Von Albrecht Goes
Paulus Gerhardt: so hat er sich ein Leben lang unterschrieben. und in einer Stunde besonderer Anfechtung hat er sich dann auch ausdrücklich auf St. Paulus berufen.
Das war. als man ihn im Berliner Konservatorium anklagte, da er sich weigerte, einen kurfürstlichen Revers zu unterschreiben, der unbedingte Toleranz gegenüber den Reformierten befahl. Er. Gerhardt, wollte gewiß nicht streiten, aber er wollte noch weniger auf Befehl schweigen. wo ihm die Einsicht in die Wahrheit das Reden befahl.
„Ich bin auch willig und bereit“ so schrieb er damals –, „mit meinem Blute die evangelische Wahrheit zu besiegeln und als ein Paulus mit St. Paul den Hals dem Schwerte darzubieten.“
Es ging dann nicht um den Hals und das Haupt, wohl aber um Amt und Brot: er blieb bei seinem Entschluß: es war ihm gewiß, daß es Augenblicke gibt, in denen ein Mensch nur dann die wahre Gewißheit im Gewissen erlangt, wenn er den Verzicht auf die vordergründige Sicherheit zu wagen bereit ist.
Paulus Gerhardt: und sogleich rufen wir, ermuntert durch die Physiognomie, die durch ein Bild aus Mittenwalde auf uns gekommen ist, jenes eine Tafelbild des Albrecht Dürer in unser Bewußtsein, und auf ihm die Paulusfigur. Nietzsche, merkwürdigerweise Nietzsche hat die beiden Dürer’schen Apostelbilder so besonders geliebt: er sah in ihnen den Durchbruch in die mittelalterliche Vorstellungen überwindende weltgültige, weltverantwortliche, männliche Form des Christenstandes.
Und ungerufen stellt sich auch ein die Assoziation zu dem in eben dieser Zeit entstandenen. Rembrandt zugeschriebenen „Mann mit dem Goldhelm“: man denkt das Bild und hört sogleich die Strophe aus Gerhardts Abendlied: „stell euch die güldnen Waffen / ums Bett und seiner Engel Schar“.
Paul Gerhardt: der Mann ist das Werk. Das soll heißen, daß wir uns bei ihm mit Biographischem kaum aufhalten müssen. daß es genug ist. zu wissen: daß hier ein Pfarrersleben, verdunkelt von den Schrecken und den Nachwirkungen des „Dreißigjährigen Krieges“, wie ein beispielhaftes Menschenleben siebzig Jahre gewährt hat – von 1607 bis 1676.
Wir nennen den Geburtsort: Gräfenhainichen, den Sterbeort: Lübben im Spreewald, die beiden Dienstorte: Mittenwalde und Berlin. Diaconus an St. Nicolai zu Berlin, unter diesem Signet lebt er in der Geschichte.
Er hat die Poeterei in Wittenberg gelernt, wie man Latein lernt; und gutes Latein und die Tabakspfeife blieben bei ihm. lebenslang. Er hat sich verheiratet, war früh verwitwet, sehr einsam zuletzt, kein Mann des sichtbaren Erfolges; Vater von Kindern, von denen nur ein Sohn zu Jahren kam, und auch dessen Spur hat sich ganz verloren.
Nur dies. Und dann dies sogleich: daß die einhundertdreißig Lieder, die auf uns gekommen sind, auf eine fast einzigartige Weise die drei Jahrhunderte, die seit seinem Tag vergangen sind, überdauert haben.
Der Liedermann Paul Gerhardt hat die Schöpfung Gottes mit guten, jasagenden Augen gesehen: die Morgenfrühe und die Abendschatten, den Jahresbeginn und die Sommerhöhe: das Jahr der Kirche dann, das ist: Advent, Christtag, Passionszeit, Ostern und Pfingsten.
Er hat seine Zeit und alle Zeit als Gotteszeit verstanden, den dunklen wie den hellen Tag; die Anfechtung in Leibesnot und in Gewissensnot: die Nacht der Angst und die Nacht des Todes, und eine Stunde, da sich ausweglose Armut vor ihm aufzutun schien, war ihm gerade recht, um seinen Anti-Melancholikus anzustimmen: „Warum sollt ich mich denn grämen?“
Er kannte sich in der zeitgenössischen Literatur aus, im barocken Spiel auch, und zuweilen mochte er auch selbst ein wenig mitspielen, ein wenig nur; im Grundduktus aber war er ein ernster Mann; vielleicht ein wenig streng: nüchtern eher als überschwenglich. Ein Bürgersmann, der sein bäuerliches Erbgut geistig verwaltete. Schüchtern vielleicht. aber gewiß nicht zaghaft; und gar nicht zaghaft, wo es um das Glaubenszeugnis ging. Er war kein „Mann von Welt“, aber einer, der mit dem Menschen, der am Zaun seines Pfarrhauses vorüberging, zu sprechen wußte. Mindestens im Geist, im Lied konnte er das. „Gib dich zufrieden“: das ist ein Zwiesprache-Lied, das mit dem Zweifel, mit der Müdigkeit, mit der Mutlosigkeit wirklich zu sprechen weiß. In Kraft solcher Sorge wurde er wirklich etwas wie der wahre Seelsorger der Christenheit auf Erden, und der ist er geblieben bis zum heutigen Tag.
