Von Rudolf Bohren
Ich soll sprechen über „Die Bibel als Menschenwort und Gotteswort“, soll dies tun an Hand einer Auslegung von 2. Kor. 4, 7-18. Wenn ich aber diesen Text lese, steht da kein Wort von der Bibel. Es steht da aber sehr viel vom Verkündiger, vom Prediger. Der alte Vilmar bemerkt zu unserer Stelle, die „eigentliche Rede“ gelte hier „den Trägern des apostolischen Amtes und ihren Nachfolgern“, das heißt der Existenz der Verkündiger.
Das Fragen, das bei der Bibel anhebt als ein Fragen nach dem Gotteswort und dem Menschenwort in ihr, dieses Fragen geht ja beim Prediger erst recht weiter. Solange ein Mann auf die Kanzel steigt, um Gottes Wort zu verkünden, solange wird er sich der Frage zu stellen haben, kraft welcher Autorität er denn spreche.
Diese Frage erreicht den Prädikanten von zwei Seiten her: Der Zweifler zeigt sich leicht beleidigt über die Zumutung, eine menschliche Rede als göttliches Wort hören zu sollen. Er fragt uns, wie es denn möglich sei, daß menschliches Reden ein Gotteswort zum Ausdruck bringe.
So ist der Mann auf der Kanzel von der Welt her in Frage gestellt. Ja, es könnte ihm ergehen wie den Skeuassöhnen (Apg. 19, 15): „Jesus kenne ich und von Paulus weiß ich; wer aber seid ihr?“
Die Frage nach der Existenz des Verkündigers wird aber nicht nur von achselzuckenden Skeptikern und prügelnden Dämonen gestellt. Die hörende Gemeinde selber trägt dem Pfarrer die Frage entgegen: „Sprichst Du aus Gott oder sprichst Du aus Dir?“ Indem der Gemeinde aufgetragen ist, die Geister zu prüfen, hat sie ein Recht zu solchen Fragen. Für sie ist und bleibt der Prediger in seiner ganzen Existenz im wörtlichsten Sinne fragwürdig! Sogar ein Paulus hat sich — wie der 2. Korintherbrief zeigt — dieser Frage gestellt, hat diese Frage ernst genommen, auch wenn die Frager ihrerseits recht fragwürdige Leute waren!
Die Frage nach der Predigt als Menschenwort und Gotteswort ist also kein neues Problem. Solange gepredigt wird, steht der Predigende in dieser Problematik und damit zugleich in der Frage nach seiner ganzen Existenz.
Bevor wir uns dem Text zuwenden, wollen wir beachten, in welchem Verhältnis die Predigt zur Bibel steht.
Die Predigt ist — um mit Thurneysen zu reden — eine „Buchrede“, genauer eine Bibelrede. Predigt gibt es heute, weil es eine Bibel gibt. Predigt ist eine Rede nach der Bibel, sie folgt der Bibel hinterher, ist die Nachzüglerin der Bibel.
Aber nun kennen wir eine Predigt nicht nur als Nachzüglerin der Bibel. Die wissenschaftliche Forschung der letzten Jahre hat sich stark der Predigt zugewandt, die der Bibel vorausgeht. Bevor die Bibel geschrieben wurde, taten die Apostel und Propheten ihren Mund auf und predigten. Wenn es heute eine Predigt nur deshalb gibt, weil wir eine Bibel haben, so haben wir heute eine Bibel nur deshalb, weil es schon vor ihr eine Predigt gab. Predigt als Vorläuferin der Bibel!
So steht das Buch der Bücher zwischen Predigt und Predigt: einerseits Endprodukt und andererseits Grundstoff der Predigt, das heißt, die Bibel selber ist Predigt, verdichtete, komprimierte Predigt.
Ich möchte die Predigt vor, in und nach der Bibel dem Tageslicht vergleichen. Draußen flutet es hell in der freien Luft: die Predigt der Apostel und Propheten. — Wir hierinnen in unserem Raum hätten das Licht nicht, wenn es nicht einen Durchbruch gäbe: das Fenster, das Glas, durchscheinend für das Licht: die Predigt der Bibel. Und nun dringt das Außenlicht — vielleicht etwas gebrochen, aber immerhin noch in gewisser Helle — durch unsern ganzen Hörsaal hindurch: die Botschaft der Bibel wird aufs neue gepredigt!
Wenn wir nun unsern Text lesen, gehen wir damit gleichsam nach draußen, um zu untersuchen, wie hell dort das Licht scheint, wie die Lichtkörper dort beschaffen seien. Wenn wir einmal wissen, was das für ein Licht ist, das draußen scheint, wenn wir erkennen, wie es zu diesem Scheinen kommt, dann werden wir wohl mit Leichtigkeit seinen Weg durch das Glas in unsern Raum verfolgen können. Wenn wir aus unserem Text einige Erkenntnis über die apostolische Predigt als Menschenwort und Gotteswort gewinnen, werden wir auf die Bibel als das Endprodukt paulinischer Predigt folgern können. Auch lassen sich von da aus Schlüsse ziehen zum Verständnis unserer Predigt als Menschenwort und Gotteswort.
2. Kor. 4, 7-18:
„Wir haben aber diesen Schatz in irdenen Gefäßen, damit die überragende Größe der Kraft Gott angehöre und nicht von uns stamme. In allem werden wir bedrängt, aber nicht in die Enge getrieben, in Zweifel versetzt, aber nicht in Verzweiflung, verfolgt, aber nicht verlassen, zu Boden geworfen, aber nicht vernichtet; allezeit tragen wir das Sterben Jesu am Leibe herum, damit auch das Leben Jesu an unsrem Leibe offenbar werde. Denn immerfort werden wir bei Leibes Leben dem Tode überliefert um Jesu willen, damit auch das Leben Jesu offenbar werde an unsrem sterblichen Fleisch. Somit ist der Tod an uns wirksam, das Leben aber an euch.
