Von Jahresendflügelpuppen, Engeln und Spatzen. Himmel – zu „DDR-Zeiten“ erfahren
Von Klaus-Peter Hertzsch
Heinrich Heine, Zeitgenosse des jungen Marx, hat in seinen bekannten Versen das Programm und die Zielvision der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik wahrscheinlich ziemlich präzise vorweggenommen; deswegen wurden sie wohl auch häufig zitiert und in den Schulen gelernt:
„Ein neues Lied, ein besseres Lied,
oh Freunde, will ich euch dichten!
Wir wollen hier auf Erden schon
das Himmelreich errichten.
Wir wollen auf Erden glücklich sein
und wollen nicht mehr darben.
Verschlemmen soll nicht der faule Bauch,
was fleißige Hände erwarben.
[…]
Ja, Zuckererbsen für jedermann,
sobald die Schoten platzen.
Den Himmel überlassen wir
den Engeln und den Spatzen.“
Dabei waren die Engel natürlich nicht wörtlich zu nehmen. Sie galten allenfalls als Fabelwesen und Märchengestalten und sollten Kinderträume und Adventskalender möglichst nicht mehr bestimmen. Daß eine volkseigene Firma als Warenbezeichnung auf die Verpackungslisten geschrieben hatte „Jahresendflügelpuppen“, ist oft belacht worden – übrigens auch in den satirischen Zeitungen der DDR.
Nein, mit den Engeln waren eher die Kirchenleute gemeint, religiös geprägte Mitmenschen, achtbar, aber ein bißchen hinter der Zeit; die machten sich Gedanken über den Himmel, und ihnen wollte man das auch gern überlassen. Für den modernen Menschen sollte gelten, was Bertolt Brecht seinen Galilei, den Beobachter des Weltraums, sagen läßt: „Heute ist der 10. Januar 1610. Die Menschheit trägt in ihr Journal ein: Himmel abgeschafft.“
Der Himmel physikalisch betrachtet, Luftraum, Weltraum – dies sollte der Weitsicht des aufgeklärt atheistischen Zeitgenossen entsprechen und traf sicher auch das allgemeine Lebensgefühl der säkularisierten Menschen. Das wurde noch verstärkt, als der erste Mensch, Juri Gagarin, in den Weltraum flog und von einer großen Erfahrung berichtete, freilich auch bemerkte, Gott habe er dort nicht angetroffen. Jetzt erobert der Mensch den Weltraum, sagte man. „Wie der Mensch zum Riesen wurde“, hieß ein programmatisches Buch für die Jugend. Vielleicht ist es bezeichnend, daß die Amerikaner eher romantisch von Astronauten, also von Sternenfahrern reden, während man bei uns nüchterner von Kosmonauten, also von Weltraumfahrern spricht. Ikarus hatte in der DDR-Kultur vom Kinderfilm bis zum lyrischen Gedicht seinen festen Platz.
Sinnbild für ein glückliches Leben war eher die Sonne als der Himmel: In der Nationalhymne hieß es: „… daß die Sonne schön wie nie über Deutschland scheint“. Im Jugendlied sang man: „allen die Welt und jedem die Sonne, fröhliche Herzen, strahlender Blick“. Und die aufgehende Sonne war das Symbol der Freien Deutschen Jugend (FDJ). Der Himmel gehörte eher in die uns umgebende Natur, dort freilich auch wirksam für das Lebensgefühl, das fröhlich oder schwermütig sein konnte Ein viel gesungenes Kampflied der Internationalen Brigade beginnt:
„Spaniens Himmel breitet seine Sterne
über unsere Schützengräben aus.
Und der Morgen leuchtet in der Ferne.
