Frederik Jacobus Johannes Buytendijk, Das menschliche Spielen. Orientierende Vorbemerkungen (1973): „Wir spielen tatsächlich immer mit Bildern, die mit uns spielen. Was wir hier „Bild“ nennen, ist die Erscheinungsweise der Dinge und Geschehnisse in ihrem pathischen Charakter. Ein Gegenstand ist nur insofern Spielobjekt, als er Bildhaftigkeit besitzt. Die Sphäre des Spiels ist die Sphäre der Bilder und damit die Sphäre der Möglichkeiten und der Phantasie.“

Das menschliche Spielen. Orientierende Vorbemerkungen

Von F. J. J. Buytendijk

Spielen erscheint immer als eine Weise des sich Verhaltens. Bei­de Worte haben eine große „Extensio“ (Ausbreitung) und also eine sehr geringe „Comprehensio“ (unzweideutige Bedeu­tung). Menschen in jedem Alter und in fast jeder Situation können sich auf irgendeine Weise und in solchem Verhalten finden, daß wir in der Umgangssprache ihr Tun als Spielen be­zeichnen. Wer über Spielen „im allgemeinen“ sprechen möchte, ist vergleichbar mit einem „der von Sternen sprechen wollte und zu gleicher Zeit nicht nur weitentfernte Gestirne und Sternschnuppen behandeln würde, sondern auch Seesterne, ge­wisse Orden, den Place de l’Etoile und Bühnen- oder Filmsterne (Grandjouan 1963).

Auch Tiere können fast immer in einer sinnvollen Beziehung zu ihrer Umwelt verstanden werden. Wenn auch ihre Existenz eine andere als die unsrige ist, sind wir dennoch in der Lebens­welt und ebenfalls in der wissenschaftlichen Betrachtung ge­nötigt, die tierischen Bewegungen als Verhaltensweisen aufzu­fassen, und gelegentlich als ein echtes Spielen oder wenigstens als spielerisch.

Selbst leblose Dinge scheinen sich oft in einer Weise zu bewe­gen, daß jedermann — auch der Naturwissenschaftler — so re­det, als ob sie sich verhielten. In den schönen Untersuchungen Michottes (1946) über „La perception de la causalité“, wer­den die mit verschiedener Ge­schwindigkeit vorgeführten Be­wegungen zweier Gegenstände — z. B. zwei schwarze Flecken auf einem homogenen Hintergrund — von den Versuchsperso­nen als ein Wegstoßen, Weg­drücken, Mitnehmen, Verfolgen, Flüchten usw. „gesehen“ — sie werden also als Verhaltens­wei­sen verstanden. (Dufrenne [1953] hat in seiner Untersuchung „La Phénoménologie de la perception esthétique“ bemerkt: „Jedes Ding ist tatsächlich in einem gewissen Sinn Sprache“.) Noch überzeugender beweisen die Zeichenfilme von Heider u. Simmel (1944), daß die Be­wegungen geometrischer Figuren als „acts of persons“ (Handlungen von Personen) verstan­den wer­den können. Man braucht aber keine Experimente, um sich da­von zu überzeugen, daß die Worte Spiel und Spielen eine große Anzahl Erscheinungen bezeichnen, die nur in sekun­därer Wei-[89]se etwas Gemeinsames haben. Jedenfalls führt eine bloße Un­tersuchung der Umgangssprache in verschiedenen Kulturkrei­sen nicht zur Einsicht in den Sinngehalt des menschlichen Spiels und Spielens.

Wenn man z. B. sagt: „Zwischen zwei Balken ist ein Spiel­raum“, dann soll das nur bedeuten, daß die zwei Holzstücke sich hin und her bewegen können. Dieses „Können“ kann me­tapho­risch auch „eine beschränkte Freiheit“ genannt werden. Besinnt man sich auf diese Bezeich­nung, dann weiß man, daß hier selbstverständlich nur „Freiheit in der Erscheinung“ ge­meint ist. In der gleichen Weise reden wir auch über die „Frei­heit“ der Vögel, wie es schon Schil­ler wußte.

Das Wort „Spielen“ wird als Bezeichnung zahlreicher Vorgänge gebraucht, die irgendwelche typische Merkmale des mensch­lichen Spielens zeigen. Die Vielheit und Verschiedenheit der Spielformen macht die fast unbegrenzte Ausbreitung des Wort­gebrauches verständlich.

Dabei finden wir eine intransitive und eine transitive Verwen­dung des Wortes „Spielen“. Einmal spielt „etwas“ (das Mond­licht auf den Wellen, die Radiomusik) ein andermal spielt „je­mand etwas“ (den Mephisto, Verstecken, Federball); und ein drittes Mal schließlich spielt „jemand mit etwas“ (mit der Ei­senbahn, mit der Rassel).

Man sollte dieser Bemerkung von Scheuerl (1959) noch hin­zufügen, daß nicht nur jemand mit etwas spielt, sondern auch als etwas und um etwas spielen kann.

In diesem Sprachgebrauch geht es um Verweisungsbezüge in der Erfahrung, die wir von den Erscheinungen in unserer Le­benswelt haben. Was wir in dieser Welt bemerken und benen­nen, wird bekanntlich stets auf irgendeine Weise verstanden. Sehen ist immer auch Einsehen, d. h. ein vorläufiges Erfassen des Sinngehaltes des Sichtbaren. Dieser Sinngehalt wird in der Um­gangssprache zugänglich. Es ist schon daraus klar, daß im Sprachgebrauch eine Fülle von historisch, sozial und persönlich bedingten Vorurteilen und gefühlsmäßigen Auffassungen „mit­spielen“. Darum entsprechen die Worte — Spiel, Spielen, spiele­risch usw. — in ver­schiedenen Sprachen nicht immer denselben Erscheinungen. Ein Beispiel:

In der deutschen Sprache sagt man „ein Spiel spielen“, im Eng­lischen „to play a game“. Scheuerl (1959) bemerkt dazu: „Aber ‚game‘ paßt weder für die Tragödie noch für das musi­kalische Spiel, und auch das Liebesspiel wäre mit diesem Wort ein wenig respektlos bezeichnet.“ Das ist richtig, aber das Wort [90] „game“ verweist auf eine Erfahrung, die in bestimmten Spie­len besonders auffällt, nämlich auf „die Spannung und Ent­spannung, die Ergriffenheit und das Greifen, das Schaudern und den Rausch“ (Scheuerl 1958). Darum heißt auch die Jagd „game“, und man versteht, daß ein englischer Physiologe (Bayliss) seine Wissenschaft „The nicest game of the world“ (das schönste Spiel der Welt) nennen konnte.

Jedenfalls erschließt die Sprache eine vorläufige Einsicht in die Bedeutungen der Phänomene, die sich an ihnen selbst zeigen.

Aber wir sollten nicht vergessen, daß „die Phänomene zunächst und zumeist nicht gegeben sind“. Verdecktheit ist der Gegen­begriff zu „Phänomen“. „Erscheinung und Schein sind selbst in verschiedener Weise im Phänomen fundiert“ (Heidegger 1927).

Ein anthropologisches Verständnis des Spielens fordert also unbedingt ein genaues Beachten des vorläufig unklaren Zu­sammenhanges der Sacherkenntnis mit der Umgangssprache. Wir bedenken dazu das bekannte Wort Heideggers (1927): „Das Wesen der Sprache erschöpft sich weder im Bedeuten, noch ist sie nur etwas Zeichenhaftes und Ziffermäßiges. Weil die Sprache das Haus des Seins ist, deshalb gelangen wir so zu Seiendem, daß wir ständig durch dieses Haus gehen“. Dieses „ständige Gehen“ ist die eigentliche Aufgabe der Phänomeno­logie. Dieses Gehen ist aber notwendig ein Zurückgehen, also ein sich Er-innern. Wer sich nicht erinnern kann, wie er in sei­ner Kindheit — und nachher — gespielt hat, wie er und seine Umgebung darüber gesprochen haben, dem ist jedes Verständ­nis der menschlichen Bedeutung des Phänomens, das wir ge­wohnt sind, „Spielen“ zu nennen, unzugänglich. Landgrebe (1959) hat denn auch sehr richtig gesagt: „Der Weg der Phä­nomenologie ist ein Weg der Erinnerung, die den Menschen von der Welt, die ihm als Fremdes im „Objektivismus“ gegen­über zu stehen scheint, zurückführt auf sich selbst und die ihn auf die Untrennbarkeit von Welt und Selbst verweist und darauf, daß in dieser Untrennbarkeit, in der er sich selbst nicht nur als erkennendes Subjekt begegnet und der Welt nicht nur als dem Gegenstand seiner objektiven Erkenntnis, ein unver­fügbares Wahres sichtbar und die Bereitschaft geweckt wird, es als solches hinzunehmen.“

Die Untrennbarkeit von Welt und Selbst begründet die Mög­lichkeit in den Erscheinungen der Natur das Menschliche des Spielens „bildhaft“ zu „sehen“ und zu beschreiben. So verste­hen wir, daß Scheuerl (1959) die These aufstellen konnte, „daß alle Merkmale, die einen Bewe­gungsablauf als Spielphä-[91]nomen charakterisieren, schon in dem subjektlosen Lichter- und Schattenspiel auf den Wellen im Mondeslicht anschaulich beisammen sind“. Die Merkmale sind: Freiheit, scheinhaftes Schweben, Geschlossenheit, Ambivalenz, innere Unendlichkeit und zeitenthobene Gegenwart. Der Autor fügt seiner Beschrei­bung nachdrücklich hinzu, daß es sich um „Erscheinungen“ handelt, denen man kein Ziel, keinen Zweck, keine Absichten ansieht.

Wir erwähnen diese „ästhetische“ Beschreibung eines schein­baren Spieles als ein Beispiel des „phänomenologischen Im­pressionismus“, der der Naivität der natürlichen Einstellung ent­spricht.

Schon Husserl hat diese Naivität erkannt. Das unmittelbare und unkritische „Schauen“, wie wir es im Alltag gelegentlich tun und wovon wir in der Umgangssprache reden, liefert keine Erkenntnis der „Phänomene“, da ihre Sinngehalte zunächst und zumeist nicht gegeben sind. Strasser (1964) hat nach­drücklich auf die Irreführungen des „phänomenologischen Im­pressionismus“ und der „literarischen Phänomenologie“ und auf das Fehlen des „Wahrheits­ethos“ in ihnen hingewiesen. Eine Untersuchung der Anthropologie des Spielens muß sich denn auch davor hüten. Man sollte eine entsprechende Bemer­kung Heideggers, die Stras­ser (1964) zitiert, in ihrer vollen Tragweite erfassen und sich aneignen: „Daher fordern der Ausgang der Analyse ebenso wie der Zugang zum Phänomen und der Durchgang durch die herrschende Verdeckung eine me­thodische Sicherung. In der Idee der „originären“ und „intui­ti­ven“ Erfassung und Explikation der Phänomene liegt das Ge­genteil der Naivität eines zufälligen „unmittelbaren und unbe­dachten Schauens“.

Wenn etwas (z. B. das Radio) „spielt“, wenn sich etwas ab­spielt, wenn etwas mitspielt oder gegen etwas spielt, zeigen sich zwar einzelne Aspekte des menschlichen Spielens, aber eine Erkenntnis des Menschlichen liefern diese Aspekte nicht. Eine Analyse der tierischen Spiele macht allerdings einige Sinn­zusammenhänge sichtbar, die für das Verstehen des menschli­chen Spielens richtungsgebend sein können. Im Tierleben mel­det sich im Verhalten eine Präfigu­ration des geistigen Seins, und zwar als eine „fungierende Intentionalität, welche die na­türliche und vorprädikative Einheit der Welt und unseres Le­bens ausmacht“ (de Waelhens 1959). Der von Husserl gepräg­te Begriff „fungierende Intentionalität“ ist unklar, wie auch je­ner des „anonymen Geistes“ (Hegel). Je genauer man das tie­rische Verhalten studiert, desto überzeugender wird seine Be-[92]ziehung zu einer Art von degradiertem, eingeschlossenem, leiblich gelebtem, also inkarniertem Erfassen von Sinnbezügen. Für eine Erkenntnis des Wesens des menschlichen Spielens ist es darum notwendig, die fundamentale Bedeutung der Begriffe „corps sujet“ (leibliche Subjektivität) und „corps connaissant“ (Leib als Bewußtsein) im Blick zu behalten. Jedes menschliche Spiel ist irgendwie bezogen auf den irrationalen undurchsichti­gen Grund unsrer Leidenschaften und Triebe, Fähigkeiten, Dis­positionen, Befindlichkeiten und Stimmungen sowie auf das ebenfalls völlig unerklärbare Schöpferische in jedem Tun.

