Jürgen Roloff über Bilder der Kirche im Neuen Testament (1987): „Eine Kirche, die dasselbe sagt, was auch alle anderen sonst sagen, nur vielleicht ein wenig vorsichtiger und abgewogener, eine Kirche, die das gleiche tut, was auch alle sonst tun, nur vielleicht mit etwas mehr Skrupeln und etwas verhalte­ner, die macht nichts sichtbar von Gottes Herrschaft und kommender Welt. Ihr könnte es gehen wie dem salzlosen Salz, das man wegwirft und zertritt.“

Bilder der Kirche im Neuen Testament. Ein Synodalvortrag

Von Jürgen Roloff

Vor kurzem sagte ein Mann der kirchlichen Praxis zu mir: „Ihr Neutestamentler habt es gut, denn ihr könnt so vollmundig und ideal von der Kirche reden, weil die ganzen Probleme heutiger kirchlicher Praxis in der Heiligen Schrift ja noch nicht vorkommen.“ Mich hat dieses Wort beim Nachdenken über meine Aufgabe hier stets begleitet und, ich darf wohl sagen, auch ein wenig gequält: Daß eine evangelische Synode, auf deren Tagesordnung Fragen des Gemeindeaufbaus stehen, sich dabei auch eine halbe Stunde Zeit nimmt, um das zu hören, was die Schrift zum Thema zu sagen hat, das ist zunächst eine Reverenz vor dem Schriftprinzip, an das wir lehrmäßig gebunden sind. Aber wenn dieses Hören auf die Schrift unter der stillschweigenden Übereinkunft erfolgen sollte, daß wir es in der Schrift nur mit einem idealen Konzept von Kirche zu tun hätten, das sich dem Schwung und der Begeisterung einer grundlegenden Neuheitserfah­rung verdankt, aber durch eine fast zweitausendjährige Geschichte doch recht stark abgewetzt sei, so daß wir bei unseren Überlegungen und Planungen im Blick auf diese schwierige Größe „Kirche“ am Ende des 20. Jahrhunderts von dort her keine Hilfe zu erwarten hätten, so wäre diese halbe Stunde vertane Zeit.

Nun zeichnet gewiß das Neue Testament ein großes leuchtendes Bild von der Gemeinde. Aber dieses Bild ist weder Ausfluß eines übersteigerten Enthusiasmus einer Anfangszeit, noch ist es durch bestimmte einmalige gesellschaftliche Faktoren und Konstellationen bedingt. Aus dem, was das Neue Testament über die Gemeinde sagt, spricht vielmehr Entdecker­freude. Eine neue, durch das Heilsgeschehen in Christus begründete Möglichkeit heilvollen gemeinsamen Lebens wird erkundet, wird erprobt und in Gebrauch genommen. Die Kirche wird erkannt und erfaßt als ein Stück der endzeitlichen Neuschöpfung Gottes. Und wie von allen endzeit­lichen Heilsgaben Gottes, so gilt auch von ihr, daß sie nicht nur der Vergangenheit, sondern vor allem der Zukunft zugehört. Die Möglichkeiten dessen, was Gott in ihr gibt, sind nicht schon in den Anfangsjahren des Christentums erschöpft, diese Möglichkeiten liegen vielmehr noch vor uns als Angebot und als Verheißung. In diesem Sinn kann das neutestamentliche Zeugnis von der Gemeinde uns Mut machen. Es zeigt uns ein nach wie vor nicht ausgeschöpftes Angebot Gottes, das wir in Gebrauch nehmen dürfen.

In diesem Sinn – und nicht im Sinn eines nostalgischen Rückblicks auf verschlissene Ideale – möchte ich nun drei Bilder von Gemeinde, die mir im Neuen Testament besonders wichtig geworden sind, kurz mit Ihnen bedenken.

