Ernst Troeltsch, Meine Bücher (1921): „Die Philo­sophie als solche war in ihrem damaligen Zustande wenig ver­lockend; Medizin interessierte mich nur theoretisch. Also wurde ich Theologe. In der Theologie hatte man damals so ziemlich den einzigen Zugang zur Metaphysik und äußerst spannende historische Probleme zugleich. Mit dem Praktischen mochte es dann nachher werden wie es wollte. Ein urwüchsig starker religiöser Drang schien dafür zu bürgen, daß das schon irgendwie möglich sein würde.“

Meine Bücher (Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellung)

Von Ernst Troeltsch

Selbstanzeigen größten Stiles, wie sie diese Blätter aufweisen, haben ihre bedenkliche, aber auch ihre sehr nützliche Seite. Die bedenkliche versteht sich von selbst und hat mich auch zunächst abgeschreckt. Der Herr Verleger wußte aber die nützliche sehr einleuchtend zu machen; eine authentische Selbstinterpretation könne bei allen Irrtümern und Selbstmißverständnissen des Autors doch dem Leser das Eindringen sehr erleichtern und viele Irrtümer und Mißverständnisse der Auffassenden ausschließen. Ich habe dann die Sache in der Unruhe einer endlosen Verpflichtung nach allen möglichen Seiten lange liegen lassen und glaubte, daß der Plan durch die ganze Lage des Büchermarktes unmöglich geworden sei. Nun erfahre ich aber, daß er trotzdem durchgeführt werden kann und soll und daß man auch von mir eine solche Selbstanzeige er­warten zu dürfen glaubt. Ich muß daher in der Unruhe und Müdig­keit des Semesterendes nun doch einen solchen Versuch machen. Es fällt mir unter solchen Zwangsumständen vielleicht auch leichter als bei ruhiger und langsamer Arbeit, wo ich fürchte, daß sich mir die Bedenken doch allzusehr häufen würden. Freilich kann sich diese Skizze dann auch an Gediegenheit nicht mit den übrigen messen; das wäre aber auch ohnedieß der Fall, da ich leider noch kein fertiges System besitze und die mir eben vorschwebenden Grundzüge eines solchen nicht gerne im Zustande der Unfertigkeit zeige.

Mein Erkenntniswille war von früher Jugend an auf die histo­rische Welt gerichtet, ganz ähnlich wie bei Dilthey. Von der Schule, einem bayrischen humanistischen Gymnasium alten Stiles mit wundervoll wenig Unterrichtsstunden, wurde durch einige tüchtige Lehrer dieser Drang mit Stoff und Nahrung versehen. Für die Naturwissenschaften sorgte das Elternhaus, das Haus eines Arztes, der mich gern zum Mediziner machen wollte und frühzeitig in naturwissenschaftliche Beobachtung und Sammlung hinein­trieb. Da gab es Skelette, anatomische Atlanten, elektrische Ma­schinen, Pflanzenbücher, Kristallbücher usw. So kam es, daß ich von Anfang an alle historisch-kulturphilosophischen Probleme im Rahmen eines naturwissenschaftlichen Weltbildes sehen lernte und die Ineinanderfassung beider Welten als ein brennendes theoretisches und praktisches Problem zugleich empfand. Es waren ja überdies die Zeiten der Nordauschen Kulturlügen, der Dubois-Reymondschen Reden, der Scherr, Hellwald usw. Der Darwinismus als Philosophie wurde damals, in den 80er Jahren, populär. Es gab also Anlaß genug sich seiner Haut zu wehren, und das in jenen Jahren übliche Schwanken zwischen Materialismus und Idealismus verschiedener Art war mir nur allzufrüh vertraut. Als ich 1884 die Universität bezog, schwankte ich bezüglich des Berufsfaches. Juris­prudenz schien mir ein Schlüssel zum Verständnis der Geschichte, die ich frühzeitig als durch die Art der Institutionen bedingt auffaßte. Doch konnte das natürlich als Antrieb für wirkliches Rechts­studium und eine Beamtenlaufbahn nicht ausreichen. Auch die klassische Philologie, in die uns unsere Schule ungewöhnlich tief hineingelockt hatte, fesselte mich; aber die Erfahrungen an den damaligen Schulmeistern hatten zu deutlich gezeigt, daß hellenische Lebensideale heute in der Praxis nicht realisierbar sind. Die Philo­sophie als solche war in ihrem damaligen Zustande wenig ver­lockend; Medizin interessierte mich nur theoretisch. Also wurde ich Theologe. In der Theologie hatte man damals so ziemlich den einzigen Zugang zur Metaphysik und äußerst spannende historische Probleme zugleich. Mit dem Praktischen mochte es dann nachher werden wie es wollte. Ein urwüchsig starker religiöser Drang schien dafür zu bürgen, daß das schon irgendwie möglich sein würde.