Wir möchten unsere orientierenden Vorbemerkungen abschlie­ßen mit einem Hinweis auf die höchst beachtenswerte „Vision“, die Gadamer 1960 in seinem Werk „Wahrheit und Metho­de“ darlegte. Wichtige Ausblicke für unsre jetzige Untersuchung liefern schon einige Bemer­kungen, die sich an unsre früheren Arbeiten anschließen (Buytendijk 1933). So sagt Gada­mer (1960): „Das Hin und Her gehört so zum Spiel, daß es kein Für-sich-allein-Spielen gibt“. — „Alles Spielen ist ein Gespielt-werden.“ — „Das Spiel wird über den Spielenden Herr — hält ihn im Banne.“ — „Der Reiz des Spiels — liegt in dem Risiko“ (S. 101-102).

Das eigentliche Wesen des Spiels sieht Gadamer in der Dar­stellung, und zwar insbesondere in der Beziehung auf Kunst. Das mag durch folgende Sätze erläutert werden: „Das Kunst­werk wird zur Erfahrung, die den Erfahrenden verwandelt …“ Nur weil spielen immer schon ein Dar­stellen ist, kann das menschliche Spiel im Darstellen selbst die Aufgabe des Spieles finden …“Der Spielende gelangt zu seiner eigenen Selbst­darstellung, indem er etwas spielt, d. h. darstellt“ (S. 103). „Spiel … Vollendung … (ist) Kunst … — Verwandlung im Gebilde —. Erst durch diese Wendung gewinnt das Spiel seine Idealität“. (S. 105). „Die Spieler (oder Dichter) sind nicht mehr, sondern nur das von ihnen Gespielte“ (S. 107), „das Sichdarstellen ist das wahre Wesen des Spiels … und des Kunstwer­kes“ (S. 110).

Gadamer hat zum Abschluß seiner Untersuchung die Bezie­hung der Wahrheit auf das Spiel und auf die Sprache hervorge­hoben. Einige gekürzte Zitate mögen darauf hinweisen: „… was Wahrheit heißt … vom Begriff des Spieles her bestimmen …“ „Sprachliche Spiele sind es auch, in denen wir uns als Ler­nende — und wann hören wir auf, das zu sein? — zum Ver­ständnis der Welt erheben“ (S. 464).

Die These des Autors ist, daß es „das Spiel ist, das spielt, in­dem es die Spieler in sich einbezieht und so selber das eigent-[93]liche Subjektum der Spielbewegung wird“. So solle man nicht von einem Spielen mit der Sprache reden, „sondern von dem Spiel der Sprache selbst, die uns anspricht, vorschlägt und zu­rückzieht, fragt und in der Antwort sich selbst erfüllt“. „Ein Spiel ist das Verstehen …“ „Wer versteht, ist schon immer einbezogen in ein Geschehen, durch das sich Sinnvolles geltend macht … “ „So ist es wohl begründet, daß für das hermeneu­tische Phänomen derselbe Begriff des Spiels gebraucht wird, wie für die Erfahrung des Schönen“.

Was der Philosoph über die Beziehung der Sprache, der Schön­heit und der Erkenntnis zum Spielphänomen aussagt, betrifft Fragen, die außerhalb des Gesichtsfeldes unsres Versuches zur Deutung des menschlichen Spielens liegen. Die Gesichtspunkte und Ausblicke Gada­mers werden wir gleichwohl nicht entbeh­ren können. Das zeigt sich, wenn wir versuchen, den eigentli­chen Sinngehalt in jener Erscheinung zu finden, die in der Um­gangssprache „das Rollenspiel des Menschen in der Gesell­schaft“ genannt wird. Zunächst müssen wir aber das Phäno­men, das jede Spielform begründet — das spielerische Hin und Her — näher betrach­ten.

Das spielerische Hin und Her

„Die größten Fragen und Probleme der Philosophie stecken in den alltäglichsten Worten und Dingen“ (Fink 1957). Die Spra­che ist „das Haus des Seins“. Wenn Heidegger das an dem Beispiel erläutert, daß wir nur durch einen „Wald“ spazieren können, wenn wir schon als Kind mit dem Waldbild durch die Sprache vertraut wurden, dann gilt das ebenfalls für unser Ver­ständnis des Spielens. Schon das Kind möchte verstehen. Es fragt nicht: „Wie heißt etwas?, sondern „Was ist es?“ und der Mensch als „fragendes Wesen“ (Straus) kehrt immer zu dieser Frage zurück, allerdings ohne sich davon Rechenschaft zu ge­ben, was mit dem Sein eigentlich gemeint ist, das im Erschei­nenden anwesend ist.

Das Leben der wirklichen Sprache besteht in der Vieldeutigkeit (Nietzsche). Darum brau­chen wir einen nie endenden Dialog und Umgang mit Dingen, Geschehnissen und Menschen, um allmählich einen befriedigenden Zugang zu den Wortbedeu­tungen zu erwerben. Erst in dieser Weise leben wir „zufrie­den“ in dem Frieden zwischen Schein und Sein als dem festen Grund für unser Dasein, das sich zumeist unproblematisch als ein In-der-Welt-Sein vollzieht. [94]

Unser fragendes Wesen stört schon im alltäglichen Lebensvoll­zug manchmal diesen Frieden. Es ist aber die Aufgabe der wis­senschaftlichen und philosophischen Besinnung, diese Störung als den eigentlicheren Zugang zur Erkenntnis des Wirklichen und der Wahrheit anzunehmen. Solche Besinnung erweist sich jedoch nur als fruchtbar, wenn sie im Zusammenspiel von „Er­fahrung und Urteil“ (Husserl), d. h. der Lebensweltlichen und der phänomenologisch inter­pretierten Erfahrung mit den posi­tiven Tatsachenerkenntnissen erfolgt (Strasser).

Diese kurze methodische Bemerkung mag genügen, um einen Unterschied zwischen dem Spielerischen und dem Spielen her­auszuarbeiten. Die schon erwähnte metaphorische Verwen­dung dieser Worte (Licht und Wellen, Balken) bestätigt die Meinung Gadamers (1960, S. 99), daß der ursprünglichste Sinn von Spie­len der mediale Sinn ist, indem „sich etwas ab­spielt, etwas im Spiele ist“. Dabei fehlt überhaupt jede Art von Betätigung. Was sich zeigt, ist ein Hin und Her. Dieses „Hin und Her“ ge­hört so zum Spiel, daß es kein Für-sich-allein-Spie­len gibt“ (S. 101).

Diese Bemerkung macht uns darauf aufmerksam, daß wir das Spielen und das Spielerische unterscheiden können. Es fragt sich jedoch, ob diese Unterscheidung nur so zu verstehen sei, daß was anschaulich erscheint, immer nur das spielerische Hin und Her ist, so daß auch im wirklichen menschlichen Spielen das spielerische Hin und Her in irgendeiner Weise fundie­rend wirksam ist. Man könnte das so auffassen, daß es ein „fort­währendes Hinundherpendeln des Spiel- und Realitätserle­bens“ gibt. (Werner [1948]: „Der Zwischencharakter der Spiel­wirklichkeit wie sie hin- und herschwankt zwischen Phan­tasie und Alltagsleben.“

Dieses Hin und Her wird von Hansen (1949) als „ein Wechsel zwischen Schein und Wirk­lichkeit“ aufgefaßt. Diese Art des Hin und Her soll erst im späteren Kindesalter (im 4. Jahr) auf­treten, wenn das „Deutungsspiel“ in ein „Darstellungsspiel“ übergeht und das Kind weiß, daß Illusionen und Phantasien der Wirklichkeit nicht entsprechen.

Das Hin und Her würde dann also nicht nur die Manifestation des Spielerischen sein, sondern das Wesentliche des menschli­chen Spielens charakterisieren, wenn es sich dabei immer um eine dialektische Beziehung von Schein und Wirklichkeit han­delt. Fink (1957) hat mehrmals darauf hingewiesen, daß „mit der Frage nach dem Schein ein philosophisches Problem ange­rührt ist“ (S. 44). „Der Begriff des Scheins ist so dunkel und unausgelotet wie der Begriff des Seins“ (S. 43). Und weil [95] „Spielen das endliche Schöpfertum in der magischen Dimen­sion des Scheins“ ist, „führt die seinsbegriffliche Bestimmung des Spiels in die Kardinalfragen der Philosophie zurück, in die Spekulation über Sein und Nichts und Schein und Werden“ (S. 361).

Das spielerische Hin und Her in den Erscheinungen der Natur und der Kultur, in den tieri­schen und menschlichen Verhal­tensweisen und schon in den Äußerungen des jugendlichen Be­wegungsdranges, ist danach nur ein Aspekt — allerdings ein wesentlicher Aspekt — jedes humanen Spiels.

Das menschliche Spiel ist eine wundersame Freude am Schein, sagt Fink (1957, S. 38). Eine Anthropologie des Spielens fordert also eine Antwort auf die Frage nach dem humanen Sinn des Imaginären. Diese Frage werden wir anhand der Arbeit Tre­bels (1967) noch näher betrachten, allerdings in der Überzeu­gung, daß wir sie nicht endgültig beantworten können.

Dem Hinweis auf das spielerische Hin und Her, das wir im An­schluß an Gadamer als wesentlich zum menschlichen Spielen gehörend betrachteten, möchten wir folgende Bemer­kungen Finks (1957, S. 46) hinzufügen: „Die Spielwelt enthält subjek­tive Phantasieelemente und objektive ontische Elemente.“ „Was soll ein objektiver … Schein besagen?“ — „Es sind ein­fach objektiv vorhandene Bilder.“

Wir spielen tatsächlich immer mit Bildern, die mit uns spielen (Buytendijk 1933). Was wir hier „Bild“ nennen, ist die Er­scheinungsweise der Dinge und Geschehnisse in ihrem pathi- schen Charakter. Ein Gegenstand ist nur insofern Spielobjekt, als er Bildhaftigkeit besitzt. Die Sphäre des Spiels ist die Sphä­re der Bilder und damit die Sphäre der Möglichkeiten und der Phantasie. Der Spielgegenstand hat nie den Charakter eines „Objektes“, eines „Gegen­stan­des“, dessen Merkmale durch Technik und Vernunft allmählich erkannt werden. Man spielt nicht mit „etwas Bestimmtem“, sondern nur mit irgend etwas, das sich erst im Umgang, im dialektischen Kreisprozeß der Lockung und der Lockungsbeantwortung, des Bewegens und Bewegtwerdens ausbildet. In diesem Hin und Her werden die „Möglichkeiten“, welche die Bildhaftigkeit vorläufig verbirgt, aber dennoch vermuten läßt, entdeckt. Darum wiederholen wir mit vollständigem Einverständnis die Aussage Gadamers (1960): „Dieses Hin und Her gehört so zum Spiel, daß es kein Für-sich-allein-Spielen gibt.“

Das spielerische Hin und Her als dynamisches Grundmerkmal jedes authentischen Spielens erklärt die allgemein anerkannte [96] — aber nie geklärte — Tatsache, daß man jede instru­mentale Musik ein Spielen nennt, daß aber das Singen kein Spielen ist. Dieser Unterschied im sprachlichen Ausdruck (aller Sprachen) ist verständlich, wenn wir im Hin und Her des Spie­lens die Abwechslung von einer erlebten überraschenden Spannung und Lösung beachten. Erst diese Abwechslung vermag dem Hin und Her — wie es in jeder rhythmischen Bewe­gungsart, z. B. der Glieder, auftritt — den Charakter des Spielens zu ver­leihen. (Spannung und Lösung sind wesentlich im Liebesspiel, Kampfspiel, und in allen sog. Glücksspielen; Buytendijk 1933). Beim Musikspielen erzeuge ich aus einem Spannungsimpuls einen Ton, welcher durch das Gehör zu mir zurückkehrt und wieder eine neue Spannung veranlaßt. Musikspielen ist mit Musik spielen, die mit uns spielt. Das Klavier oder die Geige sind nur Instrumente, keine Spielgegenstände. Nun wird es auch klar, warum Singen kein Spielen ist. Es wird ein Lied von Anfang bis Ende; also ein bestimmter Inhalt — wie ein Gedicht oder eine Erzählung — vorgetragen.