Im Mittelpunkt des ersten Bildes steht der Apostel Paulus. Das 20. Ka­pitel der Apostelgeschichte erzählt von seinem letzten Besuch in der von ihm gegründeten Gemeinde in Troas in Kleinasien. In der Nacht vor seiner Abreise feiert Paulus mit dieser Gemeinde Gottesdienst. Denn diese Nacht ist die Nacht, die den ersten Wochentag einleitet, den Tag des Herrn, dem der neue christliche Gottesdienst zugeordnet ist. Im Oberge­mach eines Privathauses hat sich die Gemeinde versammelt. Man steht dichtgedrängt, in dem kleinen Raum herrscht unerträgliche Enge, die Luft wird heiß und schwer durch die zahlreichen Kerzen und Lampen. Nur Paulus scheint von den äußeren Umständen unberührt. Er predigt die Heilsbotschaft, und über dem vielen, was er zu sagen hat, gehen die Stunden nur so dahin. Schon ist Mitternacht vorbei. Da kommt es zu einem Zwischenfall. Ein junger Mann – wir erfahren sogar seinen Na­men: Eutychus –, der offenbar den ganzen Tag schwer gearbeitet hat, hat den Kampf gegen die Müdigkeit verloren: der erste Kirchenschläfer! Vom Schlaf übermannt, stürzt er von der Fensterbrüstung, auf der er saß, nach außen und schlägt auf dem Hofpflaster auf. Eine Pause des Schreckens und der Betretenheit setzt ein. Gemeindeglieder stürzen herbei. Sie halten den jungen Mann für tot. Auch Paulus läuft hinunter, beugt sich über ihn: „Beunruhigt euch nicht. Er lebt.“ War es ein Bewahrungswunder? War es gar das Wunder einer Totenauferweckung? Wir erfahren es nicht, ja der Erzähler läßt durchblicken, daß auch Paulus selbst sich für diese Frage nicht interessiert hat. Als wäre nichts geschehen, kommt er nämlich nach diesem Zwischenfall zur Sache – zu seiner eigentlichen Sache – zurück: „Dann stieg er wieder hinauf, brach das Brot und redete mit ihnen bis zum Morgengrauen.“ Die Sache des Paulus: der Gottesdienst. Er verkündigt, er bricht das Brot, er feiert mit der Gemeinde das Mahl des Herrn.

Diese anekdotenhafte Erzählung will uns das zeigen, was für das Wir­ken des Paulus kennzeichnend und typisch war: Es ist die zum Gottes­dienst versammelte Gemeinde. Damit ist Richtiges getroffen. Denn tat­sächlich war Paulus wohl der, der das Prinzip der Ortsgemeinde als verbindliche Lebensform der Christen begründet und durchgesetzt hat. Es gab vor und neben ihm sehr wohl auch andere Formen christlichen Lebens, etwa die Anhängerschaft einzelner Charismatiker und wandern­der Propheten oder auch Ausrichtung auf Jerusalem als den zentralen Ort der Heilserwartung. Auch das Judentum hat örtliche Gemeinden gekannt and bestimmte Verfassungsformen dafür vorgesehen. Doch diese Gemeinden verstanden sich immer nur als Teile eines größeren Ganzen, nämlich der kultischen Gemeinde, die sich in Jerusalem versammelte. Für Paulus war es anders. Für ihn war die örtliche Gemeinde nicht Teil eines großen Ganzen, sondern sie selbst ist dieses Ganze, weil in ihr Christus selbst die Seinen versammelt. Es ist Paulus, der denn auch den Begriff ekklesia – den wir mit „Kirche“ oder „Gemeinde“ übersetzen können – zum Leuchten bringt. Ekklesia bedeutet zunächst die „Versammlung“.

Im Alten Testament ist es die Versammlung des Gottesvolkes, die Gemeinde Gottes, die damit bezeichnet wird. Es ist das Volk, das Gott selbst um sich schart durch sein Wirken und das bei der Durchsetzung seiner Herrschaft zu ihm steht. Wenn Paulus von der Ekklesia Gottes spricht, so meint er darüber hinaus das Volk, das Gott sich durch sein Handeln jeweils an einem Ort ganz konkret sammelt. Diese Sammlung geschieht dadurch, daß Jesus Christus die vielen Verstreuten zusammen­bringt, indem er sich für sie hingibt: „Dies ist mein Leib für die Vielen“. Oder, wie Paulus das Stiftungswort des Herrenmahls in seiner Bedeutung für die Kirche interpretiert: „Ein Brot ist es, darum sind wir viele ein Leib; denn wir alle haben teil an dem einen Brot“ (1.Kor 10,16). Kirche, Ekklesia Gottes entsteht nach Paulus dadurch, daß Christus die verstreu­ten Einzelnen, die Vereinzelten, um seinen Tisch sammelt und sie, indem er sich ihnen zu eigen gibt, zum endzeitlichen Volk Gottes macht. Biblisch, insbesondere paulinisch gibt es zwischen den beiden Worten „Kirche“ und „Gemeinde“ keinen Unterschied. Wenn wir uns heute angewöhnt haben, unter Kirche mehr die überregionale Organisation, unter Gemein­de dagegen die örtliche Einheit zu verstehen, so ist das verhängnisvoll und fordert zu einem Denkfehler heraus, weil damit auseinandergerissen wird, was nach Paulus wesenhaft identisch ist: als ob es Kirche jemals ohne die örtliche Versammlung des Gottesdienstes geben könnte! Nur dadurch entsteht Kirche, daß jeweils an einem Ort Menschen um den Tisch des Herrn zusammenkommen, um durch die Gabe, die sie von ihm empfangen, zusammengefügt zu werden. Natürlich hat Kirche immer eine überörtliche, weltweite Dimension, denn sie ist ja das Volk, das Gott sich aus allen Völkern sammelt. Aber diese weltweite Dimension wird aus der örtlichen gottesdienstlichen Versammlung gewonnen, weil allein hier die Schranken durchbrochen werden, die Menschen voneinander tren­nen.

