Martin Brecht über Johannes Brenz: „Sein Grab unter der Kanzel der Stuttgarter Stiftskirche hat Brenz selbst ausgesucht, »damit, wenn etwa jemand nach der Zeit von dieser Kanzel eine Lehre verkündigen sollte, entgegengesetzt der, welche ich meinen Zuhörern vorgetragen, ich mein Haupt aus dem Grab erheben und ihm zurufen kann: Du lügst«.“

Johannes Brenz (1499-1570)

Von Martin Brecht

Nach dem Beschluß des Nürnberger Reichstags von 1524 sollte im Herbst 1524 auf einem Nationalkonzil in Speyer die Religionsfrage beraten werden. Für dieses Konzil, das vom Kaiser jedoch dann verboten wurde, bereiteten eine Reihe reformatorischer Theologen bekenntnisartige Gutachten vor. In der Vor­rede zu seiner Stellungnahme hat Johannes Brenz die beiden Determinanten seines Denkens und Handelns eindrucksvoll angegeben: 1. Es ist das Wort Gottes, durch das die Welt erschaffen und erhalten wird. Durch dasselbe Wort wird der gefallene Mensch erlöst. In ihm hat er die Richtschnur für sein Leben. Dieses Wort ist in Christus Mensch geworden und in seinem Auftrag aller Welt zu verkündigen. 2. Wie das Wort ist auch die politische Obrigkeit eine gottgestiftete Ordnung, um den Frieden in der Welt aufrecht zu erhalten. Dies geschieht am besten dadurch, daß sich die Obrigkeit an Gottes Wort orientiert und es fördert. Die Durchsetzung der reinen Verkündigung des Wortes Gottes im Bund mit der gottgestifteten Obrigkeit, das war, auf eine kurze Formel gebracht, das Programm von Johannes Brenz.

Die Ursache, warum sich Brenz so stark an dem politischen Ordnungsfaktor der Obrigkeit orientierte, wird man in seiner Herkunft suchen müssen. Brenz wurde am 24. Juni 1499 in der kleinen Reichsstadt Weil, der Stadt westlich von Stutt­gart, als Sohn des Schultheißen und Richters Martin Heß, genannt Prentz, geboren. An sich würde man erwarten, daß Brenz ursprünglich das Modell einer oligarchischen Ratsherrschaft favorisierte. Interessanterweise betonte er aber schon in seinen ganz frühen politischen Äußerungen die Einzelverantwortung des Stättmeisters, u. U. sogar gegenüber einer Ratsmajorität, oder des Fürsten in einem Gemeinwesen. Eine solche Einstellung mußte Brenz zum idealen Partner der städtischen oder fürstlichen Führer der Reformation machen.

1514 bezog Brenz die Universität Heidelberg. Die herkömmliche Scholastik interessierte ihn wenig. Wie nicht wenige der jungen Heidelberger Gelehrten und Studenten öffnete er sich den Einflüssen des Humanismus, lernte bei Johannes Oekolampad Griechisch und gab diese Kenntnisse seinerseits weiter an Martin Bucer. Das entscheidende Ereignis seiner Studienzeit war wie bei Bucer jene Disputation am 26. April 1518, die aus Anlaß des Ordenskapitels der strengen Richtung der sächsischen Augustinereremiten abgehalten und auf der unter dem Vorsitz von Martin Luther über eine Reihe von ihm aufgesetzter Thesen disputiert wurde. Darin verwarf Luther unter radikaler Kritik der scholastischen Theologie die Fähigkeit des Menschen, bei der Beschaffung seines Heils mitzuwirken, hob die allem menschlichen Denken entgegengesetzte Handlungsweise Gottes im Kreuz hervor, entwickelte kurz seine neu entdeckte Gnaden- und Glaubenserkenntnis. In einer zweiten Thesengruppe kritisierte er die herrschende Aristotelesphilosophie und deutete eine gewisse Vorliebe für das Denken Platos an. Es ist unbekannt, wie die Disputation auf Brenz im einzelnen gewirkt hat. Jahre später jedoch begegnet bei ihm, wenn auch nicht in derselben Tiefe durchdacht, Luthers Kreuzestheologie in seinem Hiobkommentar von 1527. Auch Brenzens Vorstellungen von Überräumlichkeit und Überzeitlichkeit Gottes könnten damals Impulse erfahren haben. Die wichtigste äußere Folge der Heidelberger Disputation bestand darin, daß Luther damals eine Gruppe hoch­begabter junger Theologen für sich gewann, die wenig später im südwestdeutschen Raum seine Vorstellungen in Wort und Tat vertraten: Erhard Schnepf, später Reformator in Wimpfen, Hessen, Württemberg und Jena, Martin Frecht, später Reformator in Ulm, Theobald Gerlacher, zeitweise Reformator in Nörd­lingen. Am wichtigsten aber wurden Martin Bucer und Brenz. Brenz kann man als den treuesten Schüler Luthers in Südwestdeutschland bezeichnen. Er hat oft und auf vielen Gebieten die Anregungen Luthers aufgenommen, war dann in der Lage, sie selbständig zu verarbeiten und fortzuentwickeln. Beide verdankten so einander gegenseitig viel. Nach Luthers Tod 1546 hat Brenz in der Vorrede seines Galaterbriefkommentars einmal umrissen, worin für ihn die umfassende Wir­kung Luthers bestand. Indirekt werden dabei auch die Kirche, Sakramente, Bildung, Schriftauslegung, Politik und Oekonomie umfassenden Dimensionen von Brenzens eigenem reformatorischen Wollen sichtbar:

»Es ist der christlichen Kirche bekannt, daß Gott den verehrten Vater Dr. Martin Luther erweckt hat, daß er die Lehre von der Rechtfertigung wiederhergestellt und von der gottlosen Entstellung der Papisten, Mönche und Scholastiker gereinigt hat. Ich wollte hier öffentlich bezeugen, daß ich diesen Mann als Gottes Werkzeug anerkenne und zugleich als meinen Lehrer und an seiner Lehre festhalte. Ich danke Gott, dem Vater unseres Herrn Jesus Christus, daß er in diesen unseren so überaus schweren Zeiten einen solchen Helden gegeben hat, durch den die rechte Lehre, die in dunkelster Finsternis verborgen und versteckt war, wieder ans Licht gebracht worden ist.