Der Ton, welchen man dem Instrument entlockt, welchen das Instrument hergibt, ist dagegen ein pathisches „Wie“, das Möglichkeiten enthält. Wenn wir Musikspielen, spielen die Akkor­de, Klänge, Töne mit uns. In diesem Spiel gibt es also das Hin und Her der Spannungen und Lösungen, denn die aku­stische Bildhaftigkeit meldet sich in ihren pseudoräumlichen Dimen­sionen als ein dynamischer Gegenspieler in Spannung und Lösung.

Das sogenannte Rollenspiel in der Gesellschaft

Schon in der älteren Literatur trifft man wiederholt die Vorstel­lung an, daß das gesellschaftli­che Zusammenleben eine „Schau­bühne ist, auf welcher jeder seine Rolle spielt“. In der euro­pä­ischen Literatur kehrt das Bild des menschlichen Daseins als eine „comedie humaine“ (menschliche Komödie) immer wie­der. Man ist stets geneigt, die Auffassung, daß alles Tun der Menschen eigentlich „gespielt“ ist, mehr oder weniger zu be­jahen, wenn man als „unbe­teiligter“ Zuschauer die gesellschaft­lichen Beziehungen betrachtet. Ist diese „Objektivität“ aber wirklich möglich, und erlaubt sie das Menschliche in seinem eigentlichen Wesen zu erkennen?

Es gibt zwei Autoren, die jeder in seiner Weise jede menschli­che Aktivität in der Gesellschaft als eine Manifestation des Spielens betrachtet haben. Es sind der Historiker Huizinga und [97] der Philosoph Sartre. Henriot (1969, S. 7-8) hat beider Posi­tion in wenigen Sätzen charakterisiert. „Nach Huizinga stammt alles vom Spiel ab. Das Spiel ist älter als die Kultur. Jede Form von Tätigkeit kann unter dem Gesichtspunkt des Spiels be­trachtet werden.“

Sartre entwickelt die These, „daß jede menschliche Existenz, welche Form sie auch an­nimmt, gespielte Existenz ist“. Der Mensch als bewußtes Wesen „definiert sich als Nicht-mit-sich- selbst-Zusammenfallen, Nicht-Identität im Bezug auf sich selbst“. „Was sind wir also, wenn wir die beständige Verpflich­tung haben, uns das sein zu lassen, was wir sind? Die Antwort lautet unmittelbar: Existieren heißt zunächst Spielen“.

Betrachten wir zuerst den Gesichtspunkt Sartres. Seine Sicht der menschlichen Wirklichkeit stützt sich bekanntlich auf den absoluten Gegensatz des „en-soi“ (An-sich) und „pour-soi“ (Für-sich), des Seins der Naturgegenstände und des Bewußt­seins. Diesen Gegensatz hat Sartre (1954, S. 98 ff.) in dem be­rühmten Satz über den „Kellner“ ausgedrückt.

„Betrachten wir diesen Kaffeehauskellner … Sein ganzes Ver­halten scheint uns ein Spiel… Er spielt, Kaffeehauskellner zu sein.“ Er kann unmöglich so unmittelbar Kellner sein, wie das Tintenfaß ein Tintenfaß ist. Um zu sein, was er sein soll, kann der Kellner nur sein „en repré­sentation“ — als „Vorstellung“ (oder „Darstellung“). Aber wenn er sich vorstellt, Kellner zu sein, dann ist er es nicht. Er ist vom Kellner-sein geschieden — sagt Sartre — wie das Ob­jekt vom Subjekt geschieden ist zwar durch ein „Nichts“, aber gerade dieses Nichts isoliert ihn von dem Vorgestellten.

Diese Deutung des Menschen, wonach er in‘ der Gesellschaft seine „Rolle“ darstellt, steht in engem Zusammenhang mit Sartres Auffassung der Aufrichtigkeit (la sincérité). „Was hat es also mit der Wahrhaftigkeit zu tun, wenn nicht genau das, (ein Phänomen) von Unaufrichtig­keit? — Bei der Unaufrichtig­keit handelt es sich darum, die menschliche Wirklichkeit als ein Sein zu konstituieren, das ist was es nicht ist und das nicht ist was es ist“ (S. 103). Am Bei­spiel des Kellners versucht Sartre zu zeigen, daß jedes menschliche Dasein ein „jouer á l’étre“ (ein es Spielen) ist. Der Kellner weiß, daß er spielt, aber er weigert sich, es anzuer­kennen. „Er nimmt sich ernst. Er glaubt das zu sein, was zu sein er spielt.“

Ist es aber wahr, daß der Kellner glaubt zu sein, das was er zu sein spielt, nur zu sein glaubt? Hat eine Existenz, die sich als aufrichtig zu verwirklichen sucht, notwendig die Form eines [98] Spiels, und ist also jede Aufrichtigkeit wesentlich eine Darstel­lung des eigenen Selbst mit schlechtem Gewissen?

Unseres Erachtens ist es ein Grundfehler, irgendeine metaphy­sische Auffassung der mensch­lichen Wirklichkeit — z. B. den Dualismus Descartes’ oder jenen Sartres — für das Ver­ständ­nis dessen, was realiter existiert, vorauszusetzen. Im realen Existenzvollzug ist der Gegensatz vom leiblichen — und be­wußt-intentionalen — Sein, so wie jener von „An-sich-sein“ und „Für-sich-sein“ aufgehoben. Die moderne philosophische Besinnung richtet sich auf die Analyse dieses unmittelbaren Daseinsvollzugs. (Sehr richtig hat Merleau-Ponty [1960] es gesagt: „Die eingerichtete Humanität empfindet sich proble­matisch, und das Leben in seiner äußersten Vermittelbarkeit ist philosophisches‘ geworden).“

Wendet man sich dem unmittelbaren menschlichen Leben zu, dann findet man zwischen Auf­richtigkeit und Unaufrichtigkeit in gewissen zwischenmenschlichen Beziehungen eine Span­nung. Bei der Ehrung für einen scheidenden Beamten, bei einem Kondolenzbesuch und bei vielen ähnlichen Gelegenhei­ten sagt man meistens, daß einer den Interessierten, Traurigen, Erfreuten spielt. Er „tut als ob“. Aber ist das ein Spielen? Nicht nur fehlt das „Hin und Her“, sondern das Tun als ob hat in diesen Situationen die Absicht, Interesse oder Mitleid zu zei­gen, und zwar weil man es als „anständig“ betrachtet, weil man sich dazu verpflichtet fühlt. Das ist kein Spiel, kein Thea­ter, keine „comédie humaine“.

Portmann erzählte mir einmal, wie eine Bauernfamilie in schwarzer Kleidung in einer klei­nen Ortschaft in der Schweiz aus dem Zug stieg und einer der Bauern fragte Portmann: „Sagen Sie bitte, ist es hier üblich, daß man erst auf dem Fried­hof weint oder schon unter­wegs?“ Die Bauern sind ehrliche Leute, die nur den Wunsch haben, sich so zu benehmen, wie es sich gehört, so wie es anständig ist. Sie spielen bestimmt nicht die trauernde Familie, so wie auch der höfliche Kellner seine Höflichkeit nicht spielt.

Lefèbvre (1958) hat in seiner „Critique de la vie quotidienne“ das „Quasi-Rollenspiel“ in der Gesellschaft richtig verstanden. „Unsere Bekannten (und wir selbst) sind das, was wir erken­nen. Sie spielen die Rolle, die ich ihnen zuweise, und die sie sich zuweisen, und fügt hinzu: „Wie würde man ohne „Rolle“, also ohne Vertraulichkeit (familiarité) im Zusammenleben, das Element der Kultur oder das ethische Prinzip einführen kön­nen“, die das Emotionelle und die Leidenschaftlichkeit modifi-[99]zieren und humanisieren sollen? „Die Rolle ist gar keine Rolle. Sie ist das gesellschaftliche Leben, sie ist ihm inhärent“. Darum folgert Lefebvre mit Recht: „Der Kaffeehauskellner spielt nicht nur den Kaffeehauskellner. Er ist es, und er ist es nicht.“

Im wirklichen Vollzug des Alltags ist der Gegensatz zwi­schen „echt“ und „unecht“, zwischen wirklichem und vorgestell­tem Sein aufgehoben. In einer gewissen Objektivierung kann man sagen, daß wir im Zusammenleben immer ein bestimmtes Verhalten annehmen. Das geschieht in jeder Begegnung, und jedem Umgang, in jedem Gespräch. Darum konnte Merleau-Pon­ty schreiben: „Sprechen, d. h. eine Reihe von Rollen zu spielen lernen.“

Es muß aber mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, daß das sogenannte Rollenspiel in der Gesellschaft sich prinzipiell vom Rollenspiel auf der Bühne unterscheidet. Allerdings ist es fraglich, ob der Schauspieler wirklich noch in dem Sinne spielt, daß seine Kunst der Dar­stellung von der selben intentionalen Struktur ist, wie jene, die das echte Spielen von Kindern und Erwachsenen kennzeichnet.

Jedenfalls: Der Kellner ist in seinem Beruf kein Spieler. Die Verpflichtungen, die er auf sich genommen hat, die situations­bedingten Umgangsformen und seine höfliche Redeweise nimmt er mit gutem Gewissen an. Wenn man ihn fragen würde: „Was sind Sie?“, dann wird er viel­leicht antworten: „Mein Beruf ist Kellner, ich bin Jean Dupont, verheiratet, Va­ter und ein leidenschaftlicher Fußballspieler.“

Es gibt soziale Beziehungen und Berufe, die zu einer absicht­lich gewählten „attitude“, zu Höflichkeit, Mitleid, Entrüstung, Strenge usw. Veranlassung geben. Das wissen alle Eltern, Leh­rer, Ärzte usw. Es handelt sich dabei bestimmt nicht um ein Spielen, sondern um situ­ationsbedingte Gründe, sich auf eine solche Weise zu verhalten. Das führt zu einer kulturbe­dingten sekundären Natürlichkeit, und nur diese ist menschlich. Es gibt Gemeinschaften, bei denen wir von einer „Kultivierung von Zorn“ reden können, und es gibt Völker, bei denen es „natür­lich“ ist, jede emotionale Äußerung möglichst zu unterdrücken. Es wäre völlig verfehlt, diese erworbene Natürlichkeit als Spie­len zu bezeichnen. Noch einmal zitieren wir Lefebvre (1958, S. 23): „Zu verkünden, ‚jedes Gesicht reduziert sich zu einer Maske‘, das ist die Lö­sung der zynischen Ironie oder der Kari­katuristen.“

Der Kellner und der Vater, der Diplomat und der Richter, der Soldat und der Lehrer müssen und sollen in jeder Situation [100] eine Verhaltensweise wählen. Nie ist man mit seinem Ver­hal­ten identisch. „Unsere Handlungen sind nicht wir selbst“ (Mer­leau-Ponty). Man muß immer wählen, auch für das Wählen des rechten Zeitpunkts. Mit jeder Wahl ist ein gewisses Risiko, aber auch Unwiderruflichkeit verbunden. Man kann allerdings an die Richtigkeit sei­ner Wahl glauben. Dieser Glaube stabili­siert die sozialen Beziehungen, die zuletzt „selbst­verständlich“ werden.