Weil wir aber denselben Geist des Glaubens haben wie in dem Wort, das geschrieben steht: „Ich habe geglaubt, darum habe ich geredet“, glauben auch wir, darum reden wir auch, da wir wissen, daß der, welcher den Herrn Jesus auferweckt hat, auch uns mit Jesus auferwecken und mit euch hinstellen wird. Denn alles geschieht um euretwillen, damit die sich mehrende Gnade durch die größere Zahl (der Erretteten) die Danksagung überfließen lasse zur Ehre Gottes. Daher werden wir nicht mutlos, sondern, ob auch unser äußerer Mensch zerstört wird, so wird doch unser innerer von Tag zu Tag erneuert. Denn die schnell vorübergehende leichte Last unsrer Trübsal schafft uns nach überreichem Maße zu überreichem Ertrag ein ewiges Gewicht an Herrlichkeit, da wir nicht schauen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Denn das Sichtbare ist zeitlich, das Unsichtbare aber ist ewig.“
Im Folgenden möchte ich auf fünf Punkte hinweisen:
I. Den Kreisen gegenüber, die dem Apostel den Heiligen Geist und die Berechtigung zum Apostelamt absprechen möchten, betont Paulus: „Wir haben diesen Schatz …“ (7). Gerade seine Gegner mögen den Geistbesitz, auf den sie stolz waren, als „Schatz“ bezeichnet haben. — Der „Schatz“, den Paulus meint, ist Gott selber, gegenwärtig in seinem Heiligen Geist! Darum betont er: „Wir haben denselben Geist des Glaubens!“ (13).
Jesus selber hat vom „Schatz“ gesprochen, von „Schätzen“, die es im Himmel zu sammeln gelte, wo sie diebstahlsicher, mottensicher, rostfrei seien (Matth. 6, 19 f.). Den zum Himmelreich Gelehrten aber vergleicht er einem Hausherrn, „der aus seinem Schatze Neues und Altes hervorholt“ (13, 52). Paulus hat also Schätze im Himmel, er ist ein zum Himmelreich Gelehrter, er hat erkannt: „In Christus liegen alle Schätze der Weisheit verborgen“ (Kol. 2, 3). Und dieser Christus lebt in ihm!
Darum ist er ein Armer, der viele reich machen kann, ein Habenichts, der alles besitzt (2. Kor. 6,10); denn er ist erleuchtet worden „durch die Erkenntnis von der Herrlichkeit Gottes auf dem Angesichte Christi“ (4, 6). Der Schatz, den er hat, ist nicht klein. Nach 12, 7 ist ihm ein „Überschwang an Offenbarungen“ zuteil geworden. Er hat damit offenbar kein totes Kapital, denn er spricht in 4, 7 von einem „Überschwang an Kraft“.
So teilt er seinen Reichtum aus, predigt nicht sich selbst, sondern Jesus Christus als den Herrn, sich selbst aber als Diener um Jesu willen (4, 5). Sein Predigen kommt aus seinem Geistbesitz (4, 13), wie er denn andererseits den Galatern gegenüber betonen kann, daß sie den Geist aus dem Hören der Predigt empfangen haben (3, 2). Paulus begegnet seinen Gegnern zunächst nicht mit dem Hinweis auf seine Armut und Schwäche, er pocht auf seinen Reichtum: „Wir haben diesen Schatz!“
Damm ist sein Dienst „reich an Herrlichkeit“ (3, 9). Er darf in Christus allezeit triumphieren. Seine Predigt wirkt unwiderstehlich. Wie ein Geruch dringt durch sie die Erkenntnis Christi in die Menschen (2, 14). Mächtig sind seine geistlichen Waffen. Er schleift die Bastionen, die sich gegen die Gotteserkenntnis erheben und führt jeden irrigen Gedanken gefangen in den Gehorsam gegen Christus (10, 4ff.). Von seiner Rede konnte er rühmend sagen, daß sie „in Erweisung von Geist und Kraft“ bestehe (1. Kor. 2, 4). Für ihn selber ist die Frage nach seiner Predigt als Menschenwort und Gotteswort offenbar kein Problem: „Denn ich werde nicht wagen, von etwas zu reden, was nicht Christus durch mich gewirkt hat, um die Heiden zum Gehorsam zu bringen in Wort und Tat, in Kraft von Zeichen und Wundem, in Kraft des Heiligen Geistes …“ (Röm. 15,18). Was er hat, hat er aus seinem Schatz; was er redet, spricht er aus dem Geist des Glaubens. Für ihn ist es völlig klar: er spricht in seinem menschlichen Worte Gottes Wort. Und wenn er in 1. Kor. 7 sein Wort vom Herrenwort abhebt, betont er seine Vertrauenswürdigkeit (25). Er glaubt den Geist Gottes zu haben (40). Für ihn steht fest, daß er aus dem Geiste Gottes heraus und nicht aus sich selbst spricht. Er predigt, weil er glaubt. Weil er sich mit Gott verbunden weiß, weiß er auch seine Worte in dieser Verbundenheit. Weil er seine Worte in dieser Verbundenheit weiß, weiß er sie als Worte Gottes.