Für Paulus ist der Gottesdienst nicht eine Veranstaltung unter vielen anderen, die in der Gemeinde stattfinden, sondern er ist das eine Gesche­hen, durch das Gemeinde entsteht, wächst und konkrete Lebensgestalt gewinnt. Man sollte beachten, daß der Apostel in diesem Zusammenhang das vielgeschundene Wort „Erbauung“ einführt. Er greift dabei zurück auf alttestamentliche Sprache, wo „bauen“ den Sinn von „aufrichten, zum Leben bringen“ hat und als ein Handeln Gottes an seinem Volk ausgesagt wird (Jer 24,6).

Gott selbst ist es, der sein Volk zum Leben bringt, und zwar durch das Geschehen des Gottesdienstes. Hier erbaut er Gemeinde. Dabei dürfen ihm Menschen helfen. Alle am Gottesdienst Beteiligten haben teil an dieser Aufgabe des Erbauens, wobei sie, um im Bild zu bleiben, den grundlegenden Bauplan Gottes nachvollziehen und realisieren. Gott will die Gemeinde zum Lebensbereich machen, in dem von Christus her ein neues Miteinander von Menschen möglich wird. So ist „Erbauen“ von Gemeinde ein vom Gottesdienst ausgehendes Handeln, in dem dieses Miteinander konkrete Züge gewinnt und sich als lebensgestaltende Kraft erweist.

Wie das gemeint ist, das könnte man beispielsweise fast von jeder Seite des 1. Korintherbriefes her zeigen, dessen zentrales Thema letztlich die Erbauung der Gemeinde vom Gottesdienst her ist. Immer wieder macht Paulus hier deutlich, daß im Gottesdienst die entscheidenden Weichen für das Gemeindeleben gestellt werden. So etwa, wenn er darauf besteht, daß hier alle Gemeindeglieder aktiv beteiligt werden und in Verantwortung füreinander handeln. Paulus will, daß im Gottesdienst ein Höchstmaß an sinnvoller, aufbauender Kommunikation geschieht. Er will, daß die Got­tesdienstteilnehmer aufeinander warten, einander begrüßen, einander Mut zusprechen, einander trösten, einander zurechtweisen, einander be­lehren, füreinander sorgen (1.Kor 14). Wie lebendig ist das doch alles! Andererseits ist es ihm unerträglich, wenn da, wie er am Beispiel des ekstatischen Zungenredens deutlich macht, etwas geschieht, was nur der geistlichen Selbstdarstellung eines einzelnen dient und wovon die anderen nichts haben (1.Kor 14,2-4). Ebenso unerträglich ist es ihm, wenn im Umfeld des Herrenmahls unbrüderliches Verhalten sich breit macht, wenn da in Korinth die sozialen Unterschie­de zwischen Reich und Arm demonstrativ ausgespielt werden, indem die Reichen die Wartezeit bis zum Beginn des eigentlichen Mahlgottesdienstes damit überbrücken, daß sie üppige Mahlzeiten miteinander halten (1.Kor 11,21): Das könnte ja ganz so aussehen, als sei das Herrenmahl ein von der Wirklichkeit abge­hobenes sakrales Geschehen, in dem der einzelne die Gemeinschaft mit je seinem Herrn nur als individuelles inneres Erlebnis gewinnt! Welch ein Mißverständnis, ja welch ein Mißbrauch wäre doch dies! Denn vergessen wäre damit, daß die Wirkung der Mahlgemeinschaft am Tisch des Herrn doch gerade darin besteht, daß die vereinzelten Vielen zueinander geführt werden zu der neuen leibhaften Gemeinschaft des Volkes Gottes.