Unsere kritische Betrachtung der Auffassung Sartres über das Rollenspiel hat uns zu der Überzeugung geführt, daß die Kul­turwelt keine „Schaubühne“ ist. Wenn wir uns jetzt dem be­rühmten Werk Huizingas „Homo Ludens“ zuwenden, so fin­den wir dort den Versuch, auf Grund einer historischen Unter­suchung nachzuweisen, daß das Spielen älter ist als die Kultur und daß jedes menschliche Tun noch immer die Grundmerk­male des Spiels zeigt.

Es mag richtig sein, daß eine Anzahl unserer heutigen Spiele zum Teil Reste alter magischer Zeremonien sind. Im Ballspiel wurden in den Frühformen mancher Kulturen alte Mythen dra­matisiert. „Der Kreisel ist ein alter wahrsagender Drehwürfel“ (Benveniste 1947). Auch Frobenius ist der Meinung, daß die Kinderspiele die tiefste Quelle bilden, die aus dem unter­irdi­schen Allerheiligsten hervorquillt und aus der jede schöpferi­sche Kraft entspringt. Das alles mag richtig sein, aber Huizin­gas Versuch, das Verhalten des heutigen Menschen in seinen berufsmäßigen und anderen Aktivitäten als Spielformen zu verstehen, ist im Grunde identisch mit der schon kritisierten Ansicht, die Gesellschaft sei eine Schaubühne oder eine „comé­die humaine“. Was bei Huizinga vor allem fehlt, ist eine Un­tersuchung der gegen­seitigen Beziehung zwischen den spontan aufwallenden triebhaften Lebensäußerungen und der geistigen Seinsweise des intentionalen Bewußtseins. Ohne Einsicht in den Wesensunter­schied von Mensch und Tier, von Dasein und Leben, ohne genetische und tiefenpsychologi­sche Erwägungen, schließlich ohne eine philosophisch-anthropologische Gesamt­schau bleiben die „Grundlagen“ der Kultur undurchsichtig.

Was Huizinga darbietet, ist eine oberflächenhafte Beschrei­bung der sog. „Spielelemente in der Kultur“. Was meint der Autor mit dem Gegensatz von Ernst und Spiel, von dem ge­sagt wird, daß er „vorläufig so unanbleitbar ist wie der Begriff des Spiels“?

Das Spiel wird vom Autor definiert als „eine ‚freie‘ Handlung oder Beschäftigung, die nichts beabsichtigt und, außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend, trotzdem den Spieler völlig in [101] Anspruch nimmt“. Mit dem Spiel ist kein unmittelbares mate­rielles Ziel verbunden. Es vollzieht sich in „absichtlich“ be­schränkter Zeit und beschränktem Raum, und verläuft geord­net nach unbedingt bindenden Regeln. Es hat sein Ziel in sich selbst und wird von einem Ge­fühl der Spannung und der Freude begleitet und einem Bewußtsein des „Andersseins“ als das gewöhnliche Leben. „Das Spiel (in der Kultur) ruft Ge­meinschaftsbeziehungen hervor, wel­che sich gern mit Geheim­nissen umgeben oder durch Verkleidungen seine Abweichung von der gewohnten Welt betonen.“ Die zwei wesentlich höhe­ren Spielformen in der Kultur sind, so meint Huizinga, „der Kampf um etwas“ und eine Vorführung von etwas.

Ein großer Teil der historischen Untersuchungen Huizingas be­trifft die Formen der religiösen Kulte, der Riten und der magischen oder heiligen Handlungen. Immer, so meint er, ist das Spielen grundlegend. „Der Kult impft sich auf das Spiel.“ In Übereinstimmung mit dieser Auffassung ist fol­gende Aussage: „Die Rennbahn, der Tennisplatz, die Hinkespielbahn, das Schachbrett unterscheiden sich funktionell nicht vom Tempel oder dem Zauberkreis“ (S. 48). Die Annah­me dieser „funktionellen“ Gleichheit verkennt aber das Eigentliche des Sakralen. Das Heilige ist über-weltlich, das Spiel außerweltlich. Das Sakrale ist erfüllt von Ehrfurcht und Angst, das Spiel ist leichtgesinnte Befreiung. Das Spiel ist im Wesen entheiligend — das Gegenteil gilt vom sakra­len Ernst (Benveniste). Es war ein Grundfehler Huizingas, diese Gegensätze nicht durchschaut zu haben.

Guardini (1918) spricht in seiner Schrift „Vom Geist der Litur­gie“ über „eine in der An­schauung“ sich zeigende Verwandt­schaft. „Aber eben so sehr als es nur bildhaft in der Natur ein Spielen … gibt, so ist das Spielerische der Liturgie nur ein As­pekt.“ Der Sinn der Liturgie ist der, daß die Seele vor Gott sei, sich vor ihm ausströme — und zwar ihr wahres, eigentli­ches, wirkliches Leben habe“ (S. 63). Es gibt im Bereich des Irdischen zwei Erscheinungen, die nach gleicher Richtung weisen: Das ist das Spiel des Kindes und das Schaffen des Künst­lers. „Liturgie üben heißt, … werden wie die Kinder“, sie ist auch … „Kunst gewordenes Leben“.

Diese Worte Guardinis heben zwar das Spielerische im reli­giösen Kult hervor, aber das bedeutet nicht, daß die Liturgie ein Spiel ist oder aus Spielen hervorgegangen wäre.

Auch in der Betrachtung der Beziehung zwischen den zahlrei­chen Wettkämpfen in der Kultur einerseits und den Kampf­spielen und modernen Sportformen anderseits hat Huizinga [102] ver­fehlt, die Bedeutung der Wertordnung im menschlichen Da­sein zu erfassen. Die Verhal­tens­untersuchungen haben über­zeugend nachgewiesen, daß es bei allen Tierarten zwar Kämpfe gibt, aber nie Wettkämpfe. Huizinga (1938) meint dagegen, daß „die Krähen Wett­flüchten veranstalten“. (S. 68). Die Ver­kennung des prinzipiellen Unterschieds zwischen den Regelhaftigkeiten des Lebens und der normativen Bedingtheit der menschlichen Existenz gegründet die Meinung, daß jedes Tun, das an Regeln gebunden ist, als Spielen aufgefaßt werden kann. Das Kapitel über „Spiel und Krieg“ ist auf diese Ver­kennung begründet. Ein Beispiel: „Eine Staatengemeinschaft, die sich dem Völkerrecht unterwirft, verliert nie die Merkmale einer Spielgemeinschaft. Ihre Regeln bezüglich des Völker­rechts … sind nur verbindlich, sofern das Spiel selbst, d. h. die Notwendigkeit einer geordneten Gemeinschaft anerkannt wird“ (S. 145). Jede Einsicht des Unterschiedes zwischen dem Normativen und seinem Sinn in der menschlichen Existenz einerseits und den Spielformen andererseits, die in geregelter Weise laufen, fehlt in den Auseinandersetzungen Huizingas. So muß man im Gegensatz zu seinen Ausführungen sagen, daß die Rechtspflege erst zum Spiel wird, wenn es keine Rechtsord­nung mehr gibt, und nicht, wenn die Richter — dem Brauch ge­mäß — sich in den Talar kleiden oder eine Perücke tragen (S. 113).

Spielen und sich verpflichten in ihren genetischen Beziehungen

Eine Anthropologie des Spielens fordert den Versuch, in den Spielformen die Phasen der kindlichen Entwicklung als die all­mähliche Manifestation des Menschlichen in den Spielfor­men zu entdecken. Der Vergleich mit den Tierspielen liefert uns da­bei einige Hinweise. So ist es bekannt, daß ein „Tun als ob“ sowie eine spielende Nachahmung und erst recht die Illu­si­ons­spiele und Regelspiele im Tierleben fehlen.

Es ist zu erwarten, daß schon in den frühesten Verhaltenswei­sen des Kindes spezifische Merk­male der menschlichen Existenz hervortreten können. Das Menschenkind hat eine menschli­che Leiblichkeit und also eine entsprechende Sinnlichkeit und Mo­torik. „Sehen wie der Mensch sieht und Geist-sein sind Syno­nyme.“ Das hat Herder schon gesagt, und Merleau-Ponty (1945) hat diesen Gedanken übernommen.

Im Neugeborenen ist aber das Geistige eine verborgene Mög­lichkeit, die erst in der dialekti­schen Beziehung des Subjektes [103] seiner Welt sich allmählich offenbart. Wir vermögen dabei nur gewisse Phasen der Entwicklung ungefähr zu bestimmen und abzugrenzen. Auf jeder Stufe tritt das Menschliche in prononcierter Weise hervor. So, wie es völlig unmöglich ist, den Moment anzugeben, in dem das Kind zum ersten Male wirk­lich auf etwas zeigt oder wirklich spricht, so ist es ebenfalls un­bekannt, wann in der spielerischen Tätigkeit eine echte Lei­stung auftritt. Man muß sich mit den unklaren Begriffen Wandlung und Wendung begnü­gen oder mit dem unbegreifli­chen Übergang einer „fungierenden“ Intentionalität in eine be­wußte Leistung. Gadamer (1960) hat im Hinblick auf das voll­ständig ausgebildete mensch­liche Spielen richtig bemerkt: „Der Spielende weiß wohl, was Spiel ist, und daß, das, was er tut, nur Spiel ist, aber er weiß nicht, was er da weiß“ (S. 97 f.). In diesem Satz ist die Proble­matik der Entwicklung der mensch­lichen Existenz und damit des undurchsichtigen Zusam­men­hangs des bewußten und unbewußten Seins enthalten.

Siehe meine Arbeiten „Das Menschliche der menschlichen Bewe­gung“ und „Was heißt Ent­wicklung der menschlichen Existenz? (Buytendijk 1957, 1961), Schon Ricoeur hat darauf hingewiesen, daß kein Mensch weiß, wie er es macht, wenn er etwas tut. Die Ver­schränkung des bewußten und unbewußten Wissens ist ein Grund­phänomen der Existenz. Henriot hat im Spielenden eine „Dialek­tik von Leidenschaft und Spiel in der Form eines hin- und her­schwankenden Bewußtseins“ vorausgesetzt. Er fügt hinzu, daß vielleicht in dieser Dialektik das Wesen des Spiels enthalten ist, denn wenn es richtig ist, daß „ein Spiel, dessen man sich nicht be­wußt ist, kein Spiel ist, dann muß man den Gegensatz gelten las­sen, daß ein Spiel, dessen man sich bewußt ist, kein Spiel mehr ist“ (S. 10).

Wir werden uns von dieser Problematik fern halten und uns beschränken, die wichtigsten Phasen in der Spielentwicklung in ihrem Zusammenhang mit dem Sichverpflichten zu be­trach­ten.

a) das Neugeborene ist — wie viele junge Säugetiere — gekenn­zeichnet durch einen spon­tanen Bewegungsdrang, der sich in seiner ungerichteten Fülle, dank der Artikulation der Glieder, notwendig in Hin- und Herbewegungen äußert. Aus dem mimischen und vokalen Ausdruck, die jene unge­ordneten Bewegungen begleiten, schließt man, daß schon der Säugling dabei eine freudige Stimmung empfindet. Es differenzieren sich bald die Arm- und Handbewegungen. Falls die kindlichen Bewegungen auf Widerstände stoßen, zeigt sich zu­meist eine Verstärkung der Bewegungen. Wenn aber ein Gegenstand mit der Hand festgehal­ten und hin und [104] her geschüttelt wird, sagt man, daß das Kind — z. B. mit der Rassel — spielt. Was uns zu dieser Bezeichnung des Verhal­tens veranlaßt, ist nicht nur die Bewegungs­wiederholung und der begleitende Ausdruck einer freudigen Stimmung. Das am meisten Auf­fallende in diesen Äußerungen des Be­wegungsdranges ist das Anschwellen der Erregung.

