Frederik Jacobus Johannes Buytendijk, Das eigene Herz (1950): „Wenn ich sage: Mein Herz schlägt so stark, oder: Es tut weh, so meine ich jenes innere unruhig Klopfende, dasjenige, das sich auch in Sorge und Freude, in Angst und Erregung meldet, das unbedingt das Meine ist, aber zugleich das Unbestimmte, unklar Erkannte, das Ungesehene, Unvorstellbare.“

Das eigene Herz. Aus dem Psychologischen Laboratorium der Universität Utrecht

Von F.J.J. Buytendijk

Die Psychogenie der Herzkrankheiten ist eine unumstrittene Tatsache geworden. Die persönlichen Erfahrungen zahlreicher Ärzte haben statistische Untersuchungen der amerikanischen Lebensversicherungsgesellschaften bestätigt. Selbst organische Herzleiden scheinen in vielen Fällen durch sogenannte psychische «Ursachen» (!) entstehen zu können.

Der Mediziner verwendet den Begriff der Psychogenie und der psychischen Ursachen nur als Leitfaden für seine praktische Arbeit, Prognose und Therapie. Theoretische Verantwortung seiner dinghaften Auffassung des Psychischen und einer kausalen Beziehung zwischen Erlebnis, Affekt, verdrängtem Trieb usw., also zwischen einem psychischen Inhalt oder Geschehnis und einer funktionellen oder anatomischen Änderung des Organs, liegt dem Praktiker fern. Eine leib­seelische Wechselwirkung in schematisierter kartesianischer Form oder etwa die sehr verbreitete Meinung, daß mit bestimmten Prozessen im zentralen Nervensystem Bewußtseinserscheinungen in geheimnisvoller Weise verbunden sind, genügen ihm scheinbar für seine klinischen Zwecke vollkommen. Je mehr aber der Herzspezialist sich mit der Lebens­geschichte des Kranken befaßt, je klarer wird es ihm, daß gerade das therapeutische Vorgehen ein tieferes Verständnis des Menschen fordert, als es die genannten traditionellen Auffassungen ermöglichen.

Es zeigt sich, daß der Verlauf einer chronischen Krankheit, wie das Herzleiden, nicht wie ein gesetzmäßiges Geschehen, sondern wie eine persönliche Geschichte betrachtet werden muß. Daraus geht aber mit Notwendigkeit eine grundsätzliche Wendung im medizinischen Denken hervor, die v. Weizsäcker schon vor vielen Jahren treffend die Einführung des Subjektes in die Pathologie genannt hat[1]. In seinen anthropologischen Vorlesungen in der medizinischen Klinik hat er dann in überzeugender Weise gezeigt, welche Konsequenzen die Einführung des Subjektes für das Verständnis der Krankheiten hat. In Übereinstimmung mit der modernen, auf Husserls Begriff des intentionalen Bewußtseins und einer existentiellen Anthropologie gegründeten Psychologie schreibt v. Weizsäcker: «Ein Subjekt kann, ja muß wählen …» «Der Kranke hat nicht nur seine Krankheit, er macht sie …» «Das Wort ,machen‘ soll uns in der Tat hier nicht nur bedeuten, daß er in bewußtem Willensentschluß etwas macht; dieses Machen ist ja vielmehr selbst eingefangen ins Können, Dürfen, Sollen und Müssen[2]

Mit diesem Gedankengang ist eine neue Betrachtung des chronischen Herzleidens angebahnt, welche die Therapie und die Prognose unmittelbar beeinflussen wird, indem der Arzt den Patienten nicht nur als «Fall» kategorisch beurteilt, sondern ihm als Person begegnet und in dieser Begegnung an seinem Schicksal und am Verhältnis zwischen dem Willen des Kranken und seiner Krankheit teilnimmt.

Natürlich gibt es auch körperliches Geschehen! Anatomie und Physiologie können uns aber nur darüber belehren, was möglich ist, nicht was in Gesundheit und Krankheit verwirklicht wird. Der Leib des Menschen ist ein Teil der Situation, in der er sich befindet, aber jede Situation ist nur durch den Sinn bestimmt, den das Subjekt gewählt hat.

Auch ohne Reflexion, völlig unbedachtsam, aber darum nicht unbewußt, ist jedes Erlebte etwas, von dem der Mensch weiß, und also etwas, das Bedeutung für ihn hat. Diese Bedeutung kann ge­ring und vorübergehend sein, sie ist aber das Motiv für ein Verhalten, für eine geän­derte Beziehung zur Welt. Ein Motiv ist immer ein Antezedent, das nur durch seinen Sinn wirksam Ist. Es ist also keine Ursache in naturwissenschaftlicher Bedeutung. Falls ein Motiv wirksam ist und das Verhalten und die Existenz bestimmt, war es ein gültiges Motiv, wurde also akzeptiert, bejaht. Man hat es gelten lassen. Ein Motiv kann auch zwingend sein, aber das ist es dennoch nur einer Freiheit gegenüber, die gezwungen wird, weil es für sie Zwang bedeutet. Eine gezwungene Freiheit ist nicht ein verursachtes Geschehnis.

