Autobiographische Skizze (1960)
Von Oscar Cullmann
Im Rahmen biographischer Daten versuche ich hier zu zeigen, was meine vor meiner Basler Zeit liegende Entwicklung für meine Basler Professur bedeutet hat, und umgekehrt, was diese Professur für mein weiteres Schaffen bedeutet
Zur Theologie bin ich auf ungewöhnliche Weise gekommen, nämlich nicht mit der Absicht, Pfarrer zu werden, sondern aus Interesse am Gegenstand des Studiums als solchem, das ich mir freilich zunächst eher als Nebenstudium gedacht hatte. Im Gymnasium meiner Vaterstadt, des damals deutschen Strassburg, lag der Religionsunterricht grossenteils in Händen ehemaliger Theologen aus Württemberg, die mit der Begeisterung und der Unbefangenheit der Generation aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg den theologischen Liberalismus vertraten. Durch diese Lehrer sowie die Pfarrer der ganz liberalen Aurelienkirche wurde ich in meiner Abneigung gegen alle Orthodoxie bestärkt. In der Obersekunda las ich für mich Schleiermachers «Reden über die Religion». Diese Lektüre begeisterte mich und trug, neben der Ermunterung durch meinen Geschichts- und Deutschlehrer, den späteren Theologieprofessor Charles Haider, nicht wenig zum Entschlusse bei, neben klassischer Philologie auch Theologie zu studieren.
Dieses doppelte Studium begann ich in dem inzwischen zu Frankreich zurückgekehrten Strassburg. Nachdem ich anfangs das Schwergewicht eher auf die Altphilologie gelegt hatte, fesselten mich bald stärker die spezifisch philologischen und historischen Fächer (zunächst nur diese) der Theologie, obwohl ich immer meine klassischen Studien als besonders wichtig zur Erfassung des Neuen an der neutestamentlichen Theologie angesehen habe und ansehe. Die Lektüre der «Geschichte der Leben-Jesu-Forschung» meines Landsmanns A. Schweitzer öffnete mir die Augen dafür, dass die historisch-exegetische Erforschung der Bibel durchaus nicht nur durch die Orthodoxie, sondern in der neuern Zeit sogar stärker durch die jeweils herrschende Philosophie verfälscht worden ist. Daher empfand ich das damalige Aufkommen der «Formgeschichte» als eine Befreiung: nun sollte mit der Willkür, mit der man zwischen wesentlich und unwesentlich, echt und unecht oft von weltanschaulichen Kriterien aus unterschieden hatte, aufgeräumt und statt dessen in der Evangelientradition nach den Formgesetzen und Glaubensmotiven der Urgemeinde gefragt werden, die hinter der Überlieferung stehen. Meine erste Veröffentlichung (1925) war diesem Problem gewidmet. Mein Strassburger Lehrer Baidensperger hatte in seiner suggestiven Exegese schon immer diese Tendenz vertreten. Bultmann begrüsste mich als Bundesgenossen.
Damals war ja die spätere Entwicklung der Bultmannschule nicht vorauszusehen, die heute auf Grund der folgenschweren prinzipiellen Forderung, die Texte von ihrer Bedeutung für unser existentialistisches «Selbstverständnis» aus zu beurteilen, die Exegese in eine Abhängigkeit von der herrschenden Philosophie bringt, die eher stärker ist als diejenige, in der sie früher der Orthodoxie oder dem philosophischen Idealismus gegenüber gestanden hatte.
Nach meinem in Strassburg abgeschlossenen Examen kam ich nach Paris als Gymnasiallehrer für Griechisch und Deutsch an die damalige «Ecole des Batignolles». Zugleich studierte ich an der Theologischen Fakultät bei M. Goguel; an der Sorbonne unter anderem bei A. Lods und Ch. Guignebert; an der Ecole des Hautes-Etudes bei dem Modernisten A. Loisy. Ich ahnte nicht, dass ich in Paris einmal zugleich Goguels, Guigneberts und Loisys Lehrtätigkeit übernehmen sollte. Das Jahr in diesem intellektuell so anregenden Zentrum war das fruchtbarste meiner Lernzeit. Zwar vertraten weder Goguel noch Guignebert noch Loisy die Formgeschichte — Goguel lehnte sie als Modeerscheinung sogar entschieden ab —. aber die Auseinandersetzung mit ihnen war doch sehr anregend.