Alain (1927) hat schon darauf aufmerksam gemacht (S. 171: „Die Aufregung schwillt wie eine Lawine an. Es ist die Ak­tion selbst, die den Menschen anpeitscht, wie das Donnern des eigenen Galopps dem Pferd Schrecken einjagt.“) Der Säugling erlebt dies freudig, aber er kann auch darüber of­fenbar erschrecken. Ist dieser Schrecken schon ein Staunen? Wie das auch sein mag, jedenfalls hört der Säugling dann auf, mit der Rassel zu „spielen“.

b) Eine Verhaltensweise, die vielleicht als Vorstufe oder An­fang des echten Spielens betrachtet werden kann, entwickelt sich, wenn das Kind, im Alter von etwa 8 Monaten, im Kin­derstuhl sitzend, einen ihm unbekannten Gegenstand in sei­ner Nähe anblickt. Diese Konfrontation mit einem „Etwas“, das sich da im Raum befindet, ruft eine Reaktion hervor, die wir Staunen nennen. Das Kind sieht einen wirklichen Ge­genstand, ein fremdes, schwei­gendes Ding. Im Alter von 8 Monaten erwacht also das Menschliche in Gestalt der Un­ter­scheidung zwischen dem eigenen und dem nicht-eigenen Sein. (Diese Auffassung der Kin­derpsychologen teilt auch Elkin [1961]). Es gibt beim Säugling zuerst „das Gewahrwerden eines Unterschieds zwischen Selbst und Nicht- Selbst“. Im Alter von sechs Monaten ist er ein voll inte­griertes persönliches Wesen. Das Staunen ist eine Reaktion, ein abwartendes Sich-befinden, ein im „Leib als Subjekt“ — das immer ein „Leib als Bewußtsein“ ist (Merleau-Ponty) — aufwallende Gestimmtheit der Machtlosigkeit, des „Nichts­tun-Könnens“. Das Unbekannte ist das Unzulängliche, und das Subjekt beantwortet die Begegnung zunächst durch Ab­warten („attendre“), eine reduzierte Aufmerksamkeit. Das Abwarten ist in diesem Falle eine emotionelle Aufwallung, die immer Desorganisation ist, also als eine Art von Angst erlebt wird. (Auch das hat Alain [1927, S. 49] bemerkt: „Warten ist dasselbe für uns wie: Angst haben. Es gibt kei­nen Mut ohne Angst, keine Liebe ohne Angst, schließlich kein Erhabenes ohne Angst“.)

Das Kind ist dieser Angst nicht immer ausgeliefert. Es kann zwar sein, daß ein Staunen von einer Panik gefolgt wird. Es geschieht auch manchmal, daß mit der Angst gleichzeitig [105] der Mut erwacht, um die Angst zu überwinden. Dann beob­achtet man, daß das Kind sein „Nichts-tun-Können“ be­siegt, und zwar fast immer durch einen Zugriff. Wahr­scheinlich hat Revers (1968) in diesem Falle recht, wenn er sagt: „Staunen ist Ursprung des Selbstverneh­mens“. (Über den Zusammenhang von Angst und Mut, s. die Arbeiten des Psychiaters Göp­pert.)

Jedenfalls ist nun der unbekannte Gegenstand, den das Kind in die Hand nimmt, ihm ausge­liefert. Es kann jetzt etwas tun: etwa das Ding hin und her bewegen, in den Mund stecken oder es wegwerfen — und nachschauen. Diese Verhal­tensweisen sind allerdings noch keine Spiele. Auch Wieder­holungen dieser Aktivitäten geschehen ohne irgendeine intentionale spielerische Beziehung zu den Gegenständen und Vorgängen.

Die Angst, die im Angriff beschwichtigt wird, ist ein Vor­gang, den wir bei den höheren Tieren ebenfalls beobachten. Die Überwindung der Angst durch irgendein aggressives Verhalten wird dann beim jungen Kind (wie auch bei Tie­ren) zu einer Gewohnheit, einem „Automatismus“. Man kann dieses Geschehen nie als ein Spiel, sondern als eine Kopplung von Antrieben beschreiben, die sich als Kräfte zeigen, aber ihre Wirksamkeit immer der Not­wendigkeit einer erlebten Bedeutung entlehnen.

c) So wird es verständlich, daß in der Entwicklung der kindli­chen Existenz die Bedeutungen der Angstformen und des Mutes sich ändern, wenn der Gegensatz von Selbstbewußt­sein und Bewußtsein einer gegenständlichen Welt pronon-cierter erlebt wird. In dieser Phase des Kin­derdaseins (etwa im Alter von 1-2 Jahren) zeigen schon mehrere Verhaltens­weisen die Merk­male des Spielens. Das hängt zusammen mit der „Entdeckung“ der Sprache. Lacan (1956) hat diesen Zusammenhang in seiner Neuformulierung der psychoana­lytischen Anschauung formuliert: „Da das Wort schon An­wesenheit aus Abwesenheit ist, zeigt sich die Abwesenheit selbst in einem ursprünglichen Augenblick, dessen bestän­dige Wiedererzeugung das Genie Freuds im Spiel des Kin­des erkannt hat“. („Es ist die Welt der Worte, welche die Welt der Dinge erzeugt, zunächst verschmolzen Hier und Jetzt dessen, was noch ganz im Werden ist.“ — „Der Mensch spricht also, aber weil ihn das Symbol zum Menschen ge­macht hat.“) Im gleichen Lebensalter, in dem die ersten Worte das Abwesende anwesend sein lassen, erwirbt das Kind die aufrechte Haltung und das Gehen. Straus (1949) [106] hat auf die fundamentale Bedeutung dieses Zugehens zur Ferne hin und auf die Wichtigkeit der „leeren“ Hände hin­gewiesen. Außerdem bedeutet die aufrechte Haltung zwar einen Verlust an Sicherheit, aber damit einen Gewinn an Mut. Damit erweitert sich die kindliche Spielwelt. Diese Welt wird zunächst durch die Einheit von Sehen und Betasten aus­gebildet. Die leeren Hände bedeuten einen unbestimmten unbegrenzten „freien“ Luxus der motorischen Möglichkei­ten, welchem der Luxus der zu Gesicht kommenden Welt entspricht.

d) Der eigentliche Schritt in die menschliche Welt, in der das Wahrnehmen ein fragendes Ablesen und Hineinlesen von Bedeutungen ist, erfolgt in einer Fülle von symbolischen Spie­len. Sie finden, wie Wallon (1942) richtig bemerkte, ihren Ursprung im „Tun-als-ob“. Wenn das Kind zum er­sten Male einen Holzklotz wie ein Auto oder wie einen Hund bewegt, wird das Stück Holz scheinbar die vergegen­wärtigten Gegenstände. (Der Schein nimmt eine „Zwi­schen­stellung“ ein zwischen „dem Signal und dem Anzeichen“ und ebenso zwischen dem „Zeichen und dem Symbol“.) Er vertritt diese nicht, wie das bezeichnende Wort (als echtes Symbol), aber auch der Holzklotz ist nicht mit dem Auto oder dem Hund identisch. Für das Kind hat das Ding in sei­ner Hand zwei (oder mehrere) Bedeutungen, so wie das Steckenpferd zu gleicher Zeit Stock und Pferd ist. Im sym­bolischen Spielen, im Illusionsspiel, bekommen Dinge und Geschehnisse neue Bedeutungen, die allerdings im spielen­den Umgang ebenso wie sie beibehalten auch gewechselt werden können. Wenn wir nach der Bedingung der Möglich­keit dieser sich vollziehenden Wendung in der Beziehung zur Welt fragen, so können wir diese nur andeuten mit Be­griffen wie: „imaginative kreative Leistung“ — „Zweideu­tigkeit der Existenz“ — „Sein und Haben“ — „Schicksal und Freizeit“ — kurz: Das geistige Sein des Menschen.

e) Wir möchten nachdrücklich betonen, daß sich mit den ersten Illusionsspielen der eigentli­che Sinn des menschlichen Spiels offenbart oder, anders gesagt, daß jenes erregende, erfreuli­che Hin und Her des Spielerischen in der kindlichen Ent­wicklung jetzt als ein menschlicher Weltbezug und als eine dynamische und bildende Macht wirksam wird. Das Kind entdeckt diese Macht in seinem Spielen. Diese Entdeckung setzt eine Existenz in zwei Welten voraus: Der sinnlichen und der unsinnlichen — und in zwei Schichten des Verhal­tens: Der situations­bedingten und triebhaften Schicht und [107] der gewählten entworfenen, eingebildeten Schicht. Die­ses Verhalten setzt auch die Möglichkeit eines Sichverpflichtens voraus und bringt dieses zur Prägnanz. (Für das Spielen gilt jetzt das Wort Alains [1927, S. 177]. „Qui joue, a jure — wer spielt, hat einen Eid geleistet“.)

Die Frage ob das Sich-verpflichten im Illusionsspiel ein re­flektierendes Bewußtsein voraus­setzt, möchten wir aus­schalten. Wenn das junge Kind im Spielen denkt, so ist die­ses Denken keine Reflexion, sondern ein gelebtes Andenken und ebenfalls ein Versuchen.

Die Kinderpsychologen und Pädagogen haben die Entwick­lung der Illusionsspiele ausführlich beschrieben. Im Bezug auf den Zusammenhang mit dem Sich-verpflichten mag fol­gendes hervorgehoben werden.

1. Das vorhandene Spielding verweist auf Mögliches, auf das, was geschehen kann. Es ruft beim Kinde Neugier hervor, die vom Staunen prinzipiell verschieden ist. Neugier führt zu einem versuchenden Tun und zu der Erfahrung des „Wenn — dann“.

2. Während Wiederholungen eines Tuns kein Spielen sind, liegt das „Tun wie vorher“ in der Schicht der Einbildung, der Illusion und des sich-verpflichtenden Verhaltens. Etwas tun wie vorher ist keine gewohnheitsmäßige automatische Wiederholung, sondern eine Re-pro-duk­tion, also eine in­tendierte Nachahmung der eigenen Verhaltensweise. (Viel­leicht kann man von einer „Selbst-Darstellung“ [Gadamer] reden).

3. Piaget (1945) hat es als eine schlichte Wiederholung be­trachtet, wenn ein Kind Freude daran hat, immer wieder über einen Graben zu springen. Das wäre ein Spiel ohne Verpflich­tung. Erst wenn wenigstens zwei Kinder Zusam­menspielen, gibt es, so meint er, „eine Art wirklicher Moral des Vorsatzes“.

Henriot (1967) hat diese Meinung wiederlegt. Etwas genau so machen heißt, sich einer Disziplin unterwerfen. Spie­len mit etwas, das mit dem Spieler spielt, fordert ebenfalls ein Sich-verpflichten, wie das Spielen mit einem lebenden Mitspieler. Es gibt also keine eigent­lichen Spielformen ohne Illusion und ohne ein Schema von akzeptierten Selbstver­pflich­tungen. Wenn ein Mädchen mit einer Puppe spielt, wenn ein Knabe eine Schachtel bewegt, „als ob sie ein Auto wäre“, oder wenn eine alte Dame mit Karten eine „Patien-[108]ce“ spielt, so gibt es immer ein „Imperativ, dem sich der Spielende unterwirft“.

4. Auf alle Fälle ist diese Selbstverpflichtung nicht immer gleich zwingend und von gleichem existentiellen Niveau. Das ist vom „Ernst“ des Spielens abhängig. Dieser Ernst ist nicht nur mit der Freude verbunden, sondern verinner­licht die Freude und verwandelt sie in Glück. Die Einheit von Ernst und Glück ist ein Merkmal jeder Leidenschaft, wie es das Liebesspiel in all seinen Formen beweist.

5. Es ist eine unlösbare Frage, wenn im Spielen der Kinder die Einbildung subjektiv als solche erlebt wird. Wahrscheinlich ist das nie der Fall, denn auch der Erwachsene ist sich sel­ten klar, daß er „nur“ spielt und hat dennoch Freude am Spielen. Nicht nur im Regelspiel, sondern schon in den frü­hesten Symbolischen Spielen des jungen Kindes gilt den­noch: „Kein Spiel ohne verpflichtendes Schema“ (Henriot 1967, S. 238).