II. „Wir haben diesen Schatz in irdenen Gefäßen.“ Aus Erde, irdisch ist Adam, dessen Bild Paulus noch trägt (1. Kor. 15, 49). Sein Leib, seine Menschlichkeit gleicht dem Tonkrug, der Kleinodien enthält.
Im Bilde, das Paulus hier braucht, liegt eine gewaltige Spannung. Strahlt im Schatz das Licht Gottes auf, so verhüllt, verdunkelt und verbirgt der Krug. Erweist sich der Schatz, den Paulus hat, als Überschwang an Kraft und Offenbarung, so eignet dem Tongefäß Gebrechlichkeit. Die irdenen Gefäße stellen alles andere als eine Luxusverpackung dar. Wenn in 2. Tim. 2, 20 Gefäße aufgezählt werden, kommen die irdenen zuletzt, nach den goldenen, silbernen und hölzernen. Dieser Schatz hat die billigste, elendeste Verpackung, die möglich ist. „Wie Kehricht der Welt sind wir geworden, ein Abschaum aller bis jetzt“ (1. Kor. 4, 13).
Die Gegner des Paulus zogen nun aus der Schwachheit des Leibes den Schluß, der Leib sei zu verwerfen. Darum können sie denn auch die Auferstehung des Leibes leugnen. Paulus zieht aber einen ganz andern Schluß aus dem Faktum der Gebrechlichkeit: Gerade sie hat den Sinn, die überschwengliche Kraft als Gotteskraft evident zu machen. Nicht ein Übermensch, sondern der in seiner Gebrechlichkeit ist der Träger der Gnade. Dies zeigt Friedrich Dürrenmatt in seiner Komödie „Die Ehe des Herrn Mississippi“ an der Gestalt des völlig heruntergekommenen Grafen Bodo von Übelohe-Zabernsee, wenn er ihn am Schlüsse sagen läßt:
„Daß aufleuchte Seine Herrlichkeit,
genährt durch unsere Ohnmacht.“
III. Was aber geschieht im Zusammentreffen und Beieinander von Gefäß und Inhalt? Was ereignet sich zwischen der göttlichen Kraft und der menschlichen Schwäche, die diese umgibt? Was geschieht bei diesem Ineinander?
Zunächst beschreibt Paulus die Brüchigkeit des Tongefäßes: „in allem bedrängt“, „in Zweifel versetzt“, will heißen „ratlos“, „verfolgt“, „zu Boden geworfen“. „Allezeit tragen wir das Sterben Jesu an unserem Leibe herum“ (10). „Immerfort werden wir bei Leibes Leben dem Tode überliefert um Jesu willen“ (11). „Somit ist der Tod an uns wirksam“ (12). — Man beachte die beiden Wörtlein „allezeit“ und „immerfort“. Was Paulus stirbt, ist kein plötzlicher Tod, sondern ein dauerndes Sterben. — Wenn er einmal wie ein Triumphator auf seinen Reichtum hinweist und ein andermal auf sein Sterben, so spricht er damit nicht von zwei Stimmungen, die er erleidet — einmal so — einmal so —, etwa nach dem Sprüchlein: „Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt.“ Wenn er sich als einen „allezeit“ Sterbenden bezeichnet, so bedeutet dies, daß er seinen Triumphzug als ein vom Tod Jesu Gezeichneter geht. Der Schatzträger trägt die Armut Jesu, der Kraftträger trägt die Schwachheit Jesu. Dies nicht bloß in seiner Vorstellung etwa so, daß er ständig das Bild des Gekreuzigten vor Augen hätte. Ausdrücklich sagt er, er trage das Sterben Jesu „an seinem Leibe“ herum.
Dieses Tragen Jesu wird seinem Leib zu schwer, er geht dabei zugrunde (16). Darum gleichen die Apostel den zum Tode Verurteilten (1. Kor. 4, 9). Der Tonkrug, der Gotteskraft trägt, wird in einem fort zerschlagen. Er kann den Schatz nicht anders halten als im Zerbrochenwerden: „Bis zur jetzigen Stunde leiden wir Hunger und Durst und Blöße und werden geschlagen und haben hier keine bleibende Stätte und mühen uns ab in der Arbeit mit unsern eigenen Händen“ (1. Kor. 4, 11). — „Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag“ (Röm. 8, 36). Paulus kann nur als Sterbender leben, weil er den Sinn des Kreuzes erkannt hat. Mit Jesus ist die ganze Menschheit gestorben. Das Kreuz verändert und bestimmt seine Weltsicht, seine Weltanschauung. Er ist zum Urteil gekommen, „daß einer für alle gestorben ist, also alle gestorben sind“ (2. Kor. 5, 14).
An dieser Gestorbenheit aller hat er teil. Sie wird exemplarisch deutlich an seinem apostolischen Leiden. Gerade das Besondere seines apostolischen Leidens wird zum Allgemeingültigen. Darum kann er die Kolosser mahnen: „Ertötet eure Glieder, die auf Erden sind“ (3, 5).
So unterscheidet Calvin zwischen dem äußern Absterben mit Christus in der Trübsal und dem innern Absterben in der Selbstverleugnung.
Wenn Paulus, der Schatzträger, sich als Sterbender vorstellt und wenn er nicht müde wird, zu betonen, daß dies Sterben für ihn einen Dauerzustand darstelle, so hat er damit schon eine Antwort auf die Frage gegeben, wie es denn dazu komme, daß ein Mensch in seinen Worten Gottes Wort sagen könne. Er kann es nicht anders als durch seinen Tod hindurch. Denn da, wo Gott erscheint, muß der Mensch sterben. Nur da, wo er mitsamt seinen Worten erstirbt, kann Gottes Wort laut werden. Die Predigt des Wortes Gottes kann bei diesem Prediger nur so ergehen, daß er am Wort stirbt.