Ich habe die der Theologie gewidmeten Jahre nie bedauert. Ganz im Gegenteil. Die Theologie war damals als historische Theo­logie eine der interessantesten, spannendsten, revolutionärsten Wissenschaften. Vom Alten Testament her ergriffen uns Wellhausen, Kuenen und Reuß, drei der allerhervorragendsten Forscher des Jahrhunderts. Im Neuen Testament stieß man durch alle übliche Apologetik hindurch auf die Baur sehe Schule und ihre kühnen Gedanken, vor allem auf Carl Weizsäcker. In der Kirchen­geschichte reizte Hase den Geist und begann Harnack damals ein neues organisches Bild des Werdens aufzubauen. Das alles eröffnete ungeheure Horizonte, und, als ich mich dann in Göttingen habilitierte, erwuchs im intimsten Verkehr mit bedeutenden Men­schen, wie Bousset, Wrede, Hackmann, Gunkel und Albert Eichhorn ein religionsgeschichtliches Denken von den größten Ausmaßen und den feinsten Einzelproblemen. Da ging es dann nicht mehr ohne Philologie weiter. Wir lernten von Lagarde und den klassischen Philologen. Die historische Welt wurde fabel­haft reich und interessant. Natürlich aber war mir alle diese Historie zuletzt doch nur ein Mittel, in den Kern des religiös-metaphysischen Bewußtseins einzudringen. Mein Lehrer Albrecht Ritschl war ein scharfer Logiker, ein höchst systematischer Kopf und eine groß geschnittene originale Persönlichkeit. Ihm danke ich einen Einblick in Psychologie und Logik der christlichen Dogmenbildung, wie man ihn sonst nicht leicht irgendwo lernen konnte. Aber während so der Dogmatiker mir klar machte, wie unverständlich die euro­päische Geistesgeschichte ohne Kenntnis ihrer lange Zeit alles be­herrschenden theologischen Ingredienzen ist, blieb mir natürlich doch immer die praktische Lebensfrage nach dem Recht der religiösen Lebensposition gegenüber dem alles verschlingenden modernen Natu­ralismus im Mittelpunkt. Darüber vermochten mir nun meine Theo­logen nicht sehr viel zu sagen. Sie stammten aus Zeiten, wo man in diesen Dingen noch harmloser und naiver war und wo eine charakter­volle — manchmal freilich auch bloß salbungsvolle — Gläubigkeit ihrer selber sicherer war, als wir jungen Menschen das sein konnten. In diesen Fragen hatte mich gleich anfangs mein Erlanger Lehrer Gustav Claß sofort auf Lotze hingewiesen und damit hatte ich sofort das Studium der Originalschriften von Kant, Fichte und Schleiermacher verbunden. Lotze aber wurde der eigentlich bestimmende Geist. Ich sollte ihn persönlich nicht mehr kennen lernen, da er gerade, als ich nach Göttingen kam, nach Berlin über­siedelte. Aber ich habe seine Bücher in jenen grundlegenden Jahren wieder und wieder gelesen. Damit verband sich dann später ein sehr starker Einfluß Diltheys, dessen neue Psychologie mich dabei am meisten interessierte, weil sie dem auch von Lotze be­tonten Gedanken des Individuellen und der psychischen Neu­schöpfungen nähere, wenn auch nicht befriedigende Ausführung gab. Studien in der Geschichte der Philosophie, antiken Autoren und solchen des 17. Jahrhunderts, befestigten die hier gewonnenen Einsichten und ergaben zunächst eine psychologische Theorie, die das Wesen des geistigen Lebens gegenüber der Körperwelt sicher stellten und die unmittelbare Selbstgewißheit der idealen Lebensgehalte von allem Naturalismus grundsätzlich unabhängig machten. Der Beweis schien mir wesentlich in der Selbstgewißheit des Erlebens zu liegen, die Verträglichkeit mit den Naturwissen­schaften in einer Besonderheit der geisteswissenschaftlichen Methoden und in einer grundsätzlich idealistischen Deutung der Körper­welt, so wie sie Lotze und Leibniz vertraten.

