Über die Vaterunser-Bitte „Und führe uns nicht in Versuchung“ (Matthäus 6,13)
Von Julius Schniewind
Wir fassen die beiden von Luther als sechste und siebente Bitte getrennten Worte als die letzte, sechste Bitte zusammen. Sie redet von der Versuchung. Das griechische Wort peirasmos, das wir so übersetzen, gibt Luther wiederholt mit „Anfechtung“, z.B. 1.Petr. 1,6; Jak. 1,2.12. Dadurch soll eine äußere Lebenslage gekennzeichnet sein, während wir bei Versuchung an eine innere Not denken, die uns den Abfall von Gott nahelegt. Diese Scheidung ist aber unmöglich. In der Anfechtung wird unser Glaube, unser Vertrauen auf Gott, angefochten; es geht also um eine innere Not. Und die Versuchung, wo immer von ihr gesprochen wird, beruht auf Gefahren oder Verlockungen, die von außen kommen. Nun befremdet in unserer Vaterunserbitte, daß zu Gott selbst gebetet wird, er möge uns nicht in Versuchung hineinführen. Man hat diesen Anstoß schon früh empfunden. Wenn in Jak. 1,13f. ausdrücklich betont wird, daß Gott niemanden versuche, man also nicht sagen dürfe: „ich werde von Gott versucht“, so klingt das wie die Bekämpfung eines falschen Schlusses, den man aus unserer Vaterunserbitte zog. Aber daß Gott in Versuchung führt, wird auch sonst gesagt. Schon im Alten Testament, etwa 1.Mose 22,1; 2.Mose 16,4: Gott stellt den Menschen auf die Probe, ob er ihm gehorcht oder nicht. Ebenso aber im Neuen Testament, etwa 1.Kor. 10,13, wo Gott die Versuchung wie ihr Ende schasst. Dabei bleibt im Alten Testament wie im Neuen Testament bestehen, daß Gott himmelhoch vom Bösen geschieden ist. Man darf die Schwierigkeit nicht so lösen, wie einige Kirchenväter, daß man hinzufügt: (führe uns nicht in eine Versuchung hinein), „die wir nicht ertragen können“. Das ist der Gedanke von 1.Kor. 10,13; er wird aber hier gerade nicht ausgesprochen. Ebensowenig darf man im Wortlaut unserer Bitte („führe uns nicht hinein“) angedeutet finden, daß eine ganz besondere Art von Versuchungen gemeint sei (vgl. 1.Kor. 10,13a), in der kein Mensch bestehen kann, ein Verstockungsgericht also, wie es etwa 2.Mose 10,20 (Pharao) und Lk. 22,3 (Judas) geschildert wird; aber der Wortlaut unserer Bitte gibt das nicht her.
Wir stehen vielmehr vor einem in sich unlöslichen Widerspruch unseres menschlichen Denkens. Es gibt keine Beziehung zu Gott, die nicht „Gehorsam“ hieße und darum auch Erprobung forderte: es muß erprobt und versucht sein, ob wir Gott folgen oder nicht. Diese bloße Tatsache aber ist in sich unbegreiflich. Sie streitet logisch mit dem Gedanken der Allmacht und Allwirksamkeit. Sie beruht auf der Wirklichkeit des Bösen; nur weil es diese in sich unbegreifliche Wirklichkeit gibt, können wir von dem Entweder-Oder reden, in dem wir stehen: entweder für Gott oder gegen Gott! Daß es dies letztere gibt – dem Allmächtigen Gott entgegen sein ist in sich unbegreiflich und streitet gegen jede Logik. Alle Versuche aber, die Tatsächlichkeit des Bösen abzuleugnen, es als notwendig in Gottes Plan aufzuzeigen, ihm also seinen Schuldcharakter zu nehmen, streiten mit der unerfüllten Forderung Gottes, die über allem menschlichen Leben steht, und mit der Wirklichkeit der Gottesferne, um die alle Menschen wissen. So entgeht auch keine Religion, die der Tatsache des Bösen entfliehen möchte, dieser Tatsache selbst; sie ragt überall in das Gefüge dieser Religionen hinein und sprengt die selbsterdachte logische Ordnung.
Dann ist also Versuchung, Anfechtung, Versuchlichkeit nur ein anderer Ausdruck für die Tatsache, daß wir von Gott geschieden sind, und „wir bitten in diesem Gebet, daß uns der Teufel, die Welt und unser Fleisch nicht betrüge und verführe in Mißglauben, Verzweiflung und andere große Schande und Laster“; denn wir hätten es verdient, daß Gott uns in die Gewalt dieser Mächte dahingäbe. Nun redet das Neue Testament von bestimmten Lebenslagen, in denen uns die dunklen Gewalten übermächtig werden (1.Thess. 3,5; Offb. 2,10; Lk. 8,13; Mk. 14,38 Par.); es wird auch von bösen „Tagen“ besonderer Versuchung gesprochen (Hebr. 3,8, vgl. Eph. 6,13); die „letzte Zeit“ kann „die Stunde der Versuchung“ genannt werden (Offb. 3,10), und diese Versuchung ist so schwer, daß, wenn Gott nicht eingriffe, kein Mensch zum ewigen Heil gelangte (Mk. 13,20 Par.). Albert Schweitzer meint, unsere Bitte gehe dahin, daß diese Versuchung der letzten Zeit abgewandt werden möge. Aber das ist eine Verengung unserer Bitte; und nur insofern hätte Schweitzer recht, als über dem ganzen Vaterunser die Erwartung der neuen Welt Gottes steht, in der er allein herrscht, die Herrschaft des Argen aber überwunden ist. Diese Erwartung stand über jeder einzelnen Bitte (möglicherweise auch über der vierten) und ist in dem Wort Gottesherrschaft zusammengefaßt; man könnte sagen, daß alle Vaterunserbitten nur Entfaltungen der Zweiten Bitte sind.
Die Gottesherrschaft aber ist die Überwindung der Herrschaft des Argen (Mt. 12,28). Das wird in der zweiten Hälfte unseres Verses ausdrücklich gesagt. Aber schon zur ersten Hälfte ist daran zu erinnern, daß auch im Kampf mit Welt und Fleisch der Satan der eigentliche „Versucher“ ist (Mt. 4,3; 1.Kor. 7,5; 1.Thess. 3,5; Offb. 2,10). Unsere Bitte sagt also: Gib uns nicht in die Hände des Versuchers.
Quelle: Julius Schniewind, Das Evangelium nach Matthäus übersetzt und erklärt (1936), NTD 2, Göttingen 111964, S. 87f.