Die Menschen, denen Gott sich im Alten Bund offenbart, verfallen in tödlichen Schrecken. Wo Jesus die Kraft seiner Gottheit offenbart, muß er immer wieder beschwichtigen: „Fürchtet euch nicht!“ Nach Pfingsten aber heißt es: „Das Fleisch gelüstet wider den Geist, den Geist aber wider das Fleisch. Denn diese liegen miteinander im Streit“ (Gal. 5, 17). Wer darum aufgenommen werden will in die Gemeinschaft des Geistes mit dem Vater und dem Sohn, muß durch das Sterben hindurchgehen.
In unserem Bild heißt das: Der Schatz liegt nicht still im Tongefäß verborgen. Er sprengt sein irdenes Geschirr. Kommt Gottes Geist über das Fleisch, so muß der Mensch sterben. Darum demonstriert Paulus seinen Geistbesitz nicht an den Geistesgaben, sondern an seiner Schwachheit. Schwachheit haben ihm seine Gegner vorgeworfen. Um seiner Gebrechlichkeit willen haben sie ihn verachtet. Und nun hat Paulus diese Vorwürfe genommen, um an ihnen seine Legitimität zu demonstrieren!
Darin daß er als ein „allezeit“ und „immerfort“ Sterbender predigt, verherrlicht er seinen Herrn, macht klar, daß die Kraft, die er ausstrahlt, eben nicht von ihm stammt, sondern aus Gott. Sein Sterben bildet den dunkeln Hintergrund, den Samt gleichsam für die Kostbarkeit des Evangeliums.
„Daß aufleuchte Seine Herrlichkeit,
genährt durch unsere Ohnmacht.“
IV. Es ist wichtig, daß wir dieses Sterben des Apostels recht verstehen. Sterben bedeutet hier nicht Auflösung, Verflüchtigung, Entschweben, es bedeutet Neuschöpfung. Gott ist nicht leibfeindlich. Der Apostel Jesu Christi verachtet den Leib nicht, wie dies seine Gegner tun. Paulus trägt das Sterben Jesu an seinem Leib herum, nicht weil Gott die Leiblichkeit haßt, sondern weil er die Leiblichkeit seines einzigen Sohnes dem Leib des Paulus mitteilen will. Höchst merkwürdig: das Sterben des Paulus ist für ihn die Voraussetzung, daß Jesu Leben am Leib des Apostels offenbar werde. Zweimal steht in den Versen 10 und n nach der Aussage über das Sterben ein „damit“. Zweimal erläutert er den Sinn seines Sterbens: „damit auch das Leben des Jesus an unserem Leibe offenbar werde“ (10). Diese Aussage scheint ihm noch nicht scharf genug. Er muß es noch krasser sagen: „damit auch das Leben des Jesus offenbar werde an unserem sterblichen Fleisch“ (11).
Walter Schmithals macht in seinem Buch „Die Gnosis in Korinth“, Eine Untersuchung zu den Korintherbriefen, 1956, S. 77 darauf aufmerksam, daß Paulus in seinen Briefen nur an insgesamt 9 Stellen in originaler Sprache das einfache Jesus brauche, dabei kämen 6 Stellen in unserem Abschnitt vor. Dies ist sicher nicht zufällig so formuliert, denn die Gegner des Paulus machten einen Unterschied zwischen Jesus und Christus. Weil sie die Leiblichkeit verachteten, hatten sie nichts übrig für den Jesus von Nazareth. Sie hielten nicht viel vom Fleischgewordenen und interessierten sich nur für einen vergeistigten Christus. Nun nimmt Paulus ihren Wortgebrauch auf und sagt: Gerade der Jesus von Nazareth, der Erniedrigte, soll an unserem Fleisch sichtbar werden; denn der im Heiligen Geiste gegenwärtige Christus ist kein anderer als der ins Fleisch gekommene, der Jesus heißt. Weil Gott Mensch und also irdisch wurde, darum sind die irdenen Gefäße nicht zu verachten; an der Leiblichkeit des Apostels ist nicht Anstoß zu nehmen. Die Leiblichkeit des Menschen kann Paulus in der Tat nicht besser begründen als mit dem Hinweis auf den ins Fleisch gekommenen Christus (Schmithals).