Denn ich will sagen, wie es sich tatsächlich verhält: In welchen Lebensbereich ich auch blicke, man stößt überall auf Wohltaten, die Gott uns in seiner Milde durch diesen Mann zukommen ließ. In der Kirche wird nach Abschaffung der gottlosen Opfer Gesetz und Evangelium, d. h. die gesamte zum Heil notwendige Lehre, recht ausgelegt. Die Sakramente werden dem Willen Gottes gemäß recht verwal­tet. Gottes Name wird angerufen, die Psalmen werden sinnvoll gesungen. Daß dem so ist, das ist Wohltat Gottes, uns durch Luther erwiesen gegen den Willen aller Papisten und Mönche. In der Universität sind die unreinen und gottlosen Spekulationen der spitzfindigen Lehrer abgeschafft. Die heilige Schrift, auf deren rechte Erkenntnis in unserem Studium alles ankommt, wird rein und lauter dargeboten. Das verdanken wir Gott durch den Dienst unseres Lehrers Luther. Wenn in der Politik mit gutem Gewissen die Gesetze durchgeführt werden und das Schwert gebraucht wird, so hängt das zusammen mit Luthers Lehre vom politischen Amt. Wieviel Wirrnis würde auch im Bereich von Beruf, Haus und Wirtschaft herrschen, was Ehe, Ackerbau, Handel und anderes anbetrifft, wären wir nicht belehrt durch Luther, den treuen Knecht Christi. Wohin wir blicken im öffentlichen oder privaten Bereich, überall begegnen uns die Gaben, mit denen uns der Sohn Gottes durch Luther bedacht hat.«

Im September 1522 wurde Brenz vom Rat der Reichsstadt Schwäbisch Hall zum Prediger an der dortigen Michaelskirche bestellt. Er war damit zwar nominell nicht der erste Geistliche der Stadt, setzte sich aber sofort als Führer der Haller Reformation durch. Bis zu seiner Vertreibung infolge des Interims (1548) war Brenz nicht mehr als der »Prediger von Schwäbisch Hall« und beanspruchte gar nicht mehr zu sein, entsprach doch die Verkündigung des Wortes dem elementa­ren Willen Gottes. An den Sonntagen hatte der Prediger die Evangelien und Epistelperikopen zu behandeln, unter der Woche legte er kontinuierlich einzelne biblische Bücher aus. Dazu kamen in der Fastenzeit Katechismuspredigten oder angesichts der Türkengefahr 1529 der Zyklus der Türkenpredigten. Gegebenen­falls hielt Brenz auch Themapredigten, wie z. B. in der akuten Gefahr des Bauernkriegs oder beim kläglichen Verzicht der Stadt Hall auf den Beitritt zur Speyrer Protestation. Die Kirchenordnung wurde mit Predigten eingeführt und den Eltern ihre Pflicht, die Kinder zur Schule zu schicken, von der Kanzel her eingeschärft. In Krankheitszeiten wurde die Gemeinde über die Kunst, mit Tod und Anfechtungen fertig zu werden, informiert. Die 1524 durchgesetzte Refor­mation in Hall wurde schon 1523 vorbereitet durch die wuchtige Predigt über den Heiligendienst: »Wir brauchen keine Kanzler vor Gott als Christus.« Ebenso wurde das neue Verständnis von der Kirche und ihren Amtsträgern vorgetragen: Kirche ist die Gemeinschaft der Glaubenden, die Priester sind ihre Diener. Brenz hat außerordentlich hoch von der Predigt gedacht. Predigt ist nicht weniger als die Mitteilung der Vergebung der Sünden.

Fast ausschließlich aus seinen Predigten ist das große exegetische Werk von Brenz erwachsen, von dem die zum Teil sogar mehrmaligen Auslegungen von 30 biblischen Büchern erhalten geblieben sind. Sie boten gediegene, verständli­che Schriftauslegung, verbunden mit aktuellen, praktischen Bezügen und waren darum hochgeschätzt. Selbst Luther äußerte sich über sie in großem Respekt und kritisierte nur Brenzens gelegentlich komplizierte theologische Exkurse. Die Predigten und Schriftauslegungen machen den Großteil der über 500 Brenzdrucke aus, die bis zu seinem Tod erschienen sind. Neben Luther, Melanchthon und Calvin ist Brenz so zu einem der großen Exegeten der Reformationszeit gewor­den, den noch die Orthodoxen des 17. und die Pietisten des 18. Jahrhunderts gleichermaßen geschätzt haben. Die wenigen deutschen Predigten, die erhalten sind, verraten eine beachtliche Beherrschung der deutschen Sprache, die der Luthers nur wenig nachsteht, und mit ihm die plastische Ausdruckskraft und die Verfügung über das schlagende Sprichwort gemeinsam hat. Die Verständlichkeit als Grundvoraussetzung der Kommunikationsfähigkeit dürfte überhaupt eines der Geheimnisse der Wirksamkeit des Reformators Brenz auf vielen Gebieten gewesen sein.

Der Mensch Brenz tritt fast ganz hinter seiner beruflichen Wirksamkeit zurück, ohne daß das verkrampft wirkt. Über seine beiden Ehen mit Haller Bürgertöch­tern – die erste Frau, die er 1530 geheiratet hatte, starb 1548, während Brenz im Exil war – und das Verhältnis zu seinen zahlreichen Kindern erfährt man wenig. Die Stationen des Lebens von Brenz müssen entlang den Herausforderungen und Aufgaben beschrieben werden, die an ihn herantraten.