Nach allem, was wir dem Neuen Testament entnehmen können, war dieses Konzept von Gemeinde aufs ganze gesehen wirksam und funk­tionsfähig. Dies gilt trotz aller Störungen und Spannungen. Ja, es hat den Anschein, als habe gerade dieses Konzept innerhalb der damaligen Gesellschaft, die ja in ihren Wanderungsbewegungen und ihren sozialen Desintegrationserscheinungen von unserer heutigen so verschieden nicht war, eine starke Faszination ausgestrahlt, und zwar bezeichnenderweise weniger in Gebieten mit gewachsener, traditionell geprägter Gesellschaftsstruktur als in den großen urbanen Zentren mit ihrem Gemisch von ethnischen Gruppen und ihrer diffusen gesellschaftlichen Schichtung. Es lohnt sich, darüber nachzudenken, daß das Christentum bis ins konstantinische Zeitalter hinein eine ausgesprochene Großstadtreligion gewesen ist. Diese Faszination für Städter könnte sehr wohl damit zu tun gehabt haben, daß man in der Gemeinde eine Kraft wirksam spürte, die die Menschen zu einem neuen Miteinander fähig machte und gesellschaftliche Schranken abbaute. Hier war eben „nicht mehr Jude und Grieche, nicht mehr Sklave und Freier, nicht Mann und Frau“, sondern alle wur­den hier „einer in Christus Jesus“ (Gal 3,28). Das Zentrum aber, von dem diese Kraft gesellschaftsverändernd ausging, war der Gottesdienst, die Tischgemeinschaft dessen, der sich für die Vielen hingegeben hatte.

Das zweite Bild von Kirche, das ich mit Ihnen kurz bedenken möchte, finde ich beim Evangelisten Matthäus: Kirche als Schar der dem Wort Jesu gehorsamen Jünger. Wobei ich, um den Sinn des Wortes „Jünger“ zu treffen, mit dem Matthäus die Glieder der Kirche kennzeichnet, eigentlich die deutsche Bezeichnung „Schüler“ wählen müßte. „Jünger“ sind dieje­nigen, für die Jesus der einzige maßgebliche Lehrer ist, weil er sie den unverbrüchlich geltenden Willen Gottes lehrt. Den Anfang des bekannten Missionsbefehls am Ende des ersten Evangeliums, den Luther übersetzt hat: „Gehet hin und lehret alle Völker“, muß man wiedergeben mit: „Gehet hin und macht zu Jüngern“ oder besser noch „zu Schülern“ „alle Völker, indem ihr sie all das zu befolgen lehrt, was ich euch befohlen habe“ (Mt 28,19).