Auffallend ist an den Sätzen in den Versen 10 und 11 ferner der wiederholte Artikel: „der Jesus“. „Der Jesus“ soll offenbar werden an unserem sterblichen Fleisch, nicht irgendeine Christusidee, nicht christliche Charakterzüge, sondern das fleischgewordene Wort selbst, Jesus von Nazareth in Person. So schreibt Heinrici in der 8. Auflage von Meyers Kommentar, S. 159, nachdem ihm der wiederholte Artikel bei Jesus aufgefallen ist: „Die konkrete menschliche Erscheinung Jesu … soll vergegenwärtigt werden.“ D. h. der Prediger Paulus ist der Repräsentant des Jesus von Nazareth. Nach seiner Erhöhung haben die Apostel in seinem Namen zu funktionieren; sie stellen ihn dar, sie stehen für ihn. Ihnen gilt der rabbinische Spruch: „Der Abgesandte eines Menschen ist wie dieser selbst.“
Etwas von diesem Leben Jesu wird Zeichenhaft sichtbar an dem „Aber nicht“ der Verse 8-9 Bedrängnis kann ihn nicht in die Enge treiben, die Zweifel nicht in Verzweiflung, die Verfolgung nicht in die Verlassenheit, das Auf-den-Boden-Geworfenwerden kann ihn nicht vernichten. So scheint durch das Leiden des Apostels das Leben des Auferstandenen hindurch, und dieser Auferstandene ist kein anderer als der Jesus von Nazareth. Auch in Kapitel 6, 8-10 spricht er noch einmal von dieser Doppelheit und Gleichzeitigkeit des Sterbens und Lebens Jesu an seinem Leib unter dem Stichwort: „Und doch“! „Als Irrlehrer und doch wahrhaftig, als Unbekannte und doch erkannt … als Gezüchtigte und doch nicht getötet, als Betrübte, aber allezeit fröhlich, als Arme, die aber doch viele reich machen, als solche, die nichts haben und doch alles besitzen.“
Steht das Sterben des Apostels unter dem Vorzeichen des „Aber — nicht“ und des „Und — doch“, so steht sein Leiden, seine Gebrechlichkeit unter dem Vorzeichen der Auferstehung. Darum kann der äußere Mensch zerstört werden. Der Innere wird von Tag zu Tag erneuert (16). Bengel bemerkt hierzu, dies geschehe „per spem“, durch Hoffnung. Indem Paulus auf die Auferstehung der Toten hofft, sieht Paulus in seinem Leiden den Herrn am Werk, am Werk der Neuschöpfung. Der Mensch, den er im Spiegel erblickt, vergeht, der Mensch, den Gottes Augen anschauen, steht Tag für Tag in der Neuschöpfung. Weil es gilt: „All Morgen ist ganz frisch und neu des Herren Gnad und große Treu“, darum nimmt der Schöpfer sein Geschöpf all Morgen neu in seine Hand, um an ihm zu wirken. So wird der innere Mensch Tag für Tag erneuert. Die Neuschöpfung schreitet voran mitten im Tod dieser Welt, der Vollendung entgegen. Auf dieses Werk Gottes aber schaut der Apostel. „Wir schauen nicht auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare“ (18).
So blickt er hin auf die Vollendung der Neuschöpfung in der Auferstehung der Toten. Er weiß ja, „daß der, welcher den Herrn Jesus auferweckt hat, auch uns mit Jesus auferwecken und mit euch vor sich hinstellen wird“ (14). Dort vor dem Angesicht des Erhöhten hofft er mit der Herrlichkeit Jesu Christi „überkleidet zu werden, damit das Sterbliche vom Leben verschlungen werde“ (5, 4). Dort wo wir vor dem Christus in der Glorie stehen, dort soll das Leben Jesu an unserem Leib völlig sichtbar werden, wenn wir verwandelt werden ins Bild des himmlischen Menschen (1. Kor. 15, 49). „Denn dieses Verwesliche muß anziehen Unverweslichkeit, und dieses Sterbliche muß anziehen Unsterblichkeit“ (1. Kor. 15, 53). So also sieht Paulus auf das Unsichtbare, das ewig ist, so daß er auf die letzte Vollendung blickt.
In diesem Zusammenhang nennt er die Trübsal (thlĩpsis) ein kurzfristiges Leichtgewicht, das uns ein Schwergewicht ewiger Herrlichkeit schaffe (17). — Eigenartig und zunächst für unsere Dogmatik unpassend, daß Paulus die Trübsal hier als Schaffende bezeichnet. Auch Röm. 5, 3 spricht er von wirkender Trübsal, während er in 2. Kor. 7, 10 die Betrübnis (lýpē) als schöpferische Kraft darstellt: „Die Betrübnis, wie sie Gott will, bewirkt eine Buße zum Heil.“ Nach Apg. 14, 22 bedeutet die Trübsal den Durchgang zur Verherrlichung: „Wir müssen durch viel Trübsale in das Reich Gottes eingehen.“ Indem Paulus den Heiligen Geist hat, indem dieser Geist auch in der Trübsal wirksam ist, wird diese selbst schöpferisch.
V. Das apostolische Leiden und Sterben hat nicht nur für ihn, sondern ebensosehr für die Gemeinde eine positive Bedeutung. Indem er nicht — wie etwa Rilke — seinen eigenen Tod herumträgt, indem er ein fremdes Sterben auf seinen Leib nimmt, das Sterben Jesu am Kreuz, nimmt er teil an der Stellvertretung unseres Herrn. Indem er seinen Herrn in dieser Welt repräsentiert, wird sein Leiden vom Sühneleiden Jesu wie von einer Klammer umschlossen. Darum kann er hier fast ironisch sagen: „Somit ist der Tod an uns wirksam, das Leben aber an euch“ (12). Hinter diesem Satz steht das ganze Geheimnis apostolischer Seelsorge. So sehr ist er für die Gemeinde da, daß er für sie den Tod herum trägt. Er hat das Leben der Gemeinde in sich hineingenommen, er trägt es in sich herum, damit das, was ihm widerfährt, Widerfahrnis sei für die Gemeinde: „Ihr seid in unseren Herzen zum Mitsterben und Mitleben“ (7, 3). Der Prediger Paulus steht der Gemeinde nicht als ein Fremder gegenüber, indem er ihr das verbum alienum, das „fremde Wort“ des Evangeliums, sagt. Er nimmt vielmehr teil am Leben der Gemeinde und läßt die Gemeinde teilhaben an seiner ganzen Existenz. Was er tut und leidet, kommt der Gemeinde zugut. „Alles geschieht um euretwillen“ (15).