Von diesen Grundlagen aus traten die beiden großen Problem­gruppen, die historischen der Religions- und Geistesgeschichte, und die metaphysischen der Psychologie und der Entwicklungsgeschichte des Geistes; eng zusammen. Daß das eine stark metaphysisch inter­pretierte „verstehende“ Psychologie war und neben einer experi­mentellen und naturwissenschaftlichen Psychologie sich behaupten mußte, war mir natürlich klar. Ich zweifelte aber nicht, daß die Sache von solcher Psychologie aus angreifbar sei. Das Problem wurde so eine allgemeine Entwicklungsgeschichte des religiösen Geistes auf der Grundlage seiner Verwurzelung im allgemeinen Leben und die besondere Stellung und Beurteilung des Christen­tums in dieser universalen Entwicklung. Das war nun freilich eines jener übermenschlichen Probleme, mit denen unerfahrene Jugend beginnt. Die in Fachwissenschaft und Psychologie erlernten Methoden strenger Erkenntnis machten mir bald klar, daß der­artiges nicht wohl durchführbar ist, mindestens erst ganz am Ende kommen kann. So schob ich es denn auch immer weiter hinaus und nahm mir zunächst die Aufgabe vor, diese Entwicklung zuerst am Christentum selbst im engeren Zusammenhänge der bloß euro­päischen Kulturgeschichte aufzuweisen, um dann damit dessen charakteristische gegenwärtige Situation möglichst klar und vor­urteilslos zu begreifen. Das war immer noch eine übermenschliche Aufgabe, wie man denn damals überhaupt in der Theologie vor allem solche große synthetische Aufgaben aus dem Zwang der Sache heraus als notwendig empfand und sich durch alles Spezialistentum nicht irre machen ließ. Auch in dieser Hinsicht war die Theologie damals eines der interessantesten Fächer. In ihr gab es immer noch am meisten wissenschaftliche Allgemeinkultur. Man mußte sie natürlich auch dort erst suchen, aber man konnte sie doch wenigstens finden.

Natürlich verengte sich auch diese Fragestellung. Trotz gründ­licher Studien über christliche Urgeschichte, alte Kirche und Mittel­alter reizte mich doch vor allem die Entstehung der modernen Lage und ihrer Probleme, was ja zugleich auf den Kampf und die Aus­einandersetzung der wesentlich überlieferten religiösen Mächte mit den neuen, in der Philosophie vor allem sich ausdrückenden Geistes­mächten führte. So stellte ich mir in der Erstlingsarbeit über „Melanchthon und Johann Gerhard“ das Problem der Philo­sophie der Reformatoren, wobei der im Grunde noch ganz mittel­alterliche Charakter des reformatorischen Denkens und dessen Vereinfachung durch uralte, in der Kirche immer heimische und jetzt von der Renaissance belebte stoische Elemente sich ergab. Gleichzeitig hatte Dilthey dasselbe Thema angefaßt und kam zu genau übereinstimmenden Resultaten, obwohl wir beide damals voneinander noch nichts wußten. Damit war eines meiner Haupt­probleme eröffnet und von da aus rollten sich die weiteren Frage­stellungen auf. Denn von da aus setzte die Frage ein, von wann denn überhaupt die moderne geistige Gesamtlage datiere, die Durch­setzung einer autonomen weltlichen Bildung und Kultur gegen die theologisch gebundene. Die Antwort meiner Studien war: seit der Aufklärung. Sie erst hat die Anregungen und Konsequenzen der politisch-sozial-ökonomischen Verweltlichung, der Renaissance und vor allem der großen Philosophie des 18. Jahrhunderts zu einer Macht des öffentlichen Lebens, zu einem Bildungs-, Lebens- und Unterrichtssystem umgebildet und die supranaturalen Mächte von Kirche und Theologie in den Hintergrund gedrängt, auf ihre engere praktische Sphäre beschränkt. Diese Dinge behandelten eine Masse von höchst peniblen und schwerfälligen Artikeln, die in dem großen Massengrabe der „Realenzyklopädie für prot. Theologie und Kirche“ beigesetzt sind. Auch diese Arbeiten berührten sich näher mit gleichzeitigen Diltheyschen Arbeiten, auf die ich mich nun warf, und von denen ich nach Vermögen zu lernen suchte. Er vor allem war es, der mich dann von da zu der Problemstellung des Endes der Aufklärung und des deutschen Idealismus weiter­führte, Themata, die ich dann am gleichen Orte behandelte. Schließ­lich erlebten alle diese Arbeiten, vertieft durch ein neu aufgenom­menes Studium der Reformatoren und der folgenden Orthodoxie, eine Art Verjüngung und Auferstehung aus dem Massengrabe in dem großen Buche, das als „Geschichte des Protestantismus“ ein Bestandteil der Hinnebergschen „Kultur der Gegenwart“ ge­worden ist. Sie sind dabei, wie ich hoffe, auch etwas leichter und eleganter geworden, wie ich denn überhaupt die Angst vor den deutschen Kollegen, man könne sich durch zu starke Betonung der literarischen Form kompromittieren und als unwissenschaftlich für viele Ehren ungeeignet machen, immer mehr zu überwinden gesucht habe.