Bald geht es zu neuem Kampf hinaus.“
In den neuen deutschen Volksliedern von Johannes R. Becher heißt es:
„Heimat, meine Trauer,
Land im Dämmerschein –
Himmel, du mein blauer,
du mein Fröhlichsein.“
Interessanterweise gibt es von Bertolt Brecht, der sonst mit Becher wenig im Sinn hatte, eine freundliche Interpretation dieses Verses, und zwar für Kinder „Brief an unsere jungen Pioniere“. Darin heißt es: „Himmel, du mein blauer – nämlich die Schönheit seines Landes, die unberührbar ist, auch wenn die Wölfe herrschen … Himmel, du mein blauer ist schön, weil es so zärtlich klingt. Der Dichter braucht nur das eine Wort Blau, und schon strahlt dieser Himmel“. Hier steht der blaue Himmel des Sommertags deutlich für ein positives Lebensgefühl. Christa Wolf ging freilich einen Schritt weiter. Ihr erster Roman hieß „Der geteilte Himmel“. Er erzählt von Rita und Manfred, den Liebenden, die sich aber dann doch trennen, weil sie in der DDR bleibt und er in den Westen geht. Denn Rita sieht ihre Zukunft hier, und Manfred sieht sie dort. Hier steht der Himmel einmal als Sinnbild für glückendes, erfülltes Leben. „Der Himmel“, resümiert die Autorin, „teilt sich immer zuerst, dieses ganze Gewölbe von Hoffnung und Sehnsucht, von Liebe und Trauer.“
Es ist sicher nicht zufällig, daß diese Metapher in einem Roman auftaucht, der in eine frühe Periode der DDR gehört. Damals hatte man noch den Mut zu Visionen. Im Weltjugendlied hieß es: „Freund, reih dich ein, daß vom Grauen wir die Welt befreien“. Später wurden die Zielbeschreibungen erheblich nüchterner und hatten nichts mehr von „Auf Erden schon das Himmelreich errichten“: sichere Arbeitsplätze, stabile Preise, verläßliche Renten, soziale Geborgenheit; allenfalls ein Idyll nach dem Muster „saure Wochen – frohe Feste“, fröhliche Kinder – zufriedene Alte. In der letzten Zeit der DDR verband sich mit dem Stichwort „Himmel“, mit Weltraumflug und Sommertag möglicherweise zusätzlich ein Gefühl von Sehnsucht, von Fernweh: über der gräben- und grenzendurchzogenen Erde der grenzenlose Himmel – Zugvögel, Wandervögel; „wie die Wolken dort wandern am himmlischen Zelt, so steht auch mir der Sinn in die weite, weite Welt“; „Ich wollt, mir wüchsen Flügel“. Als die Mauer fiel, schien sich solche Sehnsucht zu erfüllen.
Ich frage mich, was das Stichwort „Himmel“ heute bei den Menschen in den östlichen Bundesländern auslöst; heute: 1993,1994, 1995? Grundsätzlich, so vermute ich, haben sich die Vorstellungen kaum verändert: Himmel als Weltraum, Luftraum, Wetterbereich. Die Glücksvorstellungen sind unter der Wirkung von Markt und Werbung eher erd- und diesseitsbezogener geworden. Die Dominanz des Geldes läßt für Himmelsträume wenig Raum. Einnehmen, Ausgeben, Verbrauchen. Glücksvisionen erscheinen eher im Bild vom großen Los, das jemand gezogen hat. vom Stehen auf dem Siegerpodest nach hartem Kampf. Dabei zeigen Umfragen, daß eine Mehrheit der jungen Leute einfache und herkömmliche Wünsche hat: Arbeitsplatz. Familie, eine Wohnung, Reisen, gute Freunde. Das ist nicht der Himmel auf Erden aber das wäre ein gern gelebtes Dasein.
Freilich greift heute die Ernüchterung ja, die Frustration immer mehr um sich, denn die geweckten und gehegten Wünsche, auch die nicht mehr himmelfliegenden, erweisen sich als unerfüllt und unerfüllbar. Man kämpft im Gestrüpp des Alltags, und eine weitere Dimension, ein größerer Horizont, zu schweigen von einer himmlischen Transzendenz, kommt weder bei den Wünschen noch bei den Niederlagen in den Blick. Allenfalls in Ausnahmesituationen des Lebens oder zu Weihnachten ist es schön den Kopf einmal einen Augenblick über den Rand des Alltags hinaus zu strecken und jemanden singen zu hören: „Vom Himmel hoch da komm ich her“ oder „Schlaf in himmlischer Ruh“. Die Beziehung zur Kirche, die man für solch einen Himmel für zuständig hält, ist eher distanzierter, gelegentlich auch feindlicher als in DDR-Zeiten: die Enttäuschten sehen in der Kirche eine Geburtshelferin, womöglich auch Nutznießerin der neuen Verhältnisse, die Gewinner der neuen Ordnung dagegen werfen ihr vor, daß sie die alte nicht entschiedener bekämpft hat Wahrscheinlich wäre die Mehrzahl der Menschen in den neuen Bundesländern auch heute wieder gern bereit den Himmel den Engeln und den Spatzen zu überlassen wenn sie nur selber einen Fuß auf den Boden bekämen.
Bemerkenswert ist allerdings, daß hie und da – freilich in auffälliger Gleichzeitigkeit – das Märchen von Richard von Volkmann-Leander, einst an französischen Kaminen geträumt, wieder ausgegraben wird „Von Himmel und Hölle“. Der reiche Mann, der sich seinen Himmel für die Ewigkeit ganz nach eigenen Wünschen ausgestalten darf, erkennt zu spät, daß er sich mit diesen seinen Wünschen in die Hölle gewünscht hat. Ich halte es für möglich, daß mancher in einer ganz stillen Stunde davor träumt, er könne aufbrechen ins Unbekannte wie eins der Vater Abraham und für sich etwas finden – und sei es als Sehnsucht und fernes Ziel –, das wirklich verdiente „Himmel“ genannt zu werden.
Dr. Klaus-Peter Hertzsch ist Professor für Praktische Theologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena; in seinen Veröffentlichungen hat er sich als Literaturkenner bekannt gemacht.
Quelle: EMW (Hrsg.), Arbeitsheft Weltmission 94: Wie im Himmel so auf Erden, Hamburg 1994, S. 7f.