Calvin schreibt hierzu: „Jetzt verbindet sich der Apostel mit den Korinthern nicht bloß in der Hoffnung der zukünftigen Herrlichkeit, sondern gerade auch in seinen gegenwärtigen Leiden, worin er, äußerlich gesehen, ihnen durchaus ungleich schien. Er spricht nämlich aus, daß er ihnen zugut leidet… Solcher Austausch hängt an der verborgenen Gemeinschaft, welche Christi Glieder verbindet.“ Ein Austausch findet hier statt. Paulus überträgt die Frucht seines Leidens auf die Korinther, tauscht sein Sterben ein für ihr Leben. Und das heißt: der Prediger opfert sich in der Nachfolge Jesu für die Gemeinde!
Indem der Apostel seinen Leib hingibt, damit die Gemeinde lebe, wird der Name des Vaters geheiligt, der Lobpreis ertönt, Gott wird verherrlicht. „Denn alles geschieht um euretwillen, damit die sich mehrende Gnade durch die größere Zahl der Erretteten die Danksagung überfließen lasse zur Ehre Gottes“ (15).
Wir fassen zusammen, was wir draußen in der freien Luft, im Raum der apostolischen Predigt über ihren Charakter als Menschenwort und Gotteswort haben notieren können:
- Das Evangelium ist dem Apostel durch den Heiligen Geist als ein himmlischer Schatz gegeben.
- Paulus schämt sich seiner Menschlichkeit nicht. In seinem Menschenwort trägt er das Gotteswort.
- Das Ineinander von Gottesgeist und Menschenwesen zerbricht das Menschfiche. Nur ah Sterbender kann er predigen.
- Sein Sterben hat den Sinn, dem Leben des historischen Jesus in der Gegenwart Platz zu machen. So ist es ein Sterben auf die Auferstehung hin.
- Sein Leiden hat Austauschwert, ist bestimmt durch den Gedanken der Stellvertretung.
Es sei mir gestattet, von diesen fünf Punkten her noch einige Stichworte zum Thema „Bibel“ einerseits und zum Thema „aktuelle Predigt“ andererseits zu äußern:
A. Zur Bibel
1. Wenn Paulus einen Überschwang an Offenbarung und Kraft in sich trägt, dann dürfen wir annehmen, daß auch das Dokument, das von seiner Predigt berichtet, etwas von diesem Überschwang an sich hat. Der Überschwang an Offenbarung konnte von den Auslegern der Bibel in 2000 Jahren mühevoller Arbeit nicht ausgeschöpft werden. Der Überschwang an Kraft hat im Lauf der Kirchengeschichte immer und immer wieder in das Leben einzelner sowie ganzer Völker eingegriffen. Es wäre interessant, die ganze Kirchengeschichte einmal unter diesem Aspekt zu sehen: eine Geschichte der von der Bibel ausgehenden Kraftwirkungen.
Ich meine, wir haben allen Anlaß, den Schatz immer neu zu rühmen, der uns in der Bibel geschenkt ist. Wir können uns hier ein Vorbild nehmen an Calvin, der etwa die Majestät der Schrift rühmt.
Aber nun ist es ja so, daß gerade wir akademischen Theologen hier etwas gehemmt sind, wir sehen hier immer die Tafel vor uns: „Rechtsabbiegen verboten!“ Wir haben einen Horror vor den Fundamentalisten, d. h. vor dem Irrglauben, der aus dem Buchstaben der Bibel einen Papst macht, der völlig unfehlbar sei. Angst aber vor Ketzerei ist ein schlechtes theologisches Prinzip. Ich meine, wir dürften ruhig etwas heiterer und zuversichtlicher die Größe des Reichtums rühmen, der uns in der Schrift gegeben ist!
Aus den Voten unserer gestrigen Aussprache im Freundeskreis hörte ich eine große Sorge heraus, eine Sorge vielleicht nicht so sehr tun die Bibel als um die Studenten und um das, was an den Hochschulen geschieht.
Tatsächlich gibt es eine Bibelkritik, die zum Sport geworden ist, zu einer Art Großwildjagd, in der es darum geht, möglichst viel kaputt zu machen. Tatsächlich gibt es Bibelkritik, die nicht Dienst am Wort ist, sondern Dienst an sich selber. — Jeremias Gotthelf hat in seinem „Zeitgeist und Bernergeist“ ein Rezept gegeben, wie man es anstellen solle, um Professor zu werden. Es müsse einer „was Neues gefunden oder ersinnet haben, was Tüfelsüchtiges, das noch keinem eingefallen sei, es sei gleichgültig was, wenn’s nur etwas sei, mit dem kein Teufel was machen könne. Je weniger man es begreift, desto schrecklicher werde es ausposaunt und gerühmt, weil niemand den Namen haben wolle, er habe es nicht begriffen …“ So also werde man Professor. Nun sei dies „ein angenehmer Titel, klinge schön und gebe z’fressen …“ (Volksausgabe, S. 120 f.).
2. Wenn der Apostel seinen Schatz in irdenem Geschirr trägt, dann dürfen wir annehmen, daß auch das Dokument seiner Predigt irdenes Geschirr sei. Gerade die menschliche Seite der Bibel, gerade der Umstand, daß die Bibel kein vom Himmel gefallenes Buch ist, sondern ebenso irdisch wie der Apostel selbst, soll ja darauf hinweisen, daß die überragende Kraft Gott angehört und weder aus der Druckerschwärze noch aus dem Papier, noch aus den Schreibern kommt.
Da muß ich meine Brüder, die die Gebrechlichkeit der Bibel am liebsten leugnen möchten, darauf aufmerksam machen, daß sie sich damit ganz nahe zu den Feinden des Apostels Paulus stellen, die an der Gebrechlichkeit des Apostels Anstoß nehmen und meinen, ein Apostel solle nicht ein gebrechlicher Mensch sein. Und dies ist die Meinung vieler Bibelgläubiger heute, das apostolische Wort der Bibel solle nicht den Charakter des Menschlichen, Gebrechlichen tragen.
