Von Manfred Seitz
I
Liebe Gemeinde! Zunächst einmal und ganz kurz: Was macht man eigentlich mit einem Bibelwort, das einem am Anfang eines Weges gegeben wird? Was haben Sie mit Ihrem Taufspruch, mit Ihrem Konfirmationsspruch, die Verheirateten mit ihrem Trauspruch gemacht? So waren sie doch nicht gemeint: gehört, gegeben und dann vorbei, vergessen. Das sind doch Zu-Sprüche aus anderen Ursprüngen, als wir sie sprechen, Weisungen, die etwas mitteilen, Lebensdeutungen, die dauern wollen! Also: was machen wir mit einem Bibelwort, das am Anfang eines Weges an uns ergeht?
Antwort: Man nimmt es in die Hand, wie einen Stab. So steht es im berühmten 23. Psalm: „Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.“ Es muß ja kein finsteres Tal werden – das neue Semester; aber das Wort an seinem Anfang ist wie ein Stab. Ihn in die Hand nehmen heißt: Man kann es mitnehmen, aufschreiben, erinnern, sich vorsagen, mitgehen lassen und mit ihm leben. Es wäre dann ein „Lebenswort“ für die nächste Zeit.
II
In diesem Lebenswort geht es um unsere Lebensführung; sagen wir – um die Latte nicht zu hoch zu legen – in den nächsten vier Monaten. Das ist sein Thema. Genau betrachtet ist „Lehre mich tun nach deinem Wohlgefallen“ ein Gebet. Ein Gebet mit einem Thema; oder besser: mit einer bestimmten Bitte: „Dein guter Geist führe mich auf ebner Bahn.“ Wer führt aber dann? Ich – mein Leben; oder Gott – mich?
Nach unserer Lebensführung werden wir gefragt. Man muß das nicht gleich kirchlich verstehen. Wenn wir eine Stelle antreten, z.B. eine Assistentenstelle, wird von uns ein amtliches Führungszeugnis verlangt. Eine Institution bzw. eine Person soll über uns Auskunft geben.
Nicht genau; das ist meistens ja auch nicht möglich. Aber wenigstens, ob nichts gegen uns vorliegt und wir keine Straftaten begangen haben.
Bei dieser Sache mit dem Führungszeugnis geht man davon aus – und das ist auch ganz normal daß wir für unser Leben verantwortlich sind und es führen. In weiter Ferne steht dahinter eine Entdeckung des Geistes, die sich außerhalb des Neuen Testamentes bis in Catulls Carmina zurückverfolgen läßt: die Entdeckung, daß wir uns gleichsam selbst gegenübertreten, mit uns umgehen, unser eigenes Gegenüber sein und uns führen können wie einen kleinen Hund an der Leine.
Aber das ist nur die eine Seite der Lebensführung. Die andere ist hintergründiger. Man muß da etwas in sich gehen. (Da ist wieder dieses Gegenüber, das ich mir selber bin. Ich kann in mich hineingehen wie in ein Haus, um mich umzusehen.) Was sehe ich? Ich sehe, vor allem, wenn ich zurücksehe: Da haben andere mitgeführt: Menschen, die mich prägten, Freunde, die mir rieten, Hindernisse, die sich mir in den Weg stellten und Erlebnisse, die mich veränderten.
Aber auch das ist noch nicht alles. Zurückblickend erscheint mir vieles noch viel rätselhafter und unerklärlicher: daß alles so kam, wie es kam; daß ich so bin, wie ich bin; daß ich dieses Studium wählte und diesen Beruf ergriff; daß ich diesen Mann habe und diese Frau, aus Millionen Möglichkeiten – diese. Rilke rührte daran: „Auf welches Instrument sind wir gespannt? Und welcher Spieler hat uns in der Hand?“ Da kann einem schon die Frage kommen: Führen wir unser Leben, oder werden wir geführt?
III
Mit dieser Frage haben wir den Innenraum unserer Psalmstelle betreten. Wir sind nun sozusagen „drin“ und sehen uns um. Sie enthält zwei Bitten, dazwischen ein Bekenntnis.
Die eine: „Lehre uns tun nach deinem Wohlgefallen“ bittet um eine neue Qualität, um eine neue Beschaffenheit unseres Tuns. Was haben wir seit gestern, seit heute, ab morgen zu tun? Eine Vorlesung zu hö- ren, ein Seminar zu besuchen, ein Repetitorium zu absolvieren, eine wissenschaftliche Arbeit zu schreiben, einen Patienten zu behandeln, eine Analyse zu machen, eine Exkursion vorzubereiten, einen Fall zu lösen, ein Manuskript zu tippen, eine Haushaltsüberwachungsliste zu führen, eine Personalentscheidung zu treffen, ein Buch zu signieren usw. Im Vorlesungsverzeichnis steht noch mehr.