Neben diesen historischen Studien gingen nun aber die reli­gionsphilosophischen ununterbrochen her. Sie erweiterten sich durch die Natur des Problems von selbst zu allgemeinen psycho­logischen, erkenntnistheoretischen und geschichtsphilosophischen Studien. Es wurde mir zum Grundgedanken, daß die Religion als ein Bewußtseinserlebnis zunächst psychologisch unter Offenlassung der verschiedensten konkreten Gestaltungen studiert und in ihre ver­schiedenen Komponenten und Äußerungen zerlegt werden müsse, daß erst dann die Frage nach dem Wahrheitsgehalt und nach dem Wertverhältnis der verschiedenen konkreten, geschichtlichen Reli­gionen einsetzen könne. Das führte naturgemäß auf die Frage des Übergangs von psychologischen Beschreibungen und Analysen zu kritischen Untersuchungen über Wert und Wahrheitsgehalt, da­mit auf die Probleme des Verhältnisses von psychologischer Analyse zu gültigkeitstheoretischer Anerkennung. Hier konnte nun der Anschluß an Dilthey nicht mehr viel helfen, dessen von ihm selbst empfundene Schwächen vor allem an diesem Punkte lagen. Über­haupt war nun mit den reinen Psychologen, auch mit dem von mir eine Zeitlang besonders hochgeschätzten Wundt, nicht mehr viel anzufangen. Auch Eucken, dessen stark metaphysische Deu­tung der Psychologie mir zunächst als Brücke dienen zu können schien, konnte mich nicht auf die Dauer beruhigen. Es ging nicht anders: ich mußte nun prinzipiell in die antipsychologistische Gültig­keitstheorie hinein. Gleichzeitig kam ich mit Windelband und Paul Hensel über derartige Untersuchungen zu nahem persön­lichem Verhältnis, und unabhängig davon wurde ich von Rickerts scharfer Logik außerordentlich stark hingerissen und gefördert. Nun sah ich all diese Probleme neu. Mein Vortrag in St. Louis über „Psychologie und Erkenntnistheorie in der Religionswissen­schaft“ 1905 und meine Studie über das „Historische in Kants Re­ligionsphilosophie“ 1904 bezeichnen diese Wendung der Problem­stellung. Ein großer Aufsatz über Religionsphilosophie in der Kuno Fischerfestschrift von 1906 entwarf dann von diesem schließ­lich die philosophische Gesamtansicht einbegreifenden Stand­punkt aus die Aufgabe einer durch alle diese Problemschichten hin­durchgehenden Religionswissenschaft, ähnlich wie man gleich­zeitig die Aufgabe einer allgemeinen Kunstwissenschaft umschrieb. Mit den historischen Arbeiten berührte sich diese Aufgabe dadurch, daß jene ja gerade den modernen Problemstand, wie er aus der Zersetzung der supranatural-kirch­lichen Theologie und der Er­setzung der Dogmatik durch Religionsphilosophie sich ergab, for­mulierten und aufnahmen, also geradezu als Ergebnis der Ein­sichten in die Entwicklungsgeschichte des modernen Geistes zu bezeichnen waren.

