
Zu den Teppichen von Angers (1951)
Von Friedrich Dürrenmatt
Der fromme Glaube, der die Teppiche von Angers schuf, wissend um die Vergänglichkeit der Welt und dennoch ohne Verzweiflung, da es für ihn, noch wirklicher als der Tod, die Auferstehung gab und das selige Erwachen der Christen auf einer neuen Erde und in einem neuen Himmel nach den Schrecken der Apokalypse, hat einer Angst Platz gemacht, für die das Jüngste Gericht nur noch das Ende bedeutet, eine schauerliche Götterdämmerung der Zivilisation, der, dank der Atombombe, das Nichts folgen soll, das sinnlose Kreisen eines ausgebrannten Planeten um eine gleichgültig gewordene Sonne. Der Trost, daß auch das Zusammenbrechen aller Dinge Gnade ist, ja, daß es die Engel selbst sind, die töten, ist der Gewißheit gewichen, daß der Mensch aus eigenem Antrieb ein Inferno der Elemente zu entfesseln vermag, das man einst nur Gottes Zorn zuzuschreiben wagte; und Grausamkeiten werden verübt, die jene des Teufels mehrfach übertreffen.
So ist Ereignis geworden, was Offenbarung war, aber es ist nicht mehr ein Kampf um Gut und Böse, so gern dies jede Partei auch darstellt. Die Menschheit ist als ganze schuldig geworden, ein jeder will mit den Idealen auch die Kehrseite retten: die Freiheit und die Geschäfte, die Gerechtigkeit und die Vergewaltigung. Der Mensch, der einst vor der Hölle erzitterte, die den Schuldigen im Jenseits erwartete, hat sich ein Diesseits errichtet, das Höllen aufweist, die Schuldige und Unschuldige in einer Welt gleicherweise verschlingen, in der sich Gog und Magog nicht als Verbündete treffen, sondern als Feinde gegenüberstehen. Unfähig, die Welt nach seiner Vernunft zu gestalten, formte er sie nach seiner Gier und umstellte sich selbst mit den schwelenden Bränden seiner Taten, die jetzt seine Horizonte röten, ein Gefangener seiner eigenen Sünde. Seine Hoffnung ist nicht mehr jene des Gläubigen, das Gericht zu bestehen, sondern jene des Verbrechers, ihm zu entgehen, und auch der Giftkelch, den er sich selber mischte, soll von ihm genommen werden.
Die Zeit ist in eine Wirklichkeit getaucht, die sie mit Blindheit schlägt, denn die Distanz, die zwischen dem heiligen Seher und dem Bilde war, ist dahingeschwunden und mit diesem unendlichen Verlust, nicht nur an Schönheit sondern auch an Welt, die Möglichkeit, die Apokalypse ohne jene Verzerrung zu sehen, die sie heute durch die Gegenwart bekommt: die immer düsterer aufsteigenden Wolken der Katastrophen verbergen die Strahlen der Gnade, die immer noch nicht von uns genommen ist.
Die wilden Bilder eines Dürer und eines Bosch sind Wirklichkeit geworden, die Wandteppiche von Angers ein verlorenes Paradies, in welchem dem Glauben, der Berge versetzt, möglich war, was uns jetzt, da wir es erleben, wie Hohn erscheint: die Welt auch noch im Untergang in jener Herrlichkeit zu sehen, in der sie erschaffen wurde, Anfang und Ende eine makellose Einheit, das Zusammenstürzen der Städte wie ein Spiel weißer Blüten im Wind, der Tod ein müheloses Hinübergleiten, blumenhaft selbst die Tiere des Bösen, eingehüllt alles in die Lichtfülle des Gottes, dem die Welt nur ein Schemel seiner Füße ist und dessen Kinder wir sind.
Quelle: Friedrich Dürrenmatt, Theater-Schriften und Reden, Zürich: Verlag der Arche, 1966, S. 40f.