Natürlich gibt es noch eine Welt darüber hinaus: die Welt der Familie, der Mensa und einiger ungeliebter Menschen, die Welt der Gesellschaft und der Kirche, und die Welt, die in Heidelberg durch den „Roten Ochsen“ und in Erlangen durch den „Alten Simpl“ vertreten wird. „Tun“ meint also nichts Besonderes, sondern das, was wir täglich tun, freiwillig oder aufgetragen. Für dies alles, für die Gesamtheit unseres innerweltlichen Handelns wird eine neue Qualität erbeten: Es soll dem Wohlgefallen Gottes entsprechen, ihm gemäß und an ihm orientiert sein.
Was ist damit gemeint? Es ist nicht gemeint, wir müßten uns bei jedem Schritt anstrengen und uns so verhalten, daß wir Gott gefallen. Das wäre ja eine niederdrückende Forderung und überhaupt nicht zu verwirklichen. Sondern: „Wohlgefallen“ – das ist ein Wort aus der Weihnachtsgeschichte, eine aufrichtige Nachricht der Freude: „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen“. Gott schüttet sein Wohlgefallen über uns Menschen aus. Er äußert sich und geht aus sich heraus, so daß wir etwas von ihm erfahren; er entäußert sich und schenkt uns seinen Sohn. Hätte der Psalmbeter, der lange zuvor lebte, dies gehört und gewußt, hätte er staunend, aber mit denselben Worten geantwortet: Also „du bist mein Gott“.
Die Entäußerung Gottes geht noch viel weiter. Er geht noch viel geheimnisvoller und hautnäher aus sich heraus. Er geht in unser Leben hinein. Bevor wir – wenn sie durch die Stiftungsworte gesegnet sind – seine Schöpfungsgaben Brot und Wein zu uns nehmen, läßt er uns wissen: „Das ist mein Leib, für dich gegeben. Das ist mein Blut, für dich vergossen. Das ist mein für dich dahingegebenes Leben. Das bin ich als Gekreuzigter und als Erhöhter. Das bin ich für dich.“ Darauf kann ich mit den gereichten alten Worten nur noch glaubend sprechen und bekennen: „Du bist mein Gott!“ Das ist das Wohlgefallen Gottes. So sieht es aus. Und die Bitte lautet: „Dazu hilf mir, daß mein Tun darauf bezogen, daran orientiert sei und dadurch neu beschaffen.“
Die andere Bitte: „Dein guter Geist führe mich auf ebner Bahn“ verdeutlicht das. Sie weiß, daß allem, was wir anfassen, loslassen, unterlassen eine geistige Entscheidung vorausgeht, ein Urteil über eine Sache. Auch wenn wir spontan oder unbewußt handeln – es kommt immer aus dem Geist; aus unserem. Und der ist so, wie er ist. In diesen Geist soll Gottes Geist hineingehen und mich, der ich mein Leben führe, führen.
Was heißt das, und wie kann man sich das vorstellen? Geist, auch Gottes Geist, hat es immer mit dem Wort zu tun. Das hat er als sein „Fahrzeug“ (vehiculum) gewählt. Er kommt durch Worte, Rede, Sprache. Etwa durch so ein Bibelwort, das wir im Begriff sind, in uns aufzunehmen. So geht er hinein in unseren Geist. Durch die Ohren und durch’s Herz. Ganz menschlich. Dann ist er in uns und in unserem Geist; aber er vermischt sich nicht. Er bleibt Gottes Geist und ist nicht unser, sondern sein Geist. Und ist doch in uns drinnen und führt uns, die wir unser Leben führen, „… auf ebner Bahn“, d.h. auf der Straße der Gebote Gottes und im Raum der Worte Jesu.
Man kann’s nicht leichter sagen; denn es ist die Antwort auf die Rilke-Frage: „Auf welches Instrument sind wir gespannt? Und welcher Spieler hat uns in der Hand?“ Es ist nicht zu fassen. Er ist nicht zu fassen; aber er kann uns erfassen. Darum wird hier gebeten: „Dein guter Geist führe mich auf ebner Bahn.“ Oder mit anderen Worten – das ist der Sinn dieses Gebets mit dem Thema Lebensführung –: Laß mich als von dir Geführter mein Leben führen – die nächsten vier Monate und darüber hinaus!
Amen.
Quelle: Wolfgang Bub/Christian Eyselein/Günter R. Schmidt, Lebenswort. Erlanger Universitätspredigten. Manfred Seitz zum 60. Geburtstag, Erlangen: Junge & Sohn, 1988, S. 48-51.