Im Mittelpunkt der so entstandenen Problemlage stand dann von beiden Seiten her die Frage nach dem Rechte der ausschließ­lichen und absoluten Geltungsforderung des Christentums. Ich habe sie in dem Buche „Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte, 1902“ beantwortet. Daran mußten sich dann natürlich weiter Untersuchungen über das anschließen, was man. heute überhaupt als Christentum bezeichnen kann, angesichts seiner außerordentlichen historischen Variationen und seiner see­lischen Krisis. Leider habe ich dann kaum Zeit gefunden, das so entworfene und in Einzelteilen erläutert Programm wirklich durch­zuführen, obwohl ich das bloße Maulheldentum der Programme widerwärtig finde und selbst nach Möglichkeit vermeide. Allein es waren eben doch eine Reihe noch unfertiger Stellen in diesem Programm. Vor allem die neukantische Geltungslehre ist zwar gegenüber der bloßen Psychologie eine Erlösung und Klärung. Aber ihre Neigung, alle Gegenständlichkeit zu einem Erzeugnis des Subjektes zu machen, das sich nur durch seine apriorische Not­wen­digkeit von der bloßen Zufälligkeit der Durchschnittserzeugnisse unterschied, war doch der reine, unmittelbare Gegensatz und Wider­spruch gegen den religiösen Gedanken selbst, der mit ihm als geltend zunächst erwiesen werden sollte. Eine derartige Stellung aller Er­kenntnis rein auf die Spitze des Subjektes und die Verwandelung aller Realität in Produktionen des Subjektes ist dann überhaupt doch das reine Gegenteil aller natürlichen Realitätsempfindung. Hier mußte also irgend etwas nicht in Ordnung sein. Damit geriet die ganze Ideenmasse wieder von neuem ins Rollen. Die „Geltungs­philosophie“ mußte irgendwie ein Durchgangspunkt zur Metaphysik sein, die erst aus ihr entwickelt werden kann, jenen einseitigen Subjektivismus aber wieder als bloß vorläufige Ansicht der Sache aufheben muß. Die Ergebnisse dieser Erwägungen sind mitten im Gange, ich mag und kann sie aber noch nicht mitteilen. Ich deute nur an, daß mir die Lösung in der Richtung Malbranche, Leibniz und Hegel ungefähr zu liegen scheint. Vorerst habe ich nur die verschiedenen Zeugnisse eines durch diese logisch eng zusammenhängenden Studien sich hindurchtastenden Denkens gesammelt in dem zweiten Bande meiner „Gesammelten Schriften“ 1913 bei welcher Gelegenheit ich bemerke, daß dieser Titel nur die Neubearbeitung und systematische Anordnung schon gedruckter Arbeiten bedeuten soll. Ein Rezensent hat gemeint, daß man seine „Gesammelten Werke“ doch nicht so jung herauszugeben pflege, sondern so etwas doch erst nach seinem Tode tue. Da Selbst­anzeigen doch immer ein klein bißchen Selbstempfehlungen sind, möchte ich diese Gelegenheit einer moralischen Selbstrechtferti­gung nicht versäumen.

Doch gab es noch einen Grund der mich verhinderte, dieser Aufgabe einer Ausarbeitung der Religionsphilosophie und damit des philosophischen Systems mich hinzugeben. Ich wurde durch ge­wisse sich mir neu aufdrängende Problemstellungen von neuem in die historischen Untersuchungen über Wesen und Geschichte des Christentums hineingerissen, und zwar mit fast stürmischer Be­wegung. Praktische Aufgaben der Sozialpolitik, Nachdenken über politische und soziale Dinge, der ganze, bei dem Deutschen ja so überaus spät, wenn überhaupt erfolgende Eintritt in die politische Pubertät: all das ließ mir auf einmal das Problem der Geistes­geschichte ganz anders, unendlich viel komplizierter und abhän­giger erschienen. Von diesen Eindrücken erregt, stürzte ich mich in soziologische Studien, die freilich weniger eine fertige Erkenntnis als eine neue Art zu sehen bedeuten. Die ganzen geschichtsphilo­sophischen und entwicklungstheoretischen Ideen, die bisher ein­seitig ideologisch gewesen waren, wie bei Hegel und Dilthey und die doch eine so große Rolle auch in jeder Religionsphilosophie spielen mußten, verwandelten sich. Aus allen bisherigen Lösungen wurden neue Probleme. Zugleich geriet ich in den Bannkreis einer so übermächtigen Persönlichkeit wie Max Weber, dem diese für mich aufdämmernden Wunder längst Selbstverständlichkeiten waren. Und von da her ergriff mich die Marxistische Unterbau-Überbau­lehre mit der größten Gewalt; nicht als ob ich sie ohne weiteres für richtig gehalten hätte; aber sie enthält jedenfalls eine niemals zu umgehende, wenn auch in jedem Einzelfall besonders zu beant­wortende Fragestellung. Die Fragestellung war also die: wie weit ist Entstehung, Entwicklung, Abänderung, moderne Stauung des Christentums soziologisch bedingt und dieses selbst etwa ein aktiv gestaltendes soziologisches Prinzip. Außerordentlich schwierige Fragen, über die es kaum irgend brauchbare Vorarbeiten gab! Und doch konnte man von einer reinen Dogmen- und Ideenge­schichte des Christentums nicht mehr sprechen, wenn man dieses Problem begriffen hatte. Dieses Mal unterließ ich jede programma­tische Vorarbeit und machte mich statt alles bloßen Mundspitzens sofort mit unbeschreiblicher Mühe ans Pfeifen. Die Aufforderung zur Rezension eines elenden Buches von Nathusius über die „Soziale Aufgabe der evangelischen Kirche“ brachte mir meine und unsere Unwissenheit über diese Dinge zu Bewußtsein, und ich schrieb statt einer Rezension ein Buch von annähernd tausend Seiten. Das wurde nun eine Geschichte der christlich-kirchlichen Kultur, eine volle Parallele zu Harnacks Dogmengeschichte, bei der ich alles Religiöse, Dogmatische und Theologische nur als Untergrund der sozialethischen Wirkungen oder als Spiegel und Rückwirkung der soziologischen Umgebungen ansah, ja nach den Zeiten bald mehr so, bald mehr so. Um das allzu große Thema zu begrenzen begnügte ich mich, alles das wesentlich nur aus den Soziallehren der Kirche und Sekten, also aus den ethisch-sozialtheoretischen Doktrinen, zu erleuchten. Es zeigte sich der Auftrieb, den das ursprünglich utopisch-eschatologische Ideal wie ein Riesenspringquell dem überlagernden Gestein gibt, die zurück­lastende Wucht der profanen Lagen, die Kompromisse, neuen Revolutionen, Seitentriebe, schließlich das Erlahmen einer christlich-kirchlichen Kultur bei der Durchsetzung der modernen politisch-ökonomisch-sozialen Verhältnisse. Daher geht das Buch auch nur bis zum 18. Jahrhundert. Das Buch erschien unter dem Titel „Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“ 1911 als erster Band meiner „Gesammelten Schriften“, nachdem die ersten Teile bereits im Archiv für Sozialwissenschaften ver­öffentlicht worden waren. Bei der Beendigung hatte ich ein bißchen das Gefühl des Reiters über den Bodensee. Was hatte ich nicht alles gewagt! Mängel und Lücken sind hinterher leicht zu sehen. Aber ein wahreres Bild der historischen Wirklichkeit war gewonnen, als es die kirchlich-supranaturalistischen und die modern-ideologi­schen Darstellungen zu geben vermochten. Einen mir sehr wichtigen und am Herzen liegenden Nachtrag dazu bildete dann die Studie über „Augustin, die christliche Antike und das Mittelalter“ 1915.