Die Reformation vollzog sich bekanntlich nicht in ruhiger Entwicklung. Das gestattete schon der andauernde Gegensatz zur hergebrachten Kirche nicht, gegenüber der man sich ständig verteidigen, rechtfertigen und kritisch absetzen mußte. Diese Auseinandersetzung blieb für Brenz lebenslang beherrschend. Nicht genug damit brachen innerhalb des reformatorischen Lagers schwere Krisen auf, die gemeistert sein wollten. Eine solche stellte der Bauernkrieg vom Frühjahr 1525 dar, in dem sich die soziale Unruhe mit der Reformation verband und die Unterstützung der Reformatoren erwartete. Brenz war von den Bauern als einer der Richter über ihre Sache benannt. Der Aufstand fand auch in Franken Anhänger, und selbst in der Haller Herrschaft gärte es. Die Parteinahme von Brenz konnte kaum fraglich sein: Die Schrift gebietet den Gehorsam gegen die Obrigkeit, selbst wenn diese übel regiert. Auf Bitten des Kurfürsten Ludwig von der Pfalz erstattete Brenz ein umfängliches Gutachten über die Zwölf Artikel der Bauern. Brenz lehnte den Aufruhr im Namen des Evangeliums klar ab. Das Evangelium gestattet das gewalttätige, eigennützige Durchsetzen irdischer Ziele nicht. Freilich, Brenz sparte auch nicht mit Kritik an der Obrigkeit. Ihrer Mißherrschaft gab er die Schuld am Aufruhr und maß ihr Verhalten kritisch am Maßstab des biblischen Worts. Was Brenz wollte, war eine gerecht und billig handelnde Obrigkeit, über die die Untertanen sich nicht beschweren konnten, nicht jedoch eine Umverteilung der Macht. So sollte z. B. auch der Landesherr, nicht etwa die Gemeinde, für rechte Prediger sorgen. Das patriarchalische Ideal in Brenzens politischem Denken ist unverkennbar. Die Bauern verloren den Krieg und das große Strafgericht begann. Die Kosten des Kriegs sollten auf die Bauern allein abgewälzt werden. Da erhob Brenz in mehreren Gutachten und Schriften erneut seine Stimme und trat der überscharfen Bestrafung der Bauern mit der Forderung nach »Milderung« entgegen, wobei er sich nicht scheute, sich auch von Luthers Schärfe zu distanzieren. Die Mitschuld der Obrigkeit am Konflikt und nicht zuletzt die Vernunft ließen ein mildes Verfahren angebracht erscheinen. Sein politischer Patriarchalismus machte Brenz nicht unkritisch oder gar servil gegenüber der Obrigkeit. Er beharrte als Prediger auf seiner Pflicht und seinem Recht zur Kritik an der Obrigkeit, auch als ihm bedeutet wurde, er taste damit deren Stellung an. Der Prediger in der Rolle des Wächters und Propheten wußte sich seinerseits in seinem Amt unabhängig von der politischen Instanz. Weil er es vermochte, dieser Rolle angemessen und mit Geschick gerecht zu werden, konnte Brenz der eigenständige und geschätzte Partner und Ratgeber der Politiker und Fürsten sein.

Seine Auffassung von dem gottgebotenen Gehorsam gegenüber der Obrigkeit hielt Brenz übrigens auch da durch, wo es nicht ohne weiteres opportun scheinen mochte. 1529 wurde die Frage eines protestantischen Bündnisses gegen den Kaiser akut. Landgraf Philipp von Hessen hielt die Verteidigung des Glaubens der Untertanen für eine Aufgabe des Landesherrn; Luther stimmte dem Verteidi­gungsbündnis schließlich zu; Brenz und Lazarus Spengler aus Nürnberg jedoch beriefen sich nach wie vor auf den gegenüber dem Kaiser gebotenen Obrigkeits­gehor­sam, der auch durch die Beeinträchtigung der Religion von Seiten des Kaisers nicht aufgehoben werde.

Schon seit Ende 1524 hatte sich der Streit über das Abendmahl zwischen Luther einerseits und Karlstadt, Zwingli und Oekolampad andererseits zugespitzt. Einer der wichtigsten Kriegs­schauplätze war dabei Südwestdeutschland, wo Karlstadt und die Schweizer für ihre Auffassung Propaganda machten. Die Vorbedingungen schienen für sie dort besonders günstig. Die oberdeutschen Theologen waren eigentlich durchweg durch den Humanismus geprägt. Der aber neigte zu einem spiritualistischen Verständnis des Abendmahls, weil es ihm schwer fiel, das Eingehen Gottes in die irdischen Elemente von Brot und Wein zu denken. Alle Probleme mit dem Abendmahl schienen sich zu lösen, wenn man die Einsetzungsworte lediglich symbolisch, zeichenhaft, verstand. Umgekehrt lag aber Luther alles an der wirklichen Gegenwart von Leib und Blut Christi, weil auf sie der angefochtene Glaube angewiesen war. Im September 1525 veröffentlichte Oekolampad in seiner Auseinandersetzung mit den Altgläubigen eine lateinische Schrift über die wahre Auslegung der Einsetzungsworte, die er mit den Zeugnissen der Kirchenväter unterbaute. Er widmete sie »den Predigern in Schwaben«. Gemeint waren damit vor allem die reformatorischen Pfarrer am Nordrand von Württemberg, die Oekolampad fast alle von seinem Studium in Heidelberg her kannte. Unter diesen Pfarrern regten sich jedoch Zweifel an der Richtigkeit von Oekolampads Ansichten, und so trafen sie sich bei Brenz in Hall, dem führenden Kopf dieser Gruppe. Als Gegenschrift gegen Oekolampad wurde das sog. Syngramma Suevicum, die Schrift der Schwaben, abgefaßt. Sie teilte ein Stück weit die Auffassung Oekolampads. Dennoch lehnte sie aus grundsätzlichen Bedenken in bezug auf die Schriftauslegung das symbolische Abendmahlsverständnis ab. Wenn man nämlich die Schrift beliebig symbolisch auslegen durfte, war eigentlich nichts mehr sicher, konnte sich selbst die Sünde oder die Menschwerdung Christi zum bloßen Symbol verflüchtigen. »Weil es das Schriftwort so sagt«, muß im Abendmahl die wirkliche Gegenwart von Leib und Blut Christi angenommen werden. Das war eine Parteinahme für Luther und zugleich die Absage an die einstigen Freunde und Gesinnungsgenossen. Der Ausbreitung der Schweizer Abendmahlslehre in Südwestdeutschland wurde so ein Riegel vorgeschoben. Alsbald versuchten die Straßburger Theologen mit Martin Bucer an ihrer Spitze, die selbst mit der Meinung der Schweizer sympa­thisierten, brieflich zu vermitteln. Aber auch ihnen gegenüber insistierte Brenz hartnäckig darauf, daß im Abendmahl Leib und Blut Christi gegeben werde. Der Versuch eines Verständigungsgesprächs scheiterte zunächst. Die große Bedeu­tung von Brenzens früher Stellungnahme im Abendmahlsstreit liegt darin, daß Südwestdeutschland dadurch zunächst nicht einfach der Richtung Zwinglis zufiel. Das war die Voraussetzung dafür, daß sich in diesem Raum später erst einmal das Luthertum durchsetzen konnte. Mit dem Syngramma hatte sich Brenz als Experte in der Abendmahlsfrage ausgewiesen. Deshalb sorgte Mark­graf Georg von Brandenburg-Ansbach dafür, daß Brenz beim Marburger Reli­gionsgespräch im Oktober 1529 zwischen Luther und Melanchthon einerseits und Zwingli und Oekolampad andererseits als Parteigänger Luthers mit zugezo­gen wurde. Eine Einigung der beiden Seiten über das Abendmahl kam bekannt­lich nicht zustande. Brenz widmete sich besonders seinem einstigen Lehrer Oekolampad, gleichfalls ohne Erfolg. Die von Luther zuletzt angebotene Aus­gleichsformel ging den Schweizern nicht weit genug. Sie bildete dann jedoch die Basis für die erste geglückte Abendmahlskonkordie, zu der es 1534 aus Anlaß der Einführung der Reformation in Württemberg kam.

