walser, Die Banalität des Guten. Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntags­rede. Rede anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels am 11.10.98 in Frankfurt/M.: SZ vom 12.10.98.

[4] Vgl. M. Nicol, Preaching from Within. Homiletische Positionslichter aus Nord­amerika: PTh 86 (1997) 295-309; ders., Homiletik. Positionsbestimmung in den neunziger Jahren: ThLZ 123 (1998) 1049-1066.

[5] Als initiales Werk ist zu nennen: F. B. Craddock, As One Without Authority (1971), Nashville 19793.

[6] D. Buttrick, Homiletic. Moves and Structures, Philadelphia 1987.

[7] Vgl. E. L. Lowry, The Sermon. Dancing the Edge of Mystery, Nashville 1997.

[8] Vgl. M. Graves, The Sermon as Symphony. Preaching the Literary Forms of the New Testament, Valley Forge 1997.

[9] D. Stollberg, Praktische Theologie und Studienreform: DtPfrB 198 (1998) 405-407.

[10] G. M. Martin, Predigt als „offenes Kunstwerk“? Zum Dialog zwischen Homiletik und Rezeptionsästhetik: EvTh 44 (1984) 46-58.

[11] W. Brueggemann, Finally Comes the Poet. Daring Speech for Proclamation, Min­neapolis 1989.

[12] B. Reymond, Le predicateur, „virtuose“ de la religion: Schleiermacher aurait-il vu juste?, in: ETR 72 (1997) 163-173. Vgl. insgesamt zur neueren frankophonen Homiletik Μ. Nicol, In den Spuren von Alexandre Vinet. Neue Wege der französischsprachigen Homiletik: IJPT 2 (1998) 196-207.

[13] B. Reymond, De vive voix. Oraliture et prédication. Genève 1998.

[14] Vgl. T. G. Long, Preaching and the Literary Forms of the Bible, Philadelphia 1989.

[15] Vgl. U. Giersch, Der gemessene Schritt als Sinn des Körpers: Gehkünste und Kunstgänge, in: Das Schwinden der Sinne, hg. v. D. Kamper u. C. Wulf, Frankfurt/M. 1984, S. 261-275.

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