Mit alledem war ich auch öffentlich ein bißchen über die theolo­gische Fakultät hinausgewachsen, deren praktische Erziehungs­aufgaben ich übrigens stets mit wärmster Verehrung für den großen Gegenstand und mit menschlicher Liebe zu meinen Schülern be­trieben hatte; alle Dogmatik sah ich als etwas Praktisches an, bei dem die Unklarheit und Unsicherheit menschlicher Erkenntnis ihre besonders große Rolle spielen, wo aber doch der praktische Haupt­wert sich den Herzen als brennende und treibende Kraft mitteilen ließ. Aber es ist verständlich, daß ich die 1915 sich bietende Gelegen­heit, an die Berliner philosophische Fakultät als Philosoph überzu­siedeln, annahm. Es war in der erregten Situation des Krieges, die auch die Federn der Gelehrten für sich in Anspruch nahm. Ich war durch die Studien an den Soziallehren mit der politisch-sozialen Denk- und Fühlungsweise der Angelsachsen in wichtigen Punkten vertraut geworden, durch die acht Jahre lang innegehabte Stellung als Universitätsvertreter in der badischen ersten Kammer an poli­tische Dinge gewöhnt. Daraus ergab sich eine ziemlich reiche An­teilnahme an der Publizistik während des Krieges. Andererseits gab der Umstand, daß ich die großen historischen Ereignisse wenig­stens teilweise sehr in der Nähe ihres Quellortes beobachten konnte, einen tiefen und lebendigen Eindruck vom Wesen historischer Schicksale, Entwicklungen und Katastrophen, wie ihn kein Bücher- und kein Quellenstudium so gewähren kann. Das alles aber war nur ein nebenbei wirkender Druck, wenn ich jetzt die Richtung auf grundsätzlich geschichtstheoretische Studien nahm. Die letzteren lagen, wie bereits angedeutet, von Hause aus in der Richtung meiner ursprünglichsten Interessen. Meine Religionsphilosophie bedurfte vor allem der Klärung der Frage nach dem Wesen und den Be­urtei­lungsmaßstäben der religionsgeschichtlichen Entwicklung. Der Versuch, an einer bestimmten Strecke diesen Gedanken tatsächlich durchzuführen, brachte mich in den Mittelpunkt aller soziologischen Probleme. Und ging man derart über das Religiöse auf das Ganze der Kultur hinaus, so sah ich mich erst recht, genau wie einst Schleiermacher, auf eine enge Verbindung von Geschichtsphilosophie und Ethik angewiesen. Von allen diesen Punkten her erwuchs mir als wesentliches Problem meiner gegenwärtigen Lage die theoretische und philosophische Seite der Geschichte, deren Verhältnis zur empirisch-fachmäßigen Forschung einerseits, zu einer Theorie der Kulturwerte oder der Ethik andererseits. Es ist das Problem, das ich in vielen Abhandlungen meines zweiten Bandes bereits aufgeworfen und — in diesem Punkte in vollem Anschluß an Schleiermacher — zu beantworten begonnen hatte. Auch hier mußte nun aus den Programmen die Ausführung werden. Ich machte mich zu diesem Zweck an eine kritische Durcharbeitung der geschichtsphilosophischen Theorien des Jahrhunderts, überall aus den Quellen, sowie an eine Begründung der eigenen Systematik, das letztere vor allem in der Auseinandersetzung mit Rickert und Windelband, die mir für die Gegenwart die brauchbarste Unterlage zu geben schienen. Die Ergebnisse davon sind zum guten Teil in der historischen Zeitschrift, der Kantstudien, Schmöllers Jahrbuch und dem Logos bereits veröffentlicht. Auch hier wird es einer endgültigen Zusammenarbeitung und Ergänzung bedürfen. Ich hoffe, wenn die Unruhe der Zeit es leidet, in einem oder zwei Jahren den ersten Band vorlegen zu können. Er wird die formale Geschichtslogik behandeln. Darauf wird ein zweiter mit der ma­terialen Geschichtsphilosophie folgen. Damit würde ich dann einen weiteren Teil meines Pensums, so gut es mir möglich ist, erledigt haben.