Die Beziehung von Ursache und Wirkung steht außerhalb jeder möglichen Freiheit. Versteht man die Krankheit also als Geschichte, als Entscheidungen auf Grund von Motiven, dann versteht man den Menschen in seiner Freiheit. Sehr richtig sagt denn auch v. Weizsäcker: «Jemand, der die Freiheit leugnet, der Determinist ist, kann nicht Arzt bleiben oder werden wollen …» «Nur wenn der Mensch, der Kranke und sein Arzt, in der Freiheit stehen, ist eine Therapie möglich, und nur von hier aus kann das Wesen des Menschen richtig beschrieben werden.»

Die motivierte Entscheidung ist immer ein Akt des intentionalen Bewußtseins. Also ist die organische Krankheit nur insofern eine Geschichte und nicht ein Naturgeschehnis, als der Leib und das betreffende Organ im Leibe erlebt wird, d. h. ein Objekt für das Bewußtsein ist.

Wir fragen also: In welcher Weise kann das Herz erlebt werden? Nur die Beantwortung dieser Frage kann die Grundlage für ein tieferes Verständnis der Psychogenie der Herzkrankheiten bilden.

Der Mensch hat seinen Leib und ist sein Leib (Plessner, Sartre, Marcel, Merleau Ponty). Nie aber hat einer ein Körperteil, wie er einen Gegenstand der Außenwelt hat. Immer wird er seine Hand als die eigene erleben, und das unreflektierte (positionelle) Bewußtsein der Hand ist zu gleicher Zeit das Bewußtsein des «Eigen-Seins». Dieses Bewußtsein konstituiert die Hand als Beziehung zur Situation und als Teil dieser Situation und der Existenz.

Ist die Hand nicht die eigene in diesem Sinne, so kann sie immer noch die eigene in einem anderen Sinne sein. Auch die gelähmte und anästhetische Hand ist nicht eine völlig fremde, sondern die eigene entfremdete. Wir erleben sie in einer ambivalenten Weise. Diese ambivalente Beziehung zu einem Teil des Leibes entsteht erst durch den Entwurf einer besonderen Situation, und zwar fordert jedes Körperteil eine andere Sinnstruktur der Existenz, um als eigen, entfremdet oder fremd erlebt zu werden. Überzeugend läßt sich das in einer phänomenologischen Analyse der Erfahrungen beim Schneiden der Nägel, beim Nägelbeißen und beim Streicheln der Haare (auch einer anderen Person) zeigen.

Die erste Bedingung für irgendeine Beziehungsweise zu einem Körperteil ist das Bemerken seiner Anwesenheit. Schon bei einer leichten Berührung meines Armes erlebe ich, daß ich berührt werde, bei einer wiederholten Berührung erlebe ich, daß mein Arm berührt wird. Derselbe Hautreiz kann verschiedenen Situationen sinnvoll zugeordnet sein, und zwar so, daß entweder der berührte Arm mein eigener Arm oder ein peripherer Ort meiner körperlichen Existenz ist, der Ort, wo ich selbst mich in meiner Grenze befinde.

Es ist verständlich, daß unsere Beziehung zu den inneren vegetativen Organen prinzipiell eine andere sein muß als zu unserer äußeren Körperlichkeit, unseren Gliedern, Rumpf und Antlitz. Während wir bei der Selbstbewegung oder bei Berührung diese Körperteile haben und in denselben sind, «haben» wir nur einen Magen, einen Darm, eine Lunge und ein Herz, wenn wir auf irgendeine Weise diese Organe bemerken.

Ein unbemerktes Herz ist überhaupt nicht «da». Falls wir aber nach schnellem Lauf, bei emo­tionaler Erregung, im Fieber usw. das Klopfen in der Brust bemerken, erleben wir unser Herz.

Inwiefern ist es aber das eigene Herz?