Im Jahre 1926 wurde ich nach Strassburg als Studienleiter an das Thomasstift berufen, 1927 mit Griechischunterricht an der Universität beauftragt. In jenen Jahren entstand mein Buch über die Pseudoklementinen, die mich zugleich als frühe Entstellung des Evangeliums und als Quelle für das historische Problem: Synkretismus — Judentum — Judenchristentum interessierten. Die von Hegel inspirierte, allzu schroffe Gegenüberstellung von Judenchristentum und Heidenchristentum beeinflusst bis heute das Geschichtsbild der Anfänge des Christentums, als ob eine Auseinandersetzung mit dem hellenistischen Synkretismus erst spät auf heidenchristlichem Boden möglich gewesen wäre. Die Pseudoklementinen beweisen indirekt, dass die Verkündigung Jesu und der ersten Christen schon im Umkreis Palästinas einen jüdischen Synkretismus vorfand. Dieses Ergebnis ist durch die Entdeckung der Qumrantexte weitgehend bestätigt worden, und heute nehme ich diese Linie im Zusammenhang mit meinen Studien über das Johannesevangelium wieder auf.
Im Jahre 1930 wurde ich zum Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät Strassburg ernannt, wo die Zusammenarbeit mit Jean Hering fruchtbar wurde. In meinen Vorlesungen war ich bestrebt, von der Exegese jede Beeinflussung durch moderne, mir lieb gewordene Auffassungen des Christentums fernzuhalten. Erst durch dieses rein wissenschaftliche Bemühen gelangte ich allmählich zu einem tieferen theologischen Verständnis des mir Fremdartigen, von dem das Neue Testament spricht.
Zu gleicher Zeit setzte ich meine patristischen Studien fort und fand es besonders reizvoll, mein exegetisches Verständnis des Neuen Testaments für das Studium der Kirchen- und Dogmengeschichte fruchtbar zu machen. Nachdem W. Seston, der heutige Professor für römische Geschichte an der Sorbonne, die Theologische Fakultät Strassburg verlassen hatte, übernahm ich seine Dozentur für Alte Kirchengeschichte. Ich wurde aber bald, im Jahre 1938, als Nachfolger Eberhard Vischers nach Basel auf den mit einem Lehrauftrag für Neues Testament verbundenen Lehrstuhl für Alte und Mittelalterliche Kirchengeschichte berufen, den Franz Overbeck innegehabt hatte. Es fiel mir nicht leicht, die Universität meiner Vaterstadt zu verlassen. Aber die Aussicht, meine allzu geradlinige Laufbahn, die sich, von meiner Pariser Lehrstelle abgesehen, ganz im Strassburger Rahmen abgespielt hatte, zu unterbrechen, zog mich an, besonders auch die so glückliche Zusammensetzung der Basler Theologischen Fakultät und die einzigartige Begeisterung, mit der damals hier sowohl historische und exegetische als systematische Theologie betrieben wurde; nicht zuletzt die Ausrichtung meiner Lehrverpflichtung gerade auf meine beiden Fächer: Alte Kirchengeschichte und Neues Testament.
Ich hatte die Absicht, mich mit Kirchcngeschichte und Patristik hier ebenso ausgiebig wie mit Neuem Testament zu befassen, und in der Tat habe ich bis heute Freude an der Verbindung der beiden Disziplinen; ich lese als Neutestamentler besonders gern über Kirchengeschichte bis ins Mittelalter hinein. Die Aufgabe zu zeigen, wie es einerseits zur Entfaltung, anderseits zur Entstellung des neutestamentlichen Kerns unter dem Einfluss der Zeitströmungen kommt, ist ja besonders reizvoll und schärft zugleich den Blick für die Neuheit und Fremdheit der neutestamentlichen Offenbarung, die sich zu keiner Zeit in einen Synkretismus, so fein geartet er auch sei, einzwängen lässt. Daher kommt es auch, dass mir die Pflicht, von der neutestamentlichen Exegese die Einmischung moderner Denkrichtungen in jeder Form auch heute fernzuhalten, wichtiger geworden ist als die Feststellung, dass wir unbewusst alle an Voraussetzungen gebunden sind.
Wenn meine späteren Veröffentlichungen fast nur das Neue Testament und das Urchristentum zum Gegenstand haben, so sind sie doch durch meine kirchen- und dogmenhistorischen Studien befruchtet. Dass ich weniger über die spätere Zeit schreibe, mag mit der Art und Weise Zusammenhängen, wie die Kirchengeschichte in der Schweiz auf Grund der in dieser Hinsicht wohl nicht ganz glücklichen kirchlichen Examensordnung als rein propädeutisches Fach aufgefasst, also unter den Studenten nur von den Anfängern betrieben wird, so dass die kirchengeschichtlichen Vorlesungen und Seminarien für den Dozenten nicht in der gleichen Weise anspornend wirken wie die neutestamentlichen.