Und das System, das doch eigentlich zum Philosophen gehört? Es wächst natürlich mit alledem zugleich. Denn alle bisherigen Arbeiten sind doch Erledigungen bestimmter Punkte, sehr kon­kreter Einzelfragen, ohne deren Durcharbeitung für mich das System eben nicht zu erreichen wäre. Ein sehr stark wirklichkeitsgesättigtes, überall von der positiven Wissenschaft aus erst aufstrebendes Denken, wie ich es mir nach den ersten jünglingshaften System­träumen zur Pflicht gemacht hatte, muß über sehr viele konkrete Einzelfragen erst hinüber; ebenso, wie der von den Naturwissen­schaften aus operierende Philosoph durch sehr viel einzelwissen­schaft­liche Studien hindurch muß und am besten an einem ihrer Zweige sich eine Zeitlang fachmäßig zu tun macht. Freilich kann solche Arbeit philosophische Bedeutung und Ertrag nur haben, wenn sie mit Bewußtsein als eine wichtige Stellen des Systems auf­klärende oder unterbauende unternommen wird. Sie fordert also den Besitz einer grundsätzlichen philosophischen Systematik, aus der die Art der Fragestellungen und die Zuspitzung der Ergebnisse stammt. Umgekehrt wird natürlich wieder die Systematik von solchen steigenden Klärungen einzelner Punkte und Voraussetzungen mächtig gefördert und beeinflußt. Daraus ergibt sich allerdings ein einigermaßen labiles System und vor allem ein sehr spätes Fertig­werden des Systems, das beständig an sich selber reformiert. Natürlich muß ein solches System nach Präzision, Schärfe und Universalität streben. Aber da es doch stets nur aus dem Verkehr mit dem Objekt, aus der Hingabe an das Wirkliche erwachsen kann und aus diesem, kraft einer verborgenen Verwandtschaft und Zusammengehörigkeit des menschlichen Geistes mit der Wirklichkeit überhaupt, die Ordnungsprinzipien erst herausspüren muß, so ist es eben nicht rein logisch aus gewissen Grundaperçus zu deduzieren, sondern muß mit der ganzen Arbeit in fortwährender gegenseitiger Berich­tigung von Denken und Leben heranwachsen. Natürlich beruht ein derartiger Begriff des Systems auch auf einem bestimmten Begriff vom Wesen des Denkens und seinem Verhältnis zum Leben, Dinge, worüber man viel gestritten hat und noch streitet. Aber ein solcher Grundbegriff von theoretischem Denken ist selbst ein Hauptbestandteil des Systems und kann nur aus vielfacher eigener Denkarbeit in den positiven Wissenschaften erwachsen. Jedenfalls würde ich hierin eine der Hauptaufgaben des Systems meinerseits erblicken. Doch kann ich über diese Dinge hier keine Rechen­schaft geben, weil sie bis jetzt nur in Gestalt akademischer Vor­lesungen vorliegen und noch nicht reif zur öffentlichen Mitteilung sind.