Chateau hat diese Einheit von Spielen und Verpflichtungen völlig auf die Einbildung zu­rückgeführt — „Sich etwas vor­stellen, das ist schon sich disziplinieren“. „Sich etwas vor­stel­len ist bauen. Und wie der Architekt nicht baut ohne Plan, stellen wir uns nichts vor ohne Regel. Nun ist aber der Sinn der Regel auch der Sinn der Ordnung und daher der Behrrschung seiner selbst.“ — Wenn das spielende Kind Freude daran hat, sich schwere, eventuell gefährli­che Auf­gaben zu stellen, dann hat es sich selbst als der Ausführende dieser Aufgaben „vorge­stellt“. Man kann auch in diesem Falle mit Gadamer von einer „Selbstdarstellung“ reden. Da­mit ist dann allerdings impliziert, daß jeder Spieler sich selbst in seinen Spielen durch den Erfolg, die Bemeisterung, das Gelingen und Beherrschen hindurch als den tatsächli­chen Ursprung des Erfolges erhebt.

6. Jeder Spieler will durch sein Tun, daß etwas gelingt. Was bedeutet dieses „Wollen“? Diese Frage öffnet weite Per­spektiven. Wir beschränken uns auf die These, daß jedes „Wollen“ immer ein Sich-selbst-Verpflichten ist. In der Ver­pflichtung, die beim Spielen mehr gelebt als gedacht wird, vollzieht sich eine innere Selbstverdoppelung. Diese ist das unmittelbare Erleb­nis einer Zwei-einheit des Verpflichten­den und des Verpflichteten.

Spielen in menschlicher Weise ist jedenfalls kein Naturge­schehen wie beim Tier. Das Kind entdeckt im Spiel seine [109] Menschlichkeit, weil es weiß, daß es etwas selbst verrichtet. Dieses Selbst-etwas-Tun ist immer ein Wählen und also ein Urteilen. Damit schafft sich das Kind — und jeder Spie­ler — ein freies Verhältnis zur Welt. Das ist nur möglich, durch eine Selbst-Disziplin, die Grundbedingung jedes Schaffens.

Wenn Herder sagt: „Der Mensch ist immer schon ein Künst­ler“, dann gilt das in gewissem Sinn für jedes spielende Kind. Wie der Künstler reflektiert das spielende Kind nicht auf das „Wie“, „Was“ und „Warum“ seines Tuns. Dabei ist seine Tätigkeit ein wirkliches Unterneh­men, das freilich nicht genau auf ein Ziel gerichtet ist, sondern sein Tun hat das Abenteuerli­che eines Wagnisses. Es kann gelingen oder nicht. Darum hatte Alain recht, wenn er sagte: „Das Glücks­spiel ist — die Seele aller Spiele.“

7. Schließlich möchten wir noch die sog. Regelspiele betrach­ten. In einer umfangreichen Literatur findet man diese Spiel­formen, an denen zwei oder mehrere Personen (Kinder oder Erwachsene) teilnehmen, beschrieben. Es zeigt sich, daß die Verpflichtung, der jeder Mitspie­ler sich dabei stellt, mehr ist als eine Verabredung oder eine Zustimmung, die Regel zu beach­ten. Im Regelspiel wird von jedem Spieler gefordert, daß er sich einsetzt. Wer das nicht tut — sich selbst nicht zum Einsatz verpflichtet — ist ein Spielverderber, d. h. er be­nimmt sich „unmoralisch“.

Vermeer (1969) weist darauf hin, daß „das Spiel durch die Regel nicht im Gang erhalten werden kann, sobald die Spiel­intention sich auf das Erwerben von Gewinn zu richten be­ginnt und man die Regeln anwendet wie sichere Wege, die zu einem Ziel führen“.

Im Regelspiel der Kinder und der Erwachsenen (Gesell­schaftsspielen und Sportspielen) erscheint das Spielen also in sozialer Form, in einer Gemeinschaft mit normativer ethi­scher Struktur. Die Teilnehmer am Spiel verpflichten sich selbst, die objektiven Normen zu achten und sich an diese zu binden.

(Henriot [1967, S. 207] „Vor dem gemeinsamen Spiel wuß­te man nicht, daß es im eigentli­chen Sinne Regeln gibt …“ Piaget [1956] „… das Bewußtsein der Verpflichtung … kann nicht vom Individuum allein herstammen“.) [110]

Wesen und Sinn des menschlichen Spielens

Die philosophische Besinnung unsrer Zeit hat die menschliche Wirklichkeit einerseits als offene Kommunikation mit der Welt verstanden, anderseits das Ursprüngliche ihres geistigen We­sens, ihres Denkens, Wollens, ihrer schöpferischen Freiheit, ihrer Sprache aus einem „être pour-soi“ gedeutet. Dieses Für- sich-Sein ist eine innere Verdoppelung, eine Distanz zu sich selbst, die sich im Vollzug der Existenz ausbildet, erhellt und einen inneren Dialog ermög­licht.

Im Dasein des Kindes vollzieht sich die Ausbildung und Erhel­lung des Selbstbewußtseins in den üblichen Spielen, dem Um­gang mit Dingen und Menschen. Etwas Tun wird etwas selbst tun wollen, und das bedeutet „sich selbst befehlen“ (Ricoeur). Dieses sich Befehlen verdeut­licht sich als ein sich Verpflichten, und diese Verpflichtung impliziert eine neue Perspektivi­tät, die Inauguration der „exzentrischen Positionalität“ (Plessner).

Wenn das Kind etwas versucht, so ist das identisch mit einem wortlosen Denken „Denken heißt versuchen“ (Merleau-Ponty 1964, S. 10), und darum gilt auch: „Wollen heißt denken“ (Ricoeur). Diese kurzen Hinweise mögen uns verstehen las­sen, was Alain (1927, S. 182) schon bemerkte: „Am Anfang des Nachdenkens steht die Abneigung dagegen, im Einklang mit den äußeren Gegebenheiten zu spielen, und der feste Wunsch, seine Individualität in das Spiel zu legen.“ Mit der Entdeckung der Sprache findet das Kind schließlich seine eigentliche Menschlichkeit.

Es ist die Entdeckung „d’une présence d’une absence“, welche ein neues Verhältnis zur Welt und zum eigenen Sein erschließt. Damit ändert sich der Sinn des Spielens. Das Kind hat die an­fängliche Exploration in der wortlosen Sprache seines eigenen Wesens, „le langage du désir“ (Lacan) vollendet. Es hat dabei auch die menschliche Stimme geübt. Trotz aller Vor­bereitung ist die Entdeckung der Symbolbeziehung dennoch immer ein unbegreiflicher Sprung oder eine totale Wendung. Sie ist die Bedingung für die Exploration nicht nur der eigenen, sondern auch der (objektiven, mitmenschlichen) Welt.

Langeveld (1968) hat in seinen „Studien zur Anthropologie des Kindes“ die Verbindung der Exploration mit der Emanzi­pation in der Entwicklung des Kindes beschrieben. In seiner Betrachtung über „Das Ding in der Welt des Kindes“ hat er auf die Beschränkungen hinge­wiesen, die der werdende Mensch bei seinem deutenden Umgang mit der Welt erfährt. Für das [111] Verständnis des Spielens im fortgeschrittenen Alter müssen wir die entscheidenden Beschränkungen der „unverbindlichen Sinngebung“ im kindlichen Weltbild beachten. Diese Beschrän­kungen sind u. a.: „Man muß mit anderen Menschen rechnen“ — „Wir leben in einer Welt, die uns dient oder ein Halt zuruft“ — Es gibt „eine Vergangenheit, die uns trägt und Möglichkeiten einschränkt“ — „Der Mensch muß auch mit der Zukunft fer­tig werden“ —.

In der Entwicklung der menschlichen Existenz bedeutet das Emanzipationsprinzip, „daß das Kind selbst jemand sein will“ (Langeveld 1968, S. 43). Dieses geistige Wachstum „bedeutet Verzicht auf primitivere Freiheit und Sicherheit. Denn wer die bekannte Welt verläßt, der ris­kiert etwas. Er riskiert das Miß­lingen“ (S. 151).

Spielen ist Verwandeln, obzwar im Sicheren, das wiederkehrt“ (Bloch 1959). Das ist richtig: Verwandeln ist stets eine schöp­ferische Tätigkeit, die das Risiko des Wagnisses voraussetzt. Wenn der Reiz des Spiels in dem Risiko liegt (Gadamer 1960, S. 101), so soll man sich dar­über Rechenschaft geben, daß der Spielende spielend sich selbst dem Risiko der Verwandlung — der Emanzipation — aussetzt. In dieser Perspektive zeigt sich die ursprüngliche Verbin­dung des Spielens mit dem Jugendli­chen, das im Menschen als Mut zum Wagnis weiterlebt, sowie auch in jeder Art künstlerischen Schaffens, das als Spielvoll­endung gedacht werden kann, und zwar als Darstellung und als Selbstdarstellung. (Gadamer, S. 103: „Der Spielende ge­langt zu seiner eigenen Selbstdarstellung, indem er etwas spielt, d. h. darstellt“ — „Spiel — Vollendung ist Kunst — Verwand­lung ins Gebilde. Erst durch diese Wendung gewinnt das Spiel seine Idealität.“) Wir möchten die Beziehung des Spielens zur Kunst nicht näher be­trachten. Nur soll darauf hingewiesen sein, daß die jugendliche Seinsweise sowohl die Bedin­gung des Spielens als des künstlerischen Schaffens ist.

Jeder spielende Mensch zeigt jugendliche Merkmale, und der gealterte, müde, kranke, schwer­mütige oder gelangweilte, auch der sorgende und arbeitende Mensch hat Sehnsucht nach dem „Paradies“ des jugendlichen Lebensdrangs, der Spontaneität, Spannkraft, Vitalität und ein Verlangen, Möglichkeiten zu ver­wirklichen, Grenzen zu überschreiten, das Risiko des Aben­teu­ers auf sich zu nehmen, das Glück zu versuchen — kurz: Die Freude des Spielens zu genie­ßen, das Glück des Gelingens.

Das Heimweh nach Jugendlichkeit richtet sich auf das „liberale Verhältnis zum Weltall“, den wirklich erlebten Spielraum der [112] Freiheit (Bally 1956), die jeden Menschen — und nicht nur den Künstler — auffordert, Spieler zu sein. Diesem Drängen Folge leisten, ist immer ein Wagnis, indem die Sicherheit des erprob­ten Daseins aufs Spiel gesetzt wird.

Der Erwachsene, der in dem Ernst des Daseins als des Sorgend- in-der-Welt-Seins homo faber ist, erfüllt in der Arbeit und in allen sozialen Verhältnissen eine eindeutige Rolle, die ihn in die Kette der Verpflichtungen und Ziele einfügt. Wie Fink (1957) hervorhebt, fügt sich das Spiel nicht in diese tägliche Daseinsweise ein. „Das Spielen hat im Verhältnis zum Lebens­gang und zu seiner forthetzenden Zukunftsweisung den Cha­rakter beruhigter „Gegenwart“ — „es gleicht einer ‚Oase‘ an­gekommenen Glückes in der Wüstenei unseres sonstigen Glückstre­bens und tantalischen Suchens. Das Spiel entführt uns.“

Diese Auffassung des Spielens als „Oase“ in der „Wüste“ des als Sorge und Sein-zum Tode, als mühevolles Arbeiten und als die Resignation des Hinnehmens der täglichen Gewohnheiten und Notwendigkeiten vorhandenen Daseins ist sicher zu ein­seitig und zu pessimistisch. Wenn man meint, der Sinn des Spielens sei nur die Verwirklichung der Befreiung von der Verfallen­heit an die Welt, so verkennt man vollständig, daß der gesunde Mensch immer im Stande ist, in jeder „Einöde“ Hei­terkeit als Gestimmtheit zu kultivieren. Diese Kultur ist die Fortsetzung der Exploration des Jugendlichen, die Beglückung eines Lebens mit dem Bilderreichtum einer Welt, in der die Na­tur in und um uns eine Quelle von Möglichkeiten ist. Ihre Ent­deckung ist jenes Geschenk der Freude, jene Beglückung des Lebens, die das Gelingen jedes „Spielens“ bedeutet, mit dem Gewinn einer verborgenen Sinn- und Wertfülle im sinnlichen oder geisti­gen Bereich.