Wollten wir den menschlichen Charakter der Bibel leugnen, so würden wir gerade nicht dem lebendigen Gott Ehre machen, sondern vielmehr versuchen, die Bibel selber zum Gott zu machen. Ist das Herz des Menschen aber eine Götzenfabrik (Calvin), so dürfen wir uns nicht wundern, daß wir immer und immer wieder geneigt sind, die Bibel auf Gottes Thron zu setzen.
Wenn der akademische Theologe bei der Bibel die Rechtsabweichung fürchtet, so sieht der Laie hier gern die Tafel vor sich: „Linksabbiegen verboten!“ Man hat Angst vor der Bibelkritik und meint, sie könnte dem Evangelium schaden. Aber nun zeigt Paulus, daß gerade da das Leben des Jesus an seinem Fleisch sichtbar wird, wo er zerbricht. Darum brauchen wir um die Bibel nicht Angst zu haben. Gerade wenn ihre Einheit unter den Schlägen der Bibelkritik zerklirrt und zerbirst, gerade dann wird es sich zeigen, daß im irdischen Gefäß ein himmlischer Schatz verborgen liegt. Auch wenn die Bibelkritik zu weit geht und einmal Irrlehren verkündet: die Kraft des Wortes Gottes ist immer stärker als die Kritik. Auch hier ist Angst vor der Ketzerei ein schlechtes Prinzip.
Darf ich dazu noch eine Bemerkung über die Angst vor Gefahr anschließen. In der gestrigen Aussprache wurde mehrmals die Vokabel „Gefahr“ hörbar. Ob Theologen oder sogenannte Laien diskutieren, immer wieder heißt es: Gefahr! Die Gefahr der Bibelkritik. Die Gefahr der unkritischen Haltung. Gefahr hier und dort und überall. Man hat oft den Eindruck, die lieben Christen könnten von nichts anderem als von Gefahren reden!
Wenn ich aber im Hochgebirge einen Gipfel besteigen will, komme ich nicht hinauf, wenn ich überall Gefahr sehe! Gewiß muß ich um die Gefahren wissen, sogar sehr genau wissen. Wehe aber, wenn ich dauernd in die Abgründe starre und nur an die Stellen denke, an denen ich stürzen kann.
Ich muß auf den Weg sehen, der vor mir liegt und zum Gipfel führt. Und so meine ich, sollten wir es auch in der Kirche und in unseren theologischen Gesprächen halten. Der schmale Weg des Glaubens ist gefährlich wie der schmale Grat im Hochgebirge. Wir aber müssen auf den Weg schauen, der zum Gipfel führt!
3. Wenn der Apostel nur als Leidender, als Sterbender existiert, dann ist auch die Existenz der Bibel eine einzige Leidensgeschidtte. Martin Luther schreibt in seiner Schrift für Peter Balbier „Eine einfältige Weise zu beten für einen guten Freund“, 1535: „Summa, das Pater noster ist der größeste merterer (so wohl als der Name und Wort Gottes) auff erden. Denn jedermann plagts und misbrauchts, wenige tröstens und machens frölich in gutem gebrauch“ (WA. 38, 364, 25-27). Wie das Unservater, der Name und das Wort Gottes, so macht auch die Bibel ein Martyrium durch auf Erden.
Die Bibel leidet darunter, daß sie in aller Leute Mund ist und von Hinz und Kunz mißbraucht werden kann. Sie leidet darunter, daß sie von so vielen schlechten Predigern Sonntag für Sonntag so übel traktiert, gefoltert und vergewaltigt wird. Es tut ihr weh, daß so viele Fromme sie nur dazu benützen, um ihr eigenes frommes Fett anzusetzen. — Vielleicht aber leidet sie am meisten darunter, daß sie es bei so manchem Pfarrer und Christen so entsetzlich langweilig hat, weil sie keine Resonanz bei ihnen findet.
Die Bibel leidet daran, daß ihre Worte so abgegriffen und verbraucht sind. Und wir Theologen machen uns viele Sorgen darüber, daß sie ein so vergehendes Buch ist. Was ist das anders als ein Sterben der Bibel, wenn ihre Worte schal werden?
Aber nun lehrt uns unser Text, daß wir gerade hier nicht ängstlich zu sein brauchen. Nicht wir sind es, die die Bibel neu und interessant machen können. Wenn der Jesus, der auferstanden ist, den abgeschabten Worten sein Leben gibt, dann stehen sie auf einmal ganz neu und leuchtend vor der Welt.
Ja, ich glaube, wir können dieses Leben Jesu im Wort nur haben, wenn wir die Bibel auch dann bejahen und mit ihr umgehen, wenn sie uns als ein totes Buch erscheint; denn auch bei ihr gilt in übertragener Bedeutung, daß das Leben des Jesus in ihrem Sterben offenbar wird.
B. Zu unserer Predigt
1. Warum rühmen wir Prediger und wir Christen überhaupt nicht viel mehr, daß wir einen Schatz haben, reiche Leute sind?
Wir Prediger gleichen heute einer gewissen Sorte von schweizerischen Hotelbesitzern: sie jammern und klagen immerfort über schlechten Geschäftsgang und machen dabei recht gute Geschäfte! Aber solche Haltung ist unredlich.
2. Paulus betont als Prediger seine Menschlichkeit, er stellt sich als Glaubender vor. Seine ganze Existenz umschließt das Wort. Er schämt sich nicht, irdenes Gefäß zu sein, er schämt sich seiner Menschlichkeit nicht.