Im Streit um das Abendmahl hatte sich die Theologie nach 1525 ständig weiter entwickelt. Luther und seine Anhänger mußten erklären, wie Christus mit seinem Leib und Blut, also nach seiner Menschheit, im Abendmahl gegenwärtig sein könne. Luther und in seinem Gefolge Brenz haben deshalb die Christologie bedeutsam fortentwickelt. Christus thront nach seiner Menschheit nicht im Himmel, sondern weil Gottheit und Menschheit in der Person Christi nicht zu scheiden sind, vielmehr eine Einheit bilden, hat auch die Menschheit Christi Anteil an Gottes Allmacht, Allgegenwart. Es war nicht spitzfindige Theologen­spekulation, die diese Gedanken hervortrieb, sondern das tiefe Interesse an der Gegenwart des Heils. »Wo Gott ist, da ist auch der Mensch.« Als Melanchthon nach Luthers Tod immer deutlicher von dessen Auffassungen abrückte, wurde Brenz zu einem der Verteidiger von Luthers Erbe. Er legte 1559 im Stuttgarter Abendmahlsbekenntnis die württembergischen Pfarrer auf Luthers Christologie fest. Darüber kam es zum Bruch mit Calvin und dessen Anhängern in der Kurpfalz sowie zu neuen Streitigkeiten mit den Zürcher Reformatoren, in denen die großen christologischen Spätschriften »Uber die persönliche Vereinigung der beiden Naturen in Christus« und »Von der Majestät unseres Herrn Jesus Christus« entstanden. Um der Wahrheit von Glaubensaussagen willen, die für Brenz zentral waren, nahm er die Scheidung vom schweizerischen und westeuro­päischen Protestantismus selbst entgegen der politischen Opportunität in Kauf. Dem gewagten Denken von Brenz, das sichtlich auch nicht alle Probleme bewältigte, sind auch die Lutheraner nur vorsichtig gefolgt. Dennoch bleibt sein Versuch, die Teilgabe der Gottheit an die Menschheit zu artikulieren, eindrucks­voll.

Noch in den 20er Jahren wurde Brenz, dessen theologische und menschliche Qualitäten mehr und mehr auch über Hall hinaus geschätzt wurden, durch Anfragen von Nürnberg und Brandenburg-Ansbach auch mit dem Problem des Täufertums und des Spiritualismus konfrontiert. Für ihn war es keine Frage, daß Gott mit uns durch die äußeren Mittel des Worts und der Sakramente handelt. Eine befriedigende Erklärung der Kindertaufe, die doch als Sakrament den Glauben als Empfänger voraussetzt, fiel freilich auch ihm schwer. Wie aber sollte man mit den Täufern verfahren, die nicht nur die Kindertaufe, sondern auch den Eid, den Kriegsdienst und die Übernahme politischer Ämter ablehnten? Anfang 1528 forderte ein kaiserliches Gesetz für sie die Todesstrafe. Wie für Luther stand es aber auch für Brenz eigentlich fest, daß man dem Glaubensirrtum nur geistlich und nicht mit dem Schwert des Henkers begegnen konnte. Damit hätte sich Brenz aber gegen ein Gesetz der Obrigkeit stellen müssen. In seinem Gutachten »Ob ein weltliche Obrigkeit mit göttlichem oder billichem Recht möge die Wiedertäufer durch Feuer oder Schwert vom Leben zu dem Tod richten lassen« lehnte Brenz dennoch die Todesstrafe für die Täufer ab. Allenfalls sollten sie des Landes verwiesen werden, weil sie sich selbst außerhalb der bürgerlichen Gesell­schaft gestellt hatten. Bei dieser Auffassung ist Brenz im wesentlichen geblieben, und so wurde er zu einer der Autoritäten, auf die sich Sebastian Casteilio, der frühe Verfechter der Toleranz, in seiner bahnbrechenden Schrift »Ob man die Haeretiker verfolgen soll?« von 1554 berufen hat. Eine Duldung mehrerer Glaubensrichtungen im selben Land nebeneinander konnte sich Brenz freilich nicht vorstellen und lehnte sie ab.

In seinem Denken begegnen jedoch noch einige andere »humane« Züge. So hielt Brenz nichts vom Hexen- und Dämonenglauben, da alles, was geschieht, von Gott gewirkt ist. Ferner engagierte sich Brenz vor allem in den ersten Haller Jahren für eine milde Praxis des Strafrechts und scheute sich nicht, gegen die Juristen zu laufenden Strafprozessen Stellung zu nehmen. Eine Straftat mußte dem Delinquenten einwandfrei nachgewiesen sein. Das Gericht hatte auf die Glaubwürdigkeit der Belastungszeugen besonders zu achten. Gegen die Folter als Mittel zur Gewinnung von Geständnissen hatte Brenz Bedenken. In einem Prozeß wegen Gotteslästerung plädierte er auf Unzurechnungsfähigkeit. Sofern bei Eigentumsdelikten mit einer milden Strafe der Abschreckungszweck erreich­bar war, sollte von den harten Leibes- oder gar von der Todesstrafe abgesehen werden. Solche Vorstellungen finden sich gelegentlich auch bei den vom Huma­nismus geprägten Juristen jener Zeit. Unter den Theologen ist Brenz aber einer der wenigen, die sich so auf diese Problematik eingelassen haben. Auch zu Fragen des Wirtschaftsrechts, wie etwa des gerechten Zinses, hat Brenz Stellung genommen. Hemmungsloses Profitstreben, z. B. durch Getreidespekulation nach Mißernten, wurde von ihm scharf verurteilt.

