Albrecht Goes über den Psalter: „Die Psalmen sind wie die Schuhe, in denen wir fest stehen und gut in den Tag hineinlaufen, und sie sind wie der Mantel, der uns im Wetter schützt. Wir lesen einen Psalm, und jeder Vers ersteht vor uns wie ein Baum biblischen Maßes, jeder sieben Leben hoch, breit und übermächtig.“

Der Psalter

Von Albrecht Goes

Ist auf deinem Psalter, Vater der Liebe, ein Ton seinem Ohre vernehmlich, so erquicke sein Herz!“ Ich weiß nicht zu zählen, unter wie vielen Himmelsstrichen ich die Goethesche „Harzreise im Winter“ bedacht habe. Zuwei­len konnte Brahms, ich meine das „Altrhapsodie“ genannte Fragment, das Brahms vertont hat. beistehen. Zuweilen war es nur eine Zeile aus dem Gedicht, nur dies „Aber den Einsamen hüll in deine Goldwolken“, und oft genug ging der Blick dann wirklich, von dem Wort Psalter geweckt, zu dem biblischen Buch hinüber, das Psalter heißt, auch Psalmen Davids. Und wirklich: dieses 150 Lie­der umfassende Buch, fast ein Büchlein nur. soll mir nicht aus Griffnähe kommen, solange ich lebe. Ich mache den Versuch, ein Christenmensch zu sein, und das Grundbuch des Christenmenschen ist, ich weiß, das Neue Testament, aber ich kann’s nicht leugnen: der Psalter steht mir noch näher, und wenn die Augen über die Strophen hingehen, dann denke ich, daß dies auch die Lieder waren, die Jesus geliebt und gelebt hat.

Sie sind eben das, was ich nicht bin: sie sind das Ganze. Es kommt alles in ihnen vor. was nur irgend im mensch­lichen Leben, ja überhaupt im Leben der Welt Raum hat, die Freude und die Trauer, der Dank und die Schwermut, die Angst und die Reue, das Reden und das Schweigen. Mann und Frau und Jugend und Alter, die Jahreszeiten und der Erdkreis, die Gebirge und das Meer, die Wüste und das fruchtbare Land, der Tanz und der Wein und die Harmonie der Sphären. Viele von diesen Liedern sind sehr große Kunstwerke: aber man kann auch vergessen, daß es sehr große Kunstwerke sind, weil sie einfältig sind, wie die Urlaute des Herzens einfältig sind. Sie sind wie die Schuhe, in denen wir fest stehen und gut in den Tag hineinlaufen, und sie sind wie der Mantel, der uns im Wetter schützt. Wir lesen einen Psalm, und jeder Vers ersteht vor uns wie ein Baum biblischen Maßes, jeder sieben Leben hoch, breit und übermächtig.

„Der Herr ist mein Licht und mein Heil, vor wem sollte ich mich fürchten?“ oder: „Du lässest Brunnen quellen in den Gründen, daß die Wasser zwischen den Bergen hin­fließen, daß alle Tiere auf dem Felde trinken und das Wild seinen Durst lösche“: so lese ich. Hieronymus hat so gele­sen. Thomas von Aquin, Bengel in Denkendorf. Schweit­zer in Lambarene, und der Graf Moltke im Zuchthaus Plötzensee. Sie hatten ihr Los, ein jeder das seine, wie ich das meine habe. Aber vor dem ewigen Gegenüber gibt es geheime und offenbare Gemeinsamkeit.

Quelle: Albrecht Goes, Dunkle Tür, angelehnt. Gedanken an der Grenze des Lebens, Eschbach: Verlag am Eschbach, 1997, S. 122f.

Hier der Text als pdf.

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