Darum soll sich der Pfarrer nicht schämen, Mensch zu sein. Die beste Theologie nützt ihm nichts, wenn er menschlich versagt. Der jüngere Blumhardt sagt einmal: „Wo das Licht Gottes in unsere Welt hereinkommt, da kommt es in Personen“ (Von der Nachfolge Jesu Christi, o. J., S. 16). Ein solcher Satz ist ein zusammenfassender Kommentar zu unserem Text. Wir können auch sagen: Das Wort Gottes kommt in Personen.
Deshalb muß ein Prediger des Evangeliums nicht nur die Theologie studieren, er muß lernen, Mensch zu sein, Mensch zu werden. Und nun bietet unser Konvikt eine Gelegenheit, in der wir lernen können, menschlich zu sein, Menschen zu werden. — Wie aber können wir diese Möglichkeit am besten ausnützen? — Gerade hier sind wir auf das Mitdenken und Mitraten von der Gemeinde her besonders angewiesen.
3. Den Schatz in irdischen Gefäßen haben, heißt doch: mit Leib und Seele beim Evangelium sein. Heute aber gehen viele junge Prediger mit der Bibel um wie Techniker mit ihrem Rohstoff. Aus verschiedenen Kommentaren schreiben sie sich etwas zusammen und walzen das Ganze wie ein Walzblech in Richtung Gemeinde aus. Aber sie sind bei dieser Produktion von Walzblech, das sie Predigt nennen, nur technisch interessiert.
Es war ein großes Anliegen des Pietismus, daß der Prediger selber glaube, daß er mit seiner Existenz beim Wort sei. Dieses Anliegen darf nicht fallengelassen werden.
4. Wenn Paulus nur als Sterbender in der Kraft des Heiligen Geistes wirken kann, dann kann es der Pfarrer auch nicht anders. Zu diesem Sterben kommt es von zwei Seiten her:
a) von den Mitmenschen her. Paulus trägt das Sterben Jesu am Leib herum, weil er von Christenverfolgern und von großen Gruppen innerhalb der christlichen Gemeinde angefochten wird.
Das Sterben vollzieht sich in der Gemeinschaft. Und nun noch einmal: Das Konvikt bietet die Möglichkeit, fröhlich das Sterben zu üben. Aber hier stellt sich wiederum die Frage: Wie kann man das?
b) Das Sterben erfolgt vom Wort her. Dazu sei unter den Punkten 5. und 6. noch zweierlei genannt.
5. Ist der Prediger mit seiner ganzen Existenz bei der Sache, so stirbt er am Wort. Schaut er nicht auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare, wird er frei vom Erfolgsdenken. Er predigt und wirkt dann auf die kommende Auferstehung und nicht auf das Urteil der Leute hin.
Und diesen Aspekt haben wir völlig verloren, den Blick aufs Letzte. Dem Teufel gelang es, die Statistik in der Kirche einzuführen, und nun blicken wir alle immer wieder gebannt auf Zahlen, auf Erfolg und Mißerfolg, blicken kurzsichtig auf das bißchen Rauch und Nebel, das wir produzieren. Paulus aber will uns hier den Weitblick schenken, den Blick für das endzeitliche Werk Gottes.
6. Nach unsern Leitbildern, die wir von einer lebendigen Gemeinde haben, geht es darum, daß der Pfarrer möglichst intensiv die Laien für die kirchliche Arbeit einspannen kann. Gewiß sind Laien für den kirchlichen Dienst nötig. Aber diese Beschlagnahme der Laien hat zur Folge, daß sie ihre Kraft im kirchlichen Kreis erschöpfen und nicht zum Zeugnis vor der Welt kommen.
Hier gilt es umzulernen, so daß der Pfarrer die Laien nicht für seine Kreise und Kreislein rekrutiert, sondern sie zum Zeugendienst in der Welt ausrüstet. Erst wenn wir an unserem kirchlichen Egoismus sterben, werden wir frei für unsern Auftrag in der Welt (vgl. H. R. Weber „Mit den andern in der Welt“, Beiträge für Gemeindeaufbau und Evangelisation, Eine Schriftenreihe, herausgegeben von der Bibelschule Basel, Heft 10).
7. Es scheint mir wichtig, daß wir den Gedanken des „Austausches“, der Stellvertretung am Leibe Christi bewegen — gerade im Blick auf Predigt und Seelsorge.
Wenn ich das noch sagen darf: Vielleicht dürfen wir auch das Verhältnis zwischen Hochschule und Gemeinde unter diesem Gesichtswinkel betrachten. Wenn unsere theologische Arbeit fruchtbar sein soll, müssen wir die Gemeinde in unser Denken und Arbeiten hineinnehmen, dürfen wir in unserer Theologie nicht von der Gemeinde abstrahieren, sonst verflüchtigt sie sich in eitles Geschwätz.
Andererseits soll die Gemeinde wissen, daß hier oben für sie gelebt und gearbeitet und vielleicht auch einmal gelitten wird, damit sie, die Gemeinde, aus der Predigt des Evangeliums lebe.
„Denn alles geschieht um euretwillen, damit die sich mehrende Gnade durch die größere Zahl der Erretteten die Danksagung überfließen lasse zur Ehre Gottes.“
Quelle: Hans Walter Wolff, Jürgen Moltmann, Rudolf Bohren, Die Bibel als Menschenwort und Gotteswort. Dargestellt am Buch Jona und am Apostolat des Paulus nach 2. Korinther 4, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1959, S. 48-62.