Daß es sich hierbei um ein Spielen handelt, versteht sich aus der Grundstimmung heraus, die eine Distanz zu allen Formen der ernsthaften, notwendigen, mühevollen, verpflichtenden, zeilgerichteten, also fesselnden Situationen, einnimmt. Zu die­ser Stimmung gehören nicht nur der Leichtsinn und Mut, son­dern auch die Ironie im sokratischen Sinne: Das Infragestellen, die Relativierung des Erkennens nur durch festgelegte Begriffe. Wir können hier aber von den tiefen Deutungen der sokrati­schen Ironie eines Kierkegaard und vieler anderer absehen und uns den Aussagen Jankelevitchs (1950) anschließen, daß der ironische Geist ein gelöster, freier, leichtgesinnter Geist ist, der zum Spielen neigt. „Das ironische Bewußtsein scherzt spie­lend mit der Welt.“ Die Ironie ist ein „geistiges Spiel“ mit der[113] Welt, in der Rolle des Ironisierenden spielt man um den Ge­winn „eines unschuldigen Geistes und eines inspirierten Her­zens“. Das unreflektierte gelebte Äquivalent einer intentiona­len Ironie finden wir im kindlichen Spiel vor — und dieses Äqui­valent wird als Beglückung wiedergefunden, wenn der Er­wachsene die pathische Existenz der Jugendlichkeit wählt.

Wir können in einer Untersuchung des wesentlichen Sinnge­haltes des Spielens nicht unterlas­sen den von Pascal so nach­drücklich betonten Zusammenhang mit der Langeweile zu be­achten. Im bekannten Fragment 131 seiner „Pensées“ lesen wir: „Nichts ist für den Menschen so unerträglich als in voller Ruhe zu sein, ohne Leidenschaften, ohne Geschäft, ohne Ab­len­kung, ohne Aufgabe. Dann spürt er sein Nichts, seine Ver­lassenheit, seine Unzulänglichkeit, seine Ohnmacht, seine Lee­re —Diese Leere erlebt der Mensch als Langeweile, Traurig­keit und Verzweiflung. Der Ausweg, den er immer wieder sucht, ist „le divertissement“, die Zer­streuung, das Spiel. „Ein Billard und eine Kugel, die man stößt, genügt, um ihn zu zer­streuen“ (fr. 139).

Man kann die Beziehung der Langeweile zum Spielen in zwei­erlei Weise verstehen. Es gibt in der alltäglichen Erfahrung eine Stimmung, die in der Freizeit als ein „Was soll ich tun?“ sich meldet und zu der Wahl irgendeiner Zerstreuung führt. Man kann entweder spazierengehen, den Fernsehapparat einschal­ten, einen Bekannten aufsuchen, ins Wirtshaus gehen, Karten spielen oder eine Partie Schach usw.

Auf diese oberflächliche Stimmungslage bezieht sich Pascals Gedanke nicht. Was der Autor der „Pensées“ mit „in voller Ruhe zu sein“ eigentlich meint, ist vielmehr vergleichbar mit der Offenbarung des Nichts unsres Seins und der existenziel­len Angst so wie es Hegel und Kier­kegaard jeder auf seine Weise schon verstanden hatten, (de Waehlens [1956] hat He­gels Begriff der „Negativität des menschlichen Seins“ erläutert durch den Hinweis auf eine Deu­tung Hegels, daß der Mensch ein „discours révélant“ ist. Der Mensch ist darum das beäng­stigte Wesen, weil er das Wesen ist, das spricht.

Die Verwandtschaft zwischen der von Kierkegaard durch­schauten Verbindung von Angst und Freiheit, finden wir be­kanntlich in ähnlicher Weise wieder bei Heidegger. Sein Be­griff der „radikalen Unheimlichkeit“ ist eine Befindlichkeit, die Pascal mit „ennui“ (Langeweile) und „vide“ (Leere) gemeint hat. Mit Kierkegaard stimmt wohl die Aussage überein: „Die Angst offenbart im Dasein … das Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-Wählens und -Er­grei­fens“ (S. 188). [114]

Heidegger erklärt „die faktische Seltenheit des Angstphäno­mens“, weil in der Alltäglichkeit des Daseins jeder Mensch lebt, sich verhält, denkt und fühlt wie „die anderen“. „Wir ge­nießen und vergnügen uns, wie man genießt „Das Man schreibt die Seinsart der Alltäglichkeit vor“ (S. 126 f.). Darum, so fügen wir hinzu, spielen wir auch, wie man spielt.

Der Sinn des Spielens wäre also zunächst eine Zerstreuungs­form, die in der Gesellschaft tradi­tionell sich ausbildet, um die Schwere der „infantilen“ Antriebe nach Geltung, Wagnis, Wett­kampf, Erfolg in ungefährlicher Weise zu lösen. Außer­dem bedeuten die Spiele vielfach „Übungen“, entweder geeig­nete Mittel, um sich leiblich frisch und kräftig zu fühlen, oder um in der Beherrschung jener „Strategie“, die den Erfolg in ge­wissen Spielen — z. B. Karten­spiel, Schachspiel usw. — bedingt, eine Überlegenheit zu realisieren.

Diese oberflächliche Deutung des Spielens der Erwachsenen gründet auf die Erwägung, daß die Freude an Illusionsspielen und Regelspielen an Wagnis und Gelingen in den institutio­nali­sierten Spielformen gesellschaftlich kultiviert werden. In der Alltäglichkeit hat man also eine Kontinuität der jugendli­chen Erholung, Unterhaltung und Ausgelassenheit beibehalten — und zwar in der Freizeit.

Verweist aber das Phänomen der Freizeit nicht auf einen tiefe­ren Sinngehalt des Spielens? Spricht nicht das Wort Valerys: „Nous avons perdu le loisir de murir“ (Wir haben die Muße, zu reifen, eingebüßt) auf eine allzusehr vergessene Bedeutung von Freizeit an? Die Freizeit, die Muße, ist die befreite Zeit, im Gegensatz zur „besorgten“ Zeit, der „Weltzeit“ (Heideg­ger). Die Freizeit ist das Klima einer zeitlosen — man möchte sagen — einer paradiesischen Geborgenheit, in deren Mitte der „Baum des Lebens“ steht. In der Freizeit meldet sich die Sehnsucht, den sorgenfreien sympathetischen Umgang mit Dingen und Menschen in unserem erwachsenen Dasein wiederzufinden. Darum soll man spielen, und zwar — es sei nochmals gesagt — um des Gewinns eines unschuldigen Geistes und eines inspirier­ten Herzens willen. Dieses Spielen ist dann viel mehr „Selbst­darstellung“ als „Divertissement“. Divertir — so hat Plügge (1962) herausgestellt — „ist ganz wörtlich zu nehmen als „Aus­einanderstreben“, als ein extrovertiertes oder expansives Sich- von-sich selbst-Abwenden“ (S. 5).

Das menschliche Spiel zeigt allerdings noch andere Aspekte. So hat Gadamer recht mit der Bemerkung: „Das Spiel wird über den Spielenden Herr … es hält ihn im Banne“ (S. 102). Tat-[115]sächlich ist jedes „ernste“ Spiel eine leidenschaftliche Bindung, ein Hingerissenwerden und Sich-hinreißen-Lassen. Je mehr das Spielen einen riskanten Charakter erhält und der Mut zum Wagnis eine vorwiegende Bedingung wird, kann das Spiel den Spieler dermaßen hinrei­ßen, daß er sich in einer Befindlichkeit erlebt, die an Rausch oder Schwindel grenzt. Darum hat Caillois (1958) eine Spielform unterschieden, die er „Spiel zum Schwindligwerden“ nennt und die besonders hervortritt, wenn dem Risiko eine überwältigende Bedeutung zu­kommt.

Je mehr das Spielen sich in seiner Menschlichkeit ausprägt, um so größer wird die Bedeutung des Risikos. Schon im kindlichen Regelspiel und in den jugendlichen Sportspielen muß man das Wichtigste sehen, in den Geschmack des Risikos zu kommen, den Wunsch auf die Probe zu stellen und sich selbst auf die Probe zu stellen.

Das Risiko, etwas zu versuchen und besonders sich zu erpro­ben, ist das Erlebnis des Selbst­seins gegenüber der Unbe­stimmtheit des Kommenden. Unsre Existenz ist zwar eine Coexi­stenz, aber diese ist wesentlich immer ein „co-devenir“ (Mit­werden) (Minkowski). Jede Erwartung hat stets die Form des „Wenn — Dann“, und zwar wird dieser Zusammenhang zu­nächst gedankenlos gelebt. Der Fußballspieler kann z. B. einen Fehler nachher entschuldigen: „Ich dachte, daß er dachte, daß ich jenes tun würde.“ Aber im Spielverlauf denkt man nicht, sondern Bemerken und Tun geschehen gedankenlos, dennoch sind sie bestimmt durch ein erlebtes „Wenn-Dann“. Das Risi­ko, das sich darin zeigt, kann den Charakter einer relativ hohen Wahrscheinlichkeit haben, aber auch den einer völlig undurch­sichtigen Möglichkeit. Dann ist das erlebte „Wenn-Dann“ für den Spieler eine erlebte angsterfüllte Hoffnung. (Grandjouan zitiert [S. 88] eine Aussage von Comenius [Schola ludens]: Der Esel ist zwischen Hoffnung und Furcht hin und her geris­sen, was eine erwünschte Wirkung hervor­bringt).

Die Spannung, die das „Wenn-Dann“ vergegenwärtigt, kann gering oder stark sein. Im letzte­ren Falle ist die Gegenwart selbst das Anwesen eines absoluten Abwesens — „la presence d’une absence absolue.

Die Anwesenheit einer Abwesenheit kann sich nur verwirkli­chen in dem Sein des Menschen als dem fragenden Wesen, also dem Wesen, das spricht. Aber bevor das Kind die Sprache ent­deckt, erschließt seine „langage du desir“ (Sprache der Begier­de) den Zugang zum Abwesenden. Schon die ersten vokalen Äußerungen — z. B. ma-ma (die sog. Lallsprache) — sind Aus-[116]druck des Erlebnisses einer Abwesenheit, die das Kind inner­lich — „in einer innerlich erlebten Zeit“ — denn „es ist Meister seiner Gegenwart, wenn es unter seinem Be­dürfnis leidet“ (Dolto 1956). Wir möchten nur auf diese „langage du désir“ hinweisen, weil aus dieser rein evozierenden Sprache eine Fülle von spielerischen Verhaltensweisen hervor­gehen. Jedes Part­nerschaftsspiel ist schon sprachmäßig. Derwort (1954) hat das Gespräch als ein Zusammenspiel verstanden, indem ein Span­nungsmoment zwischen dem Sprechenden und Hörenden den Ausspruch erst als Sprachhandlung determiniert.

Besonders überzeugend ist der Zusammenhang einer „langage du désir“ mit dem Liebesspiel, in dem das Thema „Wenn-Dann“ eine ausgezeichnete Prägung bekommt. Das rührt wohl daher, daß in der Begegnung der Geschlechter, das Abenteuer und das Wagnis in Zusammen­hang stehen mit einer unver­gleichbaren Schwellen-Positionalität, einer Situation der Verle­genheit und der unbestimmten Angst (Buytendijk 1956). Diese Situation, die ein anfangen­des Liebesspiel kennzeichnet, ruft bekanntlich ein Verhältnis und ein Verhalten hervor, die sich in vielen Spielweisen manifestieren. In jeder Verlegenheitssi­tuation weiß man nicht, was zu tun sei und was man sagen soll. Diese Peinlichkeit — diese ängstliche Spannung — wird nur durch Spielen ohne Leitmotiv, ohne eine verbindliche, zeit­überbrückende Gestalt gelöst. Das Liebesspiel hat mit früh­kindlichen spielerischen Tätigkeiten eine enge Verwandtschaft, die sich in dem ruhelosen „Hin und Her“, im beschränkten Spielraum, in der pathischen Exi­stenz, in der Bindung an Bil­der, die zum Spielen einladen und spielend sich darstellen, zeigt. Besonders überzeugend gilt für das Liebesspiel: Spielen ist Verwandeln — und zwar der Welt und des eigenen Seins.