Übrigens möchte ich betreffs des Systems einen Gedanken hier am Schlusse nicht unterdrücken. Natürlich bedarf der Philo­soph eines Systems; nur durch ein solches ist er Philosoph. Auch muß sein Leser oder wer sonst ihn verstehen will, Einblick in seine Systematik haben, weil nur dadurch die Voraussetzungen und Denkrichtungen des Autors und damit seine etwaigen, be­sonderen Einzelthematen gewidmeten Studien verständlich werden. Auch wird er erst dadurch mit anderen Philosophen vergleichbar und in die großen Reihen möglicher philosophischer Grundstellungen einreihbar. Aber alles das läßt sich auch erreichen durch genaue Angabe des systematischen Ortes und präzise Enthüllung des systematischen Hintergrundes an den dazu geeigneten Stellen der Einzelforschung. Das System ist im Grunde heute doch wesent­lich eine persönliche Angelegenheit des Autors, die genaue Her­stellung und Darstellung seines intellektuellen Hintergrundes und seines philosophischen Betriebsvermögens. Aber eine ausführliche Darstellung des Systems für sich selber ist doch nur ausnahmsweise wirklich wünschenswert. Die großen Systementwürfe der Ge­schichte der Philosophie sind selten und bilden einige wenige große Familien. Die letzten hundert Jahre kennen im ganzen kein wirklich neues System, sondern kombinieren und ändern in der Hauptsache alte Systeme, während es äußerst bedeutende Ausführungen über Einzelthemata reichlich gibt. Wirkliche philo­sophische Systeme wird es vermutlich nicht viel mehr geben als politische und religiöse oder als künstlerische Stile. Die sogenannten Systeme der modernen Autoren sind Mittel zum Verständnis ihrer eigentlichen Hauptwerke, die auf Einzelthemata gerichtet sind, Werkzeuge der Selbstkontrolle und der Kontrolle durch andere. Daß darunter sich ausgezeichnete, geist- und lehrreiche Sachen finden, ist selbstverständlich. Aber den großen antiken Systemen, denen des 17., des endenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts kommt doch nichts von Ferne gleich. Was wir heute treiben, ist alles Epigonenwerk, wenn auch kein totes und überflüssiges. Zum mindesten ist es das auf dem Gebiete der Systembildung. Mein Lehrer Paul de Lagarde pflegte den trefflichen Lotze den „epigonsten der Epigonen“ zu nennen. Das ist unzweifelhaft un­richtig, enthält aber doch ein Körnchen Wahrheit, und zwar ein Körnchen, das in irgendeinem Grade von uns allen gilt, mindestens soweit wir Systematiker sind. Die neuen Wege und Durchbrüche liegen heute vorerst auf dem Gebiete der Einzel­wissenschaften, da, wo sie sich mit philosophischem Geiste und universalem Zuge erfüllen. Erst von da aus werden dann einmal, wenn man an eine Wiederberuhigung der gegenwärtigen Welt­wirren denken darf, irgendwo und irgendwann neue Systeme ent­stehen. Innerhalb der Einzelwissenschaften aber ist Bewegung und neue Problemstellung genug vorhanden. Deren logische und systematische Folgen werden sich mit der Zeit schon entwickeln. Dann aber wird das philosophische System wieder mehr sein als eine Forderung der persönlichen geistigen Reinlichkeit und Ver­antwortungsbereitschaft.

Freilich könnte ein Kritiker finden, ich machte damit aus der Not eine Tugend, und die ganze hier dargelegte Geschichte meiner Bücher beweise, wie viel Anlaß ich zu einer solchen Selbst­rettung hätte. Das sei in der Tat eine Geschichte von Büchern und nicht die eines Systems. Allein ich wollte meinerseits gerade umgekehrt zeigen, daß diesen mancherlei Büchern in Wahrheit ein systematischer Einheitsgedanke zugrunde liegt, und nur dieser Nachweis kann es für mein Gefühl entschuldigen, daß ich dem Leser so viel von diesen Büchern zu sagen wagte.

Quelle: Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellung, hrsg. v. Raymund Schmidt, Bd. 2, Leipzig: Felix Meiner, 1921, S. 161-173.

Hier der Text als pdf.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s