Neben der Predigt und der theologischen Auseinandersetzung wurde der füh­rende Haller Theologe alsbald vor die riesige Aufgabe der Neuordnung der Kirche gestellt. Aufgrund dieser Herausforderung wurde Brenz neben dem in Norddeutschland tätigen Johannes Bugenhagen zu einem der bedeutendsten Architekten der lutherischen Kirche. Die erste Gottesdienstordnung, nämlich die der Frühmesse, entstand 1526 und folgte Luthers Formular von 1523. Anfang 1527 legte Brenz dann dem Rat den umfassenden Entwurf zu einer Kirchenord­nung vor, die sog. »Reformacion der Kirchen zu Schwäbischen Hall«, die außer dem Gottesdienst auch das Schulwesen und die Kirchenzucht neu regeln sollte, aber zunächst nur in ihren gottesdienstlichen Passagen in Kraft gesetzt wurde. Brenz hatte die Einrichtung eines besonderen Sittengerichts gefordert, das an die Stelle des früheren bischöflichen Sendgerichts treten und gegen unchristlich lebende Gemeindeglieder vorgehen sollte. Eine solche Institution einer selbstän­digen kirchlichen Gerichtsbarkeit wollte aber die städtische Obrigkeit auf keinen Fall mehr zulassen. Sie nahm die Sittenzucht in eigene Hände und übte sie durch städtische Mandate aus, wobei freilich Polizei- und Kirchenzuchtmaßnahmen nicht mehr unterscheidbar waren. Überdies wurde die städtische Sittenzucht so lax gehandhabt, daß die Theologen vom kirchlichen Standpunkt her damit nicht einverstanden sein konnten. Ohne tatsächliche Abstellung der Laster konnte es etwa keine wirkliche Buße in der Stadt geben. Was sich hier auftat, war eine tiefe Interessendifferenz von städtischer und kirchlicher Gemeinde, wie sie in jener Zeit in vielen Gemeinwesen begegnet. Brenz hat in Hall hartnäckig, aber vergebens, um die eigenständige Kirchenzucht gekämpft. Zusammen mit den Nürnberger Theologen vertrat er von 1531 an die gleichen Interessen bei der Abfassung der Brandenburgisch-Nürnbergischen Kirchenordnung, auch dies­mal ohne Erfolg. Später in Württemberg war für die Kirchenzucht zwar der Kirchenrat in Stuttgart zuständig. Das war aber eine Lösung, die sowohl Pfarrer als auch Gemeinden von der Handhabung der Kirchenzucht nahezu ganz ausschloß und die nicht richtig funktionieren konnte. Der alte Brenz rechtfertig­te jedoch ausdrücklich diese Lösung, daß der »Bindeschlüssel« in der Kirche faktisch der staatskirchlichen Führung zustand. Die kirchenkritischen Theolo­gen des 17. Jahrhunderts haben dies mit einigem Recht als »Cäsaropapie«, d. h. als Usurpation kirchlicher Vollmachten durch den Staat, bezeichnet. Der »De­terminante Obrigkeit« hat Brenz hier einen gefährlich starken Einfluß auf das Kirchenwesen eingeräumt.

Ähnliche Tendenzen machen sich noch an anderer Stelle bemerkbar. 1534 wurde im Herzogtum Württemberg die Reformation eingeführt. Beim Aufbau der neuen Kirche bediente man sich auch des Rates von Brenz. Von ihm kam der Vorschlag, daß nach einem in Sachsen und Brandenburg-Ansbach erprobten Modell die Reformation in den Ämtern und Gemeinden durch eine Visita­tionskommission aus Theologen und herzoglichen Räten eingeführt werden sollte. Damals war eigentlich noch weithin offen, wer anstelle der Bischöfe nunmehr die Kirchenleitung ausüben sollte. In Württemberg kam es zu einer Entwicklung, die offenbar weithin den Vorstellungen von Brenz entsprach. Aus der Visitation entstand eine feste eigene Ratsbehörde in der herzoglichen Residenz, der sog. Kirchenrat. Er verwaltete das kirchliche Vermögen, regelte die Besetzung der Pfarrstellen und traf aufgrund der ständig und intensiv ausgeübten Visitation die notwendigen Entscheidungen, sowohl die einzelnen Gemeinden wie auch die Kirche insgesamt betreffend. Man erkennt hier un­schwer Brenzens ursprüngliche Konzeption von der patriarchalisch und zen­tralistisch von oben her zu leitenden Kirche, die der Einzelgemeinde kaum ein Mitspracherecht verstattete und den Pfarrer weithin zum Befehlsempfänger machte. Auf diese Weise war die Ordnung in der Kirche gewährleistet, freilich zu einem hohen Preis. Daß der die Kirche leitende Kirchenrat eine neben den anderen herzoglichen Spitzenbehörden war und seinerseits dem obersten Re­gierungsgremium des Geheimen Rats unterstellt war, störte Brenz nicht. In der Tat drohte hier so lange keine wirkliche Gefahr, als die Theologen selb­ständig ihre Sache gegenüber den Räten, Juristen und dem Landesherrn zu vertreten wußten. Zu Brenzens Lebzeiten, der selbst seit 1553 als Propst an der Stuttgarter Stiftskirche der führende Theologe des Herzogtums war, erga­ben sich hier auch keine Probleme, obwohl die Bevormundung der Kirche durch den Staat in diesem System angelegt war. Wo es nämlich, wie in den Anfängen, optimal praktiziert wurde, hatte das staatskirchliche System auch seine unübersehbaren Vorzüge. Brenz ist es in Hall, sodann gegenüber Mark­graf Georg von Brandenburg-Ansbach und schließlich vor allem gegenüber Herzog Christoph von Württemberg in einzigartiger Weise gelungen, die christliche Obrigkeit bei ihrer Verantwortung für die Kirche zu behaften. Seine starke Urteilskraft, seine Kommunikationsfähigkeit, seine Umgänglich­keit, sein praktisches Augenmaß, seine seelsorgerliche Begabung und seine überzeugende theologische Kompetenz kamen ihm hier außerordentlich zu­statten und machten ihn zum hochgeschätzten Ratgeber, der z. B. bei Herzog Christoph das Recht des ständigen Immediatzutrittes hatte. Obwohl Brenz seinen Standpunkt fest vertreten konnte, kam es darüber eigentlich kaum einmal zu nennenswerten menschlichen Spannungen. Unter Herzog Chri­stoph und Brenz gemeinsam ist von 1553 bis 1559 die bedeutende kirchen­rechtliche Leistung der Großen Württembergischen Kirchenordnung entstan­den, die das Herzogtum Württemberg zu einer der bestgeordneten lutheri­schen Kirchen machte, deren ausgereiftes Organisationsmodell teilweise oder ganz u. a. in Kurpfalz, Baden und Kursachsen übernommen wurde. Unter den Bedingungen des landesherrlichen Kirchenregiments konnte das württembergische Kirchenverfassungssystem trotz seiner Schwachpunkte in vieler Hin­sicht als eine optimale Lösung gelten.