Als er Pfarrer in St. Nicolai war, hatte er das große Glück, daß ein großer Tonsetzer, Johann Crüger, dort Organist und Kantor war, und daß ihm nach Crügers Zeit – in Johann Georg Ebeling ein zweiter Meister so zur Seite stand, daß seine Lieder wirklich in Windeseile zwischen Königsberg und Konstanz unter die Leute kamen: oft wohl im Flugblatt, und das war ein glückseliger Flug. Und dann kam das neue Jahrhundert, das 18. Jahrhundert. Gerhardt war tot, aber in Weimar. Köthen und Leipzig gab es den Arbeitstisch, an dem der cantor cantorum Johann Sebastian Bach seine Kantaten schrieb, das Weihnachtsoratorium und die Passionsmusik, und der hatte Kunstverstand und theologischen Sachverstand, differenzierenden Sinn genug, um zu merken, wer dieser Paul Gerhardt war.
Man vergegenwärtige sich des weiteren, daß es zwischen 1670 und unsrer Zeit kein evangelisches Alumnat gegeben hat. in dem eine Hausregel Morgen- und Abendandacht vorsah. wo nicht in sicherem Turnus diese Lieder wieder- und wiederkehren. Ich nenne Orte und Namen: Schulpforta also, Klopslock und Nietzsche; Lessing in Meißen, Hölderlin und Hegel im Tübinger Stift: ich denke an die Thomaner in Leipzig, an das Johanneum in Hamburg, an Mörike in Urach und Hermann Hesse in Maulbronn; den Paul Gerhardt haben alle gesungen: in der Stube der Frau Rat Goethe, in Schleiermachers Dreifaltigkeitskirche zu Berlin in Blumhardls Bad Boll.
Auch wir. Erbteil und Wirkung eines Werkes bedenkend. mögen uns vergegenwärtigen: wann ist es einem Dichterwort geglückt, jenseits von den Elementarbüchern Schulbuch. Gesangbuch unmittelbar im Leben präsent zu sein? Dem Volkslied ist das zuweilen geglückt; Goethe. Schiller. Mörike wohl, wenngleich selten. Vielleicht Wilhelm Busch, vielleicht Johann Peter Hebel im Markgräfler Land. Aber auf dem Flüchtlingstreck vom Jahr 1945, dem aus Danzig oder aus Breslau, bedurfte e keines Buchs, damit in hundert Gedächtnissen eine Zeile lebte wie Gerhardts Zeile: „Hoff’, o du arme Seele, hoff’ und sei unverzagt.“
Und wie nun wir? Es kann nicht ausbleiben, daß wir, in einem anderen Sprachgebiet erzogen und nun beheimatet, zuweilen Mühe haben, den Gerhardt’schen Wortschatz, seinen Tonfall und sein Gedankengut unmittelbar aufzunehmen.
Seine Strophen lassen sich nicht auf Seidenblatt schreiben („Nicht mehr auf Seidenblatt schreib ich symmetrische Reime“ heißt es in einem spätgoetheschen Verzicht), das Pergament eines alten Kirchenbuches taugte eher; am liebsten denke ich mirs in Holz geschnitzt, dies: „Kann doch selbst kein Tod uns töten“ oder dies: „Der aber, der uns ewig liebt, macht gut. was wir verwirren.“
Wir sollten uns die Mühe machen, einige der Gerhardt’schen Kardinaltexte Strophe für Strophe. Zeile für Zeile, ja Wort für Wort neu zu bedenken. Er macht es uns nicht leicht. Aber die Mühe lohnt sich.
Ich zähle in mir diese 15 Lieder:
Die güldne Sonne voll Freud und Wonne EG 449
Nun ruhen alle Wälder EG 477
Wie soll ich dich empfangen EG 11
Fröhlich soll mein Herze springen EG 36
Ich steh an deiner Krippen hier EG 37
Kommt und laßt uns Christum ehren EG 39
Auf, auf. mein Herz, mit Freuden EG 112
Zeuch ein zu deinen Toren EG 133
Nun danket all und bringet Ehr EG 322
Ich singe dir mit Herz und Mund EG 324
Ich hab in Gottes Herz und Sinn
Du bist ein Mensch
Befiehl du deine Wege EG 361
Warum sollt ich mich denn grämen EG 370
Ich bin ein Gast auf Erden EG 529
EG = Evangelisches Gesangbuch (Stammteil).
Quelle: Albrecht Goes, Dunkle Tür, angelehnt. Gedanken an der Grenze des Lebens, Eschbach: Verlag am Eschbach, 1997, S. 124-128.