Wenn ich sage: Mein Herz schlägt so stark, oder: Es tut weh, so meine ich jenes innere unruhig Klopfende, dasjenige, das sich auch in Sorge und Freude, in Angst und Erregung meldet, das unbedingt das Meine ist, aber zugleich das Unbestimmte, unklar Erkannte, das Ungesehene, Unvorstellbare. Jedes innere Organ ist, wenn es bemerkt wird, das eigene, aber in solcher Weise der Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit, daß die Empfindung in der Herzgegend zum Ausgangspunkt einer Einbildung werden muß, die eine von der Situation unabhängige unbegrenzte Entwicklung durchmacht. In diese Einbildung gehen alle früheren Vorstellungen vom Herzen ein, die traditionellen über das Zentrum der Gefühle, das «Gemüt», eben­so wie die durch anatomisches Wissen erworbenen Vorstellungen. Je starker die Einbildung, desto mehr wird das eigene Herz zu einem Ding in uns objektiviert, das zwar noch das eigene ist, doch im Modus des Entfremdetseins, und kein Organ ist so zum Erlebnis in der Ambivalenz des «Fremd­eignen» prädisponiert wie das Herz. Dafür gibt es mehrere Gründe.

Erstens bemerken wir die Selbständigkeit der Bewegung des Herzens, das Schlagen gegen die Brustwand als autonom. Das eigene Herz demonstriert sein Leben, unabhängig von mir. Zweitens wiederholt sich das Erlebnis des Herzens, und diese Wiederholung wird im reflektiven Bewußtsein die Veranlassung zu einer Verstärkung des Aspekts des Eigenen, Bekannten, Ver­trauten, wiewohl in einer Distanzierung zu uns, so wie man etwas erwartet. Wir erinnern an eine Aussprache Sartres über den Schmerz[3]: «Pour la reflexion organisatrice, les brefs répits font partie du mal, comme les silences font partie d’une mélodie …» «Les malades ont avec lui (la douleur) une sorte d’intimité! …» «C’est ma crise de raprès-midi …» Man fühlt das Sichnähern des Schmerzes, «c’est lui» – des anderen als des Meinen. Ähnliches erlebt der Herzkranke und besonders der Angina-pectoris-Patient.

Die wiederholte Empfindung des Herzens konstituiert das Organ in prägnanter Weise als das eigene. In gleicher Weise erlebt der Violinspieler seine Hände, eine Frau ihr Haar, ein Sänger seine Stimme. Ähnlich wird das Herz – das erkrankte, ungebändigt schlagende – beim chronisch erkrankten Menschen in die Intimität der Existenz einbezogen, man könnte fast sagen, wie das Kind in die Existenz der Mutter. Aber es ist das «ärgerliche» Kind, das eigensinnige, wie wir es auch bei einem gichtischen Fuß oder einem schmerzenden Zahn erleben können.

Zuletzt ist das Angsterlebnis, das die Herzempfindungen begleitet, das zwingendste Motiv, die Entfremdung des Herzens, die Feindschaft und Bedrohung dieses eigenen Organs zu einem neuen Angsterlebnis werden zu lassen. Die Einbildung transformiert die primäre Angst, die unmittelbar in der pathologischen Empfindung enthalten ist, zu einer sekundären Angst, welche die eigentliche dynamische Wurzel der Herzneurose ist. Der Kranke gerät in den Griff seines eigenen Herzens, das zur zentralen Situation seiner Existenz wird, in die er sich völlig verwickelt.

Fast unentrinnbar ist dieses Zusammenleben mit dem kranken Organ; man kann ihm schwer entgehen, denn das «andere», das Bedrohende, Beängstigende ist nicht ein Objekt, sondern gerade – das Eigene; mein Herz, das eigene Herz.

Zusammenfassung: Die Einführung des Subjektes in die Pathologie (v. Weizsäcker) hat eine grundsätzliche Wendung im medizinischen Denken her-vorgebracht. Der Kranke, und so auch der Herzkranke, gibt seinem Leiden eine individuelle Prägung, die ebensosehr von ihm als Person abhängig ist wie von den anatomischen und physiologischen Voraussetzungen des erkrankten Organs. Die Tatsache, daß eine körperliche Anstrengung, aber auch emotionelles Geschehen, sich am Herzen auf die gleiche Weise äußert, ferner die Erkennung der Automatic, bringen in die Beziehung des Menschen zu seinem Herzen jenes Erlebnis der Ambivalenz «Fremd-Eigen» deutlicher als bei andern Organen zum Ausdruck. Die Angst des Angina-pectoris-Patienten, zuerst in der pathologischen Empfindung bedingt, transformiert sich zu einem weitgehend selbständigen Angsterlebnis, dem der Kranke schließlich nicht mehr entrinnen kann.

Cardiologia 16 (1950), 263-268.


[1] V. von Weizsäcker: Studien zur Pathogenese, Leipzig 1935, S. 36.

[2] V. von Weizsäcker: Fälle und Probleme, Stuttgart 1947, S. 148 ff.

[3] J. P. Sartre: L’Etre et le néant, Gallimard 1943, S. 401.

Hier der Text als pdf.

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