Abgesehen von der Problematik der Kirchenzucht und der Regelung der Kir­chenleitung sind einige Leistungen aus Brenzens Kirchenordnungstätigkeit be­sonders hervorzuheben. Dazu gehört die jahrzehntelange Bemühung um die Einübung und Einwurzelung einer neuen evangelischen Frömmigkeitssitte mit­tels der Predigten, ein schwieriges Geschäft, nachdem die alte Frömmigkeitspra­xis zunächst einmal weggerutscht war. Brenz hat sich z. B. auch als kreativer Liturgiker verdient gemacht. Von ihm wurde aus spätmittelalterlichen Vorlagen das große »Allgemeine Kirchengebet« mit seinen konkreten Fürbitten geschaf­fen, das vor allem durch die Brandenburgisch-Nürnbergische Kirchenordnung weite Verbreitung gefunden hat. Der konservativen Grundhaltung von Brenz entsprach es, daß er wie Luther für die Beibehaltung der nicht ärgerlichen Bilder in den Kirchen eintrat und sich auch hier in Gegensatz zu den Ansichten der Schweizer Reformation setzte. Schon früh mußte Brenz zu Fragen des Eherechts Stellung nehmen, das bisher eine Domäne der Kirche gewesen war und sofort nach der Reformation einer neuen Regelung bedurfte. Seine Auffassungen zum Eherecht faßte Brenz 1529 in einem großen Gutachten für Markgraf Georg zusammen. Nach wie vor handelte es sich beim Eherecht um einen Bereich, für den sowohl der Staat als auch die Kirche zuständig waren, obwohl Brenz die Regelungen für die Ehe als »weltlich Ding« weithin dem römischen Recht zu entnehmen suchte. Patriarchalisch war die Auffassung, daß zur Ehe die Einwilli­gung der Eltern eigentlich notwendig ist. Bezüglich der ehehindernden Ver­wandtschaftsgrade waren die Reformatoren weit großzügiger als das bisherige Kirchenrecht. Im Fall von Ehebruch wurde die Ehescheidung einschließlich des Rechts der Wiederverheiratung des unschuldigen Teils bejaht. Brenz wollte u. U. sogar dem schuldigen Teil eine staatlich, wenn auch nicht kirchlich sanktionierte neue Verbindung gestatten, nachdem ihm an dieser Stelle die Differenz von kirchlichen und politischen Rechtsnotwendigkeiten bewußt ge­worden war.

Besondere Verdienste hat sich Brenz auf dem Gebiet des Schulwesens und der christlichen Unterweisung erworben. Die Reformation führte auch in Schwä­bisch Hall zu einer Erneuerung der städtischen Schule. Brenz versuchte die Eltern dafür zu gewinnen, ihre Kinder nicht vorzeitig als billige Arbeitskräfte zu verwenden, sondern ihnen eine Schulbildung angedeihen zu lassen. Die Große Württembergische Kirchenordnung sah dann als eine der ersten in Deutschland die allgemeine Schulpflicht vor, durch die schon sehr früh die Lese- und Schreibfähigkeit in der Breite der Bevölkerung erreicht wurde. Brenz war es auch, der für Brandenburg-Ansbach 1529 den Vorschlag Luthers in die Tat umzusetzen suchte, die Klöster in höhere Schulen zu verwandeln. Mit großem Erfolg ist dies dann in Württemberg gelungen, wo die großen Klöster zu Klosterschulen gemacht wurden, in denen die begabtesten Schüler des Landes vor allem auf das Theologiestudium vorbereitet wurden. Mit seinen Fürsten­schulen hat Sachsen dieses Modell übernommen. In ähnlicher Weise durfte der theologische Nachwuchs auf Landeskosten im Herzoglichen Stipendium in Tübingen studieren. Damit war in Württemberg auf Jahrhunderte das Problem des theologischen Nachwuchses und seiner gediegenen Ausbildung gelöst. Die Stärke der württembergischen Kirche in der Folgezeit bestand nicht zuletzt darin, daß sie genügend qualifizierte Theologen besaß und solche auch noch an andere Kirchen abgeben konnte. 1537/38 lehrte Brenz ein Jahr an der Universität Tübingen und half, deren Reformation in die Wege zu leiten.

Luther hatte 1526 in seiner Vorrede zur Deutschen Messe einen brauchbaren Katechismus für Haus, Kirche und Schule gefordert. Aufgrund dieser Anregung entstanden alsbald eine Reihe von Katechismen in Deutschland, darunter 1528 auch ein solcher von Brenz. Sie wurden alle weithin verdrängt, nachdem 1529 Luthers Großer und vor allem sein Kleiner Katechismus vorlag. Erstaunlicher­weise ist es aber Brenz mit seinen »Fragstück des christlichen Glaubens« von 1535 gelungen, einen Katechismus zu schaffen, der nicht nur in Württemberg, sondern in gewissen Gebieten darüber hinaus die Konkurrenz mit Luthers Katechismus aufnehmen konnte. Seine Stärke lag darin, daß er noch knapper als Luthers Kleiner Katechismus gehalten war. Dieser Katechismus erlebte Hunder­te von Auflagen und ist, nachdem er später durch Stücke von Luther angereichert worden war, bis in die Gegenwart in einigen Landeskirchen in Geltung. Dem Katechismus war teilweise eine sog. Haustafel beigegeben, Regeln für das Verhalten der einzelnen christlichen Stände, von der Obrigkeit und den Richtern bis zu den Kindern und Dienstboten. Es läßt sich überhaupt nicht überschätzen, wie diese Texte, die in Schulen und Kinderpredigten ständig traktiert wurden, das soziale Verhalten in einer ständischen Gesellschaft mit ihrer Über- und Unterordnung mitgeprägt haben. Zu Brenzens Ehre muß dabei gesagt werden, daß in seiner Haustafel nicht nur der Gehorsam der Untertanen, Frauen, Dienstboten und Kinder eingehämmert wurde, sondern daß hier auch sehr ernst von den Pflichten der Übergeordneten die Rede war. Selbst die Könige und Fürsten wurden daran erinnert, daß auch sie einen Herrn über sich haben und daß sie eigentlich nichts anderes sind als die Diener und Ammen der Kirche. Aufgrund von Katechismuspredigten schuf Brenz übrigens auch eine umfangrei­che Auslegung seines Katechismus, eine der wenigen Darstellungen seiner Theologie in systematischem Zusammenhang.