Um so stärker war die Anregung, die ich von Anfang an in Basel in anderer Hinsicht empfing: von der Verbindung unserer Fakultät mit den verschiedensten Kirchen und Ländern, die aus ihr ein einzigartiges ökumenisches Zentrum der Theologie macht; von der humanistischen Tradition, die in den Beziehungen zu den Basler Kollegen der anderen Fakultäten, aber auch in der ganzen Stellung der Universität innerhalb des Basler kulturellen Lebens zum Ausdruck kommt. Der verhältnismässig kleine Rahmen und die weltweite Aufgeschlossenheit machen den Vorzug unserer Fakultät aus. und sie haben auch meine Schriften befruchtet. In dieser Atmosphäre sind meine grösseren Arbeiten über die neutestamentliche Theologie entstanden.
Meine hier kurz gezeichnete Entwicklung ist von Karl Barth nicht direkt beeinflusst worden. Sie war von der seinen auch ganz verschieden. Und doch bin ich von meinem ganz andern — ursprünglich untheologischen — Ausgangspunkt aus zu einer Forderung gelangt, in der wir uns theologisch, bei aller Verschiedenheit, finden: dem gehorsamen Hören auf die Fremdheit der Bibel. Ohne dass wir durch unsern Unterricht an der Fakultät in direkten gegenseitigen Beziehungen stünden, bin ich mir dieser Gemeinschaft doch bewusst. Sie grenzt uns gegenüber der heutigen Bultmannschule ab, insofern wir das Geschehen, das Gegenstand der biblischen Offenbarung ist, nicht mit der Glaubenserfahrung in eins setzen, sondern es als solches ernst nehmen.
Mit meinem verstorbenen Kollegen K. L. Schmidt hatte ich die positive Auffassung der Formgeschichte gemeinsam, nach der die Erforschung der Traditionsgesetze nicht nur das negative Ziel, die Feststellung der Entfernung der Urgemeinde von Jesus, zum Gegenstand hat, sondern uns helfen soll, dem historischen Jesus näherzukommen. Mit seinem Nachfolger Bo Reiche verbindet mich unsere gemeinsame Auffassung der Exegese in fruchtbarer Zusammenarbeit: sie gibt der neutestamentlichen Forschung, wie sie in Basel betrieben wird, in der heutigen theologischen Lage ihr besonderes Gesicht.
Anderseits habe ich es der internationalen Aufgeschlossenheit und Grosszügigkeit Basels zu verdanken, wenn ich neben der wissenschaftlichen Konzentration meine so anregenden Beziehungen und meine Tätigkeit ausserhalb Basels entfalten darf. Ich habe ja gleichzeitig meine Lehrverpflichtungen an der Pariser Ecole des Hautes-Etudes, der philosophischen Fakultät der Sorbonne und der Theologischen Fakultät in Paris zu versehen. Den äusserst fruchtbaren Kontakt, den ich dort als Dozent mit den Profanhistorikern, Kollegen und Studenten, aber auch mit katholischen Kollegen habe, möchte ich nicht mehr missen. Auch meine Tätigkeit in Rom und in New York kommt meiner Basler Arbeit zugute, so wie es mir umgekehrt wertvoll ist, in jenen auswärtigen Zentren das zu vertreten, was ich hier erarbeite. Viele meiner Publikationen, etwa mein Petrusbuch, hängen mit diesen auswärtigen Beziehungen zusammen, wenn auch Basel der Ort ist, wo ich die Anregungen zur wissenschaftlichen Ausführung bringe. Solange es mir die Gesundheit erlaubt, möchte ich daher von Basel als Wohnort aus meine Doppeltätigkeit in Basel und Paris weiterhin verbinden. Zwei Basler Häuser sind es vor allem, die in der zweifachen Beziehung, der Konzentration und der ökumenischen Aufgeschlossenheit, das versinnbildlichen, was mein Lehrstuhl hier für mein Schaffen bedeutet: das Alumneum an der Hebelstrasse mit seiner von mir seit zwanzig Jahren betreuten und mir besonders lieb gewordenen ökumenischen Institution, und das theologische Seminar am Rheinsprung mit seinem offenen Blick auf den Länder und Menschen verbindenden Rhein.
Quelle: Oscar Cullmann, Vorträge und Aufsätze 1925-1962, hrsg. von Karlfried Fröhlich, Tübingen: J.C.B. Mohr, 1966, S. 683-687.