Der Zusammenhang zwischen Spiel und Angst sowie die Selbstdarstellung als „wahres We­sen des Spiels“ (Gadamer 1960, S. 110) ist ausgeprägt im „Spiel von dir und mir“, das keine es-hafte, sondern wir-hafte Musik ist (Binswanger 1942). Aber ein Liebesspiel wird nur möglich, wenn die Angst der prononcierten Schwellen-Positionalität und die ängstliche Be­findlichkeit, der Schwindel vor dem Abgrund des triebhaften Begehrens, überwunden wird.

Das Mysterium tremendum der Liebe zu einer „fremden“ Per­son ist ein existentielles Wagnis im wahrsten Sinne des Wor­tes, denn es ist das Überschreiten der Schwelle eines vollstän­dig neuen, zunächst unbekannten und verwirrenden Daseins­raums. Lieben ist „Entbindung“, die Göppert (1963) interpre­tierte als die Befreiung der ursprünglichen Blutbande (des sym-[117] bolischen Inzestes), also Menschwerdung als Freiheit. Diese Entbindung fordert Mut, die Angst zu überwinden, um sich als Ich in der freien Gebundenheit der Liebesgemeinschaft zu ent­decken. Göppert hat uns das klar gezeigt, als er der bekann­ten Aussage Freuds: „Das Ich ist die Stätte der Angst“ hinzu­fügte: „Die Angst ist die Stätte der Ichs, das Medium, in dem das Dasein sich als Ich erfährt“. Vielleicht hat Freud etwas Ähnliches gesehen und in seiner bekannten Aussage zusammengefaßt: „Das Es soll Ich werden“.

Wir können nicht umhin darauf hinzuweisen, daß wenn die menschliche Liebe sich nur ver­wirklicht im Zusammenhang von Angst und Spielen, wir damit vielleicht auf den eigentlichen Sinn jedes Spiels im Dasein und in der persönlichen Entwick­lung gewiesen werden. Das ist jedenfalls die Schlußfolgerung der Untersuchung Henriots: „Alle Wege, die wir verfolgt ha­ben, kommen zusammen in der Idee des Kreuzwegs für den Menschen, der seine Ehre darin sieht, sein Leben gut zu spie­len.“ „Wenn es auch sein mag, daß der Mensch in Angst und Verzweiflung Selbstbewußtsein erwirbt und seine Macht ent­deckt, so kann diese Erfahrung ihn nicht entmutigen.“

„Was ist die Angst anderes als das Bewußtsein, spielen zu müssen. Das Spiel zeigt sich als die Bewegung, durch die der Mensch zum Menschen wird“ (Henriot 1969).

Es ist wohl klar, daß diese Sicht des Spielens als Grund des Daseinsvollzugs von den histori­schen Deutungen Huizingas und vom Begriffe des Rollenspiels in den Arbeiten Sartres sich prinzipiell unterscheidet.

Wir möchten darauf hinweisen, daß die Auffassungen Binswangers ebenfalls die umfassen­de Bedeutung des Spiels — sei es auch in einem anderen Sinn — herausstellen. Die oben zi­tierten Worte Henriots: „Das Spiel erscheint als die Bewegung, durch die der Mensch sich bildet“, können so verstanden wer­den, daß der Mensch nur in der Begegnung und im Umgang mit den Mitmenschen seine Menschlichkeit verwirklicht. In Übereinstimmung damit wäre dann die Aussage Binswangers über die „Mitwelt“ als den mit mir das Frage-Antwortspiel des Daseins mit sich selbst ,spielenden‘ mit-Daseienden … “ Nur in der Form dieses Spiels, das auch jeglichen Kampf umfaßt, „geht es um Sittlichkeit und Recht“ (S. 532). Darum — so lesen wir an andrer Stelle — bin ich … „ein im unendlichen Spiel des Daseins mit sich selbst mit Leib und Seele aufgehendes Seinsglied“ (S. 678).

Verstehen wir das menschliche Sein als Selbstbewußtsein und als sich verpflichtenden Um­gang mit den anderen, so fordert [118] die Verwirklichung dieses Seins als Dasein und Mit­sein eine ständige Distanz des Menschen zu sich selbst. Darum sagt Henriot mit Recht, daß das Bewußtsein definiert ist durch ein „intrasubjektives Spiel“, worin der Mensch sich als der Autor und der Akteur seines eignen Dramas erlebt (S. 92).

Dieses situationsmäßige Verhältnis des Subjektes zu sich selbst ist der Grund jedes eigentli­chen Ausdrucks, also der Sprache.

Selbstverständlich können wir in unseren begrenzten Betrach­tungen keine Erörterung des umfassenden Themas der Sprache und des Sprechens einfügen. Nur einige Hinweise auf den Zu­sammenhang mit dem Spielen mögen genügen. Zuerst sei hin­gewiesen auf einen Satz von Lacan (1956, S. 121): „Durch das Wort, das schon eine Anwesenheit aus Abwesenheit ist, bringt sich die Menschheit in einem originellen Augenblick zur Spra­che, dessen beständige Wiedererzeugung des Genie Freuds im Spiel des Kindes erkannt hat.“ — „Der Mensch spricht aber nur, weil ihn das Symbol zum Menschen gemacht hat.“

Die symbolische Macht des Wortes ruft das Abwesende an. In der Entdeckung der Sprache erlebt das Kind die Freude des Spielens mit Worten, die nicht nur abwesende Dinge anwesen lassen, sondern auch mit jedem Anruf die Gemeinsamkeit mit anderen Menschen ausbilden. Schon Helen Keller hat das „Aufregende“ der Macht beschrieben, Dinge, die nicht sichtbar und tastbar sind, zu erleben, als ob sie da wären. In gewissem Sinne ist das Sprechen immer ein Spielen im Modus des „AIs- ob“, das schon vom Kinde in jeder intentionellen Nachah­mung entdeckt wird (Wallon [1942]: Der Schein ist, was durch die Vergegenwärtigung in dem Maße realisiert wird, in dem diese neben dem Objekt Gestalt annimmt oder in den meisten Fäl­len an ihnen teil hat.

Wir können nicht umhin in Hinsicht auf den Zusammenhang der Sprache mit dem spielenden Dasein eine Aussage Heideg­gers (1954) zu zitieren. Allerdings wird diese aus dem Zusam­menhang seiner Arbeit: „Was heißt Denken?“ herausgelöst und ruft somit eine andere Bedeu­tungsperspektive hervor.

Nach einer Untersuchung der ursprünglichen Bedeutung des Wortes „heißen“ wird die Frage „Was heißt Denken?“ von Heidegger so verstanden, daß wir fragen „nach dem, was unse­rem Wesen das Denken anbefiehlt und so unser Wesen selbst in das Denken gelangen läßt, um es darin zu bergen“. Diese Rückkehr in die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „heißen“ ist „weder Willkür noch Spielerei“. Dann folgt die für unsere Untersuchung bedeutende Aussage: „Wenn hier schon von [119] einem Spiel die Rede sein darf, dann spielen wir nicht mit Wör­tern, sondern das Wesen der Sprache spielt mit uns … nicht erst heute, sondern längst und stets.

Die Meinung, daß die Sprache ein Spiel ist, in dem wir uns wagen und auf das unser Dasein gegründet ist, steht im Ein­klang mit den Gedanken, die Gadamer (1960, S. 464 f.) am Schluß seines Werkes formuliert. „Sprachliche Spiele sind es auch, in denen wir uns … zum Ver­ständnis der Welt erheben.“ Wir fügen hinzu: Besonders der Mitwelt, denn jedes persön­liche Personenverständnis ist wie Binswanger zeigte: „Spiel des Daseins mit sich selbst in der Objektivität der Liebe“ — d. h. der Verständigung mit dem Alter-Ego.

Die Erfahrung des Alltags bestätigt die Macht der sprachlichen Spiele, die im Gegensatz zu jeder Form der „Information“ das Menschliche anrufen und evozieren, und zwar vom Säug­lings­alter an, in jeder Lebenslage, bis das Spiel verkümmert im win­terlichen Schweigen der Senilität.

Die Sprache als Spiel ist das, „das spielt, in dem es die Spieler in sich einbezieht“. Entspre­chend ist … nicht von einem Spie­len mit der Sprache … die Rede, sondern von dem Spiel der Sprache selbst, die uns anspricht, vorschlägt und zurückzieht, fragt und in der Antwort sich selbst erfüllt. Ein Spiel ist das Verstehen. Diese ausgezeichnete Aussage Gadamers betrifft Wesen und Sinn jedes menschlichen Spiels. Wir möchten nur hinzufügen, „wir werden nie­mals aufhören zu sprechen“ (de Waehlens 1958).

Wir können nicht umhin, im Anschluß an unsere kurze Be­trachtung der Sprache als Spiel auf ein klassisches Thema der Metaphysik hinzuweisen: Die Bedeutung der Einbildungskraft für das menschliche Geistesleben.

Schon der erwähnte tiefe Gedanke von Merleau-Ponty (1964): „Denken, d. h. probieren“ verweist auf die Einheit des Den­kens und also der Einbildungskraft und des „Suchend-Versu- chens“, das jede Spielform in der Sphäre des Menschlichen hebt.

Wie sehr die Besinnung auf das Denken mit der Spielproblematik zusammenhängt, zeigt uns die Arbeit von Trebels (1967) „Einbildungskraft und Spiel — Untersuchungen zu kantischen Ästhetik.“ Wir möchten aus dieser reichhaltigen Arbeit einige Gedanken hervorheben. Die Idee eines „intrasubjektiven“ Spiels als die Bedingung der Möglichkeit in menschlicher Wei­se zu spielen wird von Trebels im Zusammenhang mit der kanti­schen Philosophie zum Ausdruck gebracht. Die Frage nach dem [120] ursprünglichen Wesen des Spielens wird beantwortet mit dem Hinweis auf das Spiel der Spontaneität, in der alles Spielen gründet (S. 210). Es ist „das Spiel der Erkenntniskräfte, die als (menschliche) Spontaneitätsäußerung“ verstanden werden. Dar­um ist „die Spontaneität des Ich-denke als Ursprung des Spiels (S. 214) zu betrachten. — Was sich im „Ich-denke“ abspielt, ist „das Spiel der Einbildungskraft, Spiel des Verstandes und Spiel der Vernunft“ (S. 225).

Im § 18 „Illusion als die dem Spiel eigene Realitätsebene“ wird in Übereinstimmung mit der üblichen Auffassung ausgeführt, daß wir „im Spiel dem Schein und der Illusion erliegen und doch zugleich um die Realität wissen“ (S. 157).

Interessant ist folgende Bemerkung: „Dieses Spiel der Urteils­kraft (bei Kant) ist ein Spiel mit der Furcht, ein Spiel mit der fiktiven Gefährdung, welche jedoch das Nichtergriffensein durch eben diese Furcht voraussetzt, die persönliche Sicherheit“ (S. 190). „Gegenstand dieses Spiels der Urteilskraft ist das Spiel mit der Furcht … zugleich Spiel mit dem Leben und Spiel mit dem Tod“ (S. 191).

Die Beziehung zwischen Spiel und Furcht, die Trebels darlegt, erinnert uns an die erwähnte These Henriots über die Angst als das Bewußtsein, spielen zu müssen. Eine wichtige Erläu­te­rung scheint uns, daß diese Angst nicht „wirklich“ sein soll. In Übereinstimmung damit ist die von Trebels zitierte Bemerkung Eriksons: „Im Spiel wird die Angst für das Kind mani­pulier­bar.“

Trebels Antwort auf die Frage nach dem ursprünglichen We­sen des Spiels ist in Überein­stimmung mit der Auffassung Gadamers, daß alles Spielen ein Gespieltwerden ist und daß das Spiel durch die Spieler lediglich zur Darstellung kommt.

Der tiefste Grund der Tatsache, daß der Mensch dem Spiel er­liegt — sein Gefangener ist — wie Trebels sagt (S. 212) — liegt wohl im Geheimnis seines bewußten Seins — seines „être pour-soi“, dem letzten Grund seines nie endenden „Hin und Her“ der Bejahung und Vernei­nung. [121]

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Quelle: Hans-Georg Gadamer/Paul Vogler (Hrsg.), Neue Anthropologie, Bd. 4: Kulturanthro­pologie, Stuttgart: Georg Thieme, 1973, S. 88-122.

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