Im Gefolge von Markgraf Georg nahm Brenz 1530 am Augsburger Reichstag teil. Kursachsen und Brandenburg-Ansbach wollten dort möglichst zu einem Ausgleich mit der altgläubigen Seite kommen. So war Melanchthon zeitweise bereit, sich mit minimalen Zugeständnissen zufrieden zu geben. Brenz scheint diese Haltung geteilt zu haben und wurde dafür auch kritisiert. Das klare und konsequente, freilich auch einseitige theologische Denken Melanchthons muß auf Brenz damals einen tiefen Eindruck gemacht haben. Im Sommer 1531 artikulierte er in einem Briefwechsel mit den Wittenbergern seine Auffassung von der Rechtfertigung: In der Christusgemeinschaft des Glaubens ereignet sich nicht nur die Vergebung, sondern erfolgt auch die Überwindung von Anfech­tung und Tod. Zugleich kommt es im Glauben zu einer Erfüllung des Gesetzes. Während Luther sich mit dieser weit gefaßten Auffassung von der Rechtferti­gung, zu der auch anfangsweise das neue Sein des Gerechtfertigten gehört, ausdrücklich einverstanden erklärte, erhob Melanchthon Einwände: Nach ihm hat sich der Rechtfertigungsglaube streng auf die durch Christus erworbene Vergebung und Nichtanrechnung der Sünde zu konzentrieren. Das war zwar klarer und konsequenter, bedeutete aber zugleich eine Verarmung und Verein­seitigung des Rechtfertigungsglaubens. In den folgenden Jahren bemühte sich Brenz, in den Bahnen Melanchthons zu denken, griff aber später auch wieder auf seine ursprünglichen Ansätze zurück. Das wurde bedeutsam, als seit 1551 die große Auseinandersetzung von Melanchthon und seinen Anhängern mit An­dreas Osiander über die Rechtfertigung einsetzte. Osiander betonte in nicht unproblematischen Formulierungen, daß der im Glaubenden wirkende Christus tatsächlich dessen Existenz verwandelt. Von Seiten Melanchthons wurde deshalb die Verurteilung Osianders durch die protestantischen Theologen gefordert. Dem widersetzte sich Brenz und erklärte die ganze Kontroverse für einen Wortstreit. Brenz hielt dabei sicher richtig die reichere Konzeption Luthers fest, nach der die Rechtfertigung mehr beinhaltet als den bloßen Zuspruch der Sündenvergebung. Freilich gelang es ihm damals nicht, die Defizite der beiden entgegengesetzten Positionen klar zu markieren und ihre jeweils berechtigten Interessen in einer neuen Synthese zu vereinigen. Auch er fand das lösende Wort in diesem Konflikt nicht und konnte somit nicht verhindern, daß im Luthertum im wesentlichen Melanchthons Rechtfertigungslehre das Feld behielt.

Zu der schwersten Krise im Leben und der Berufstätigkeit von Brenz kam es, als nach der Niederlage der Protestanten im Schmalkaldischen Krieg Kaiser Karl V. 1548 durch das Interim die Rekatholisierung ins Werk zu setzen suchte. Als erklärter Gegner irgendwelcher Zugeständnisse in dieser Richtung sollte er durch spanische Truppen in die Gewalt des Kaisers gebracht werden. Nur durch die Indiskretion eines Haller Ratsherren entging Brenz der Verhaftung, mußte aber schleunigst fliehen. Der württembergische Herzog versteckte ihn auf der Burg Wittlingen bei Urach, weshalb Brenz damals unter dem Pseudonym »Wittlingensis« schrieb. Straßburg, Basel, die Burg Hornberg im Schwarzwald und danach verschiedene Orte in Württemberg waren weitere Stationen seines Exulantendaseins. Obwohl Brenz in dieser Zeit neue bedeutende Stellungen in Leipzig, Dänemark und England angeboten wurden, blieb er in Württemberg, dessen erster Geistlicher er seit 1553 als Propst in Stuttgart auch offiziell war. Anders als für Melanchthon bedeutete das Interim für Brenz keine Versuchung. Die Einwilligung in die Wiederzulassung altgläubiger Zeremonien, die man eigentlich für falsch hielt, hatte er schon 1527 als unerlaubt bezeichnet. Die Befolgung solcher Zeremonien war eben nicht nur Formsache, sondern wegen des Kontextes, in dem das geschah, Verleugnung der Wahrheit.

Die einzige Instanz, durch die der Glaubenszwiespalt hätte überwunden werden können, wäre ein Konzil gewesen. Deshalb forderte Karl V. von den besiegten Protestanten die Beschickung des Trienter Konzils, dessen zweite Sitzungsperio­de 1549 begonnen hatte. Dem konnten sich die Oberdeutschen und die Sachsen nicht entziehen, obwohl sie schwerste Zweifel und Bedenken gegenüber der Unabhängigkeit, Leitung und Entscheidungspraxis des Konzils hatten. Die Grundlage von Konzilsverhandlungen mußte für die Protestanten eine Verant­wortung ihres Glaubens, ein Bekenntnis, sein. So entstand 1551 die hauptsäch­lich von Brenz verfaßte »Confessio Virtembergica«. Sie ist ein eigenartiges Dokument. Sie unternahm nämlich den ernsthaften Versuch, bei den Positionen der Gegenseite anzuknüpfen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen, ohne jedoch den eigenen Standpunkt preiszugeben. Leider wurde das Bekenntnis in Trient zu den Akten gelegt und die in Aussicht gestellte Antwort des Konzils nie erteilt. Brenz selbst war Anfang 1552 mit der oberdeutschen Gesandtschaft nach Trient gereist. Zu einem Auftritt vor den Konzilsvätern kam es jedoch nicht. Die Gegenseite war daran mehrheitlich nicht interessiert, und dann führte der Fürstenaufstand von 1552 zum Abbruch der zweiten Konzilsperiode. Deshalb hatte die Konzilsbeschickung nur ein politisches Ergebnis. Die oberdeutschen Protestanten hatten dem Willen des Kaisers entsprochen, aber aus den Verhand­lungen war nichts geworden. So gewannen sie die Freiheit für ihren eigenen Weg zurück. Das württembergische Bekenntnis wurde literarisch durch den spani­schen Dominikaner Petrus a Soto angegriffen. Darauf antwortete Brenz mit einer umfänglichen Verteidigung, in der er die Grundsätze der Reformation und ihrer Theologie darlegte.

Als einer der wenigen Reformatoren der ersten Generation erreichte Brenz ein vergleichsweise hohes Alter. So konnte er noch den Weg der württembergischen und der deutschen lutherischen Kirche in die Phase der Spätreformation mitbestimmen. Sein gemeinsam mit Herzog Christoph verfolgtes Interesse galt dabei der Wahrung von Luthers Vermächtnis und der Einigung des zerstrittenen Luthertums auf dieser Grundlage, wie sie wenigstens teilweise dann in der Konkordienformel 1580 erreicht wurde. Neben dem Ausbau der Kirchenord­nung bestand hierin die große Leistung des alten Brenz, die seinen frühen Verdiensten um die Reformation in manchem entspricht und ihnen an Bedeutung gewiß nicht nachsteht. Im August 1570 ist Brenz erkrankt. Sein Sehnen richtete sich auf das bessere jenseitige Leben, das für seinen Glauben immer ein Richt­punkt gewesen ist. Vor den versammelten Stuttgarter Pfarrern ließ er sein vier Jahre zuvor abgefaßtes Testament verlesen, in dem er seine lutherische Position noch einmal markiert hatte. Sein letztes Wort war ein Ja zum Apostolischen Glaubensbekenntnis. Sein Grab unter der Kanzel der Stuttgarter Stiftskirche hat Brenz selbst ausgesucht, »damit, wenn etwa jemand nach der Zeit von dieser Kanzel eine Lehre verkündigen sollte, entgegengesetzt der, welche ich meinen Zuhörern vorgetragen, ich mein Haupt aus dem Grab erheben und ihm zurufen kann: Du lügst«.

Die Generation nach Brenz hat in ihm den Elia gesehen, dessen Werk sie fast ängstlich zu bewahren suchte. Seine Selbständigkeit haben die Nachfahren sicher nicht gehabt. Bei Brenzens 400. Geburtstag 1899 hat man sein theologisches Werk totgesagt und wollte nur noch den Praktiker und Kirchenmann gelten lassen. Eine solche Aufteilung übersieht allerdings die Einheitlichkeit von Brenzens fünfzigjährigem Werk. Die letzten Jahrzehnte sind zwar nur langsam, aber doch mehr und mehr auf seine Leistung in der Gesamtheit und nicht zuletzt in der Theologie aufmerksam geworden.

Über die Bedeutung von Brenz in der Geschichte der Reformation läßt sich heute nicht endgültig entscheiden. Sein Beitrag ist bisher sicherlich zu wenig erkannt worden. Unübersehbar war er einer der Hauptakteure unter den reformatori­schen Theologen, der in entscheidenden Situationen mitwirkte und zu vielen bedeutenden Fragen einen gewichtigen Beitrag leistete. Sein Rang unter den Reformatoren dürfte so zu bestimmen sein: Er war einer der genuinen Schüler Luthers. Theologisch steht dabei Melanchthon zweifellos über ihm, obwohl der späte Brenz gegen Melanchthon ein deutliches Gegengewicht bildet. Als Exeget und Katechet hat er nur Luther über sich. Hinsichtlich der Kirchenordnung ist Brenz im lutherischen Raum allenfalls Bugenhagen an die Seite zu stellen. Brenz dürfte hier auch dem auf diesem Gebiet bedeutenden Martin Bucer im oberdeut­schen Raum kaum nachstehen. Das Verhältnis von Brenzens Theologie zu der Calvins muß noch bestimmt werden. Für die heutige Kirche repräsentiert Brenz in vielem hinsichtlich der Stärken und Schwächen die Gestalt evangelischen Kirchentums und evangelischer Theologie, die sich heute in einer veränderten Welt zurechtfinden muß. Gegenüber Brenz als einem der klarsten Lehrer reformatorischen Glaubens wird sich die Neuinterpretation dieses Glaubens zu verantworten haben. Das lebenslange Bemühen von Brenz, in klarer Orientie­rung an Gottes Wort in dem die Kirche umgebenden politischen und sozialen Kontext Theologie zu treiben, zu predigen, zu raten und zu handeln, dürfte dabei auf jeden Fall ein respektables Modell in der Kirchengeschichte bleiben.

Werke

Johannes Brenz. Werke. Hg. von M. Brecht und G. Schäfer. 3 Bde., erschienen, Tübingen 1970-1974.

Darstellungen

Brecht, M.: Die Chronologie von Brenzens Schriftauslegungen und Predigten. In: Blätter für Württbg. Kirchengeschichte 64 (1964), 53-74.

Ders.: Die frühe Theologie des Johannes Brenz. Tübingen 1966.

Ders.: Die Reformation in der Tübinger Vorlesung von Johannes Brenz. In: Festschrift Reinhold Rau. Tübingen 1966, 13-16.

Ders.: Kirchenordnung und Kirchenzucht in Württemberg vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Quellen und Forschungen zur württ. Kirchengeschichte 1, Stuttgart 1967.

Ders.: Anfänge reformatorischer Kirchenordnung und Sittenzucht bei Johannes Brenz. In: ZSRG 55 (1969), 322-347.

Ders.: Johannes Brenz. Neugestalter von Staat, Kirche und Gesellschaft. Stuttgart 1971.

Johannes Brenz 1499-1570. Beiträge zu seinem Leben und Wirken. Bl. für Württbg. KG 70 (1970).

Danner, B.: Dem Volk aufs Maul geschaut. Gleichnisse, Redensarten und Sprichwörter im Salomokommentar des Johannes Brenz. In: Württbg. Franken 58 (1974), 167-199.

Estes, J. M.: Church Order and the Christian Magistrate accordingto Johannes Brenz. In: ARG 59 (1968), 5-24.

Ders.: The two Kingdoms and the State Church according to Johannes Brenz and an Anony­mous Colleage. In: ARG 61 (1970), 35-49.

Hartmann, J. – Jäger, K.: Johann Brenz. 2 Bde. Hamburg 1840-42.

Kantzenbach, F. W.: Die Bedeutung Johannes Brenz’ für eine Theologie der Anfechtung. In: Das Wort Gottes in Geschichte und Gegenwart, hg. von W. Andersen. München 1957,160- 171.

Ders.: Johannes Brenz und die Reformation in Franken. In: Zeitschrift für Bayr. Kirchenge­schichte 31 (1962), 149-169.

Ders.: Der junge Brenz bis zu seiner Berufung nach Hall im Jahr 1522. In: ebd. 32 (1963), 53-73.

Ders.: Johannes Brenz im markgräflichen Dienst auf dem Reichstag in Augsburg. In: Jb. des hist. Vereins für Mittelfranken 82 (1965), 50-80.

Ders.: Der Anteil des Johannes Brenz an der Konfessionspolitik und Dogmengeschichte des Protestantismus. In: Festschrift W. Maurer. Berlin-Hamburg 1965, 114-129.

Mahlmann, Th.: Das neue Dogma der lutherischen Christologie. Gütersloh 1969.

Maurer, H. M. – Ulshöfer, K.: Johannes Brenz und die Reformation in Württemberg. Stuttgart-Aalen 1971.

Wunder, G.: Der Haller Rat und Johannes Brenz 1522-1530. In: Württembergisch Franken 45 (1971), 56-66.

Quelle: Martin Greschat (Hrsg.), Gestalten der Kirchengeschichte, Bd. 6. – Die Reformationszeit II, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz: Kohlhammer, 1981, S. 103-117.

Hier der Text als pdf.

Hier Martin Weidenfeldes Porträt über Johannes Brenz.

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