In der Einleitung zur Bergpredigt nun hat Matthäus das Wesen der Jüngergemeinde besonders eindringlich, ja provokativ beschrieben, in­dem er einige Bildworte Jesu zusammenfügte und auf sie hin zuspitzte. Da wird nun diese Jüngergemeinde verglichen mit Salz und mit Licht: „Ihr seid das Salz der Erde. Wenn das Salz salzlos wird, womit kann man es wieder salzig machen? Ihr seid das Licht der Welt. Eine Stadt, die auf einem Berg liegt, kann nicht verborgen bleiben. So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen“ (Mt 5,13a.14.16). Salz, das nicht salzig ist, eine hochge­legene Stadt auf einer Bergkuppe, die das ganze Land überragt, von der man nichts sieht: welche unsinnige, absurde Widersprüche! Nicht minder unsinnig und widersinnig wäre eine Gemeinde, von deren Gegenwart in der Welt man nichts spürt und die man nicht sieht. Nicht spürbar, nicht sichtbar und damit im Widerspruch zu ihrem Wesen ist eine Gemeinde, die es am Lernen und Halten des Wortes Jesu fehlen läßt. Darin ist Matthäus mit Paulus einig, daß die Gemeinde ein Stück der neuen Schöp­fung Gottes ist, das hereinragt in diese« vergehende Welt. Was er aber nun mit besonderer Entschiedenheit betont, ist, daß dieses Neue als neu und provozierend sichtbar werden muß. Sichtbar aber wird es, indem die Schüler Jesu den Willen ihres Meisters tun und lehren: Da kann man jetzt schon etwas von der Zukunft Gottes sehen. Da wird jetzt schon deutlich, wo es mit der Welt nach dem Willen Gottes hinaus soll. Eine Kirche, die dasselbe sagt, was auch alle anderen sonst sagen, nur vielleicht ein wenig vorsichtiger und abgewogener, eine Kirche, die das gleiche tut, was auch alle sonst tun, nur vielleicht mit etwas mehr Skrupeln und etwas verhalte­ner, die macht nichts sichtbar von Gottes Herrschaft und kommender Welt. Ihr könnte es gehen wie dem salzlosen Salz, das man wegwirft und zertritt. Die Jüngergemeinde, von der Matthäus spricht, lebt keineswegs von der Gesellschaft isoliert. Sie hat sich nicht in ein Ghetto zurückgezo­gen. Sie identifiziert sich freilich auch nicht mit dieser Gesellschaft in der Weise, daß sie die Maßstäbe ihres Denkens und Handelns von ihr bezöge. Ihre Funktion für die Gesellschaft besteht darin, daß sie anders ist. In diesem Sinn ist die Gemeinde – hier wage ich das fatale Modewort – „alternativ“ zur Gesellschaft. Sie zeigt Gottes Alternative zu den Lebens­formen der vergehenden Welt. Sie weist hin auf das, was seit dem Kommen Jesu Christi in die Welt von Gott her möglich ist. In diesem Sinn ist sie Zeichen der Hoffnung. „So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen“ (Mt 5,16). Da wird also die Gegenwart der Gemeinde für die Menschen Grund zum Lobpreis. Matthäus rechnet damit, daß man etwas sieht an der Gemeinde, was für die Menschen neu und überraschend ist, und daß ihr Blick weitergeführt wird vom Staunen über dieses Neue hin auf die Erkenntnis dessen, der es wirkt und ermöglicht, nämlich Gottes selbst. Worin dieses Neue besteht, dafür bietet das Matthäusevangelium genügend Beispiele. Es besteht etwa darin, daß das Leben der Jünger nicht mehr durch Angst, Mißtrauen und Sorge geprägt ist (Mt 6,25-34). Oder darin, daß sie nicht der zwanghaften Vorstellung verfallen sind, durch Inbesitznahme von möglichst viel Welt sich die eigene Existenz sichern zu müssen. Oder darin, daß einer den anderen nicht als Objekt zur Steige­rung der eigenen Macht mißbraucht. Jesus hat sich zum Diener der Seinen gemacht; darum ist unter seinen Jüngern ein neuer Umgang miteinander möglich, in dem die Frage nach dem, was ich dem andern schuldig bin, die Frage, wie ich mit ihm fertig werde, verdrängt (Mt 20,20-28). In diesem Sinn ist die Jüngergemeinde des Matthäus geradezu „herrschaftsfreier Raum“ und steht in schroffem Kontrast zu den auf Herrschaft und Zwang sich gründenden Funktionsmechanismen menschlicher Gesellschaft. Matthäus vertraut darauf, daß dieses Anderssein der Gemeinde werbende Wirkung ausstrahlt. Missionarisches Zeugnis ist für ihn primär Lebenszeugnis. Auf unsere heutige Frage, wie missionarischer Gemeinde­auf­bau auszusehen habe, würde er uns antworten: Es genügt, liebe Freun­de, daß ihr das seid, wozu ihr gemacht seid, nämlich Jünger Jesu. Aber, bitte, seid es so, daß es erkennbar wird!

Nun müßte man freilich realitätsblind sein, wenn man übersehen woll­te, daß die matthäische Struktur der Jüngergemeinde nicht auf eine Groß­kirche übertragbar ist. Das ist nicht erst heute unmöglich. Das Problem, das hier liegt, wurde schon in der Alten Kirche erkannt. Was Matthäus im Auge hat, ist eine Gemeinde der kleinen Schar derer, die zur radikalen Nachfolge bereit sind. Eine Gemeinde, die man soziologisch eher dem Typ „Sekte“ zurechnen könnte. Aber ist mit dieser Feststellung sein theologisches Anliegen von Kirche als Jüngerschaft, die durch ihre Exi­stenz der Welt zeichenhaft Zeugnis gibt von Gottes Herrschaft, wirklich diskreditiert? Ich meine: nein! Auch in einer großen Kirche müßte Raum und Möglichkeit für solches zeichenhaftes und radikales Zeugnis gelebter Jüngerschaft sein. Unsere reformatorische Tradition hat die Möglichkeit und Notwendigkeit von besonderen Formen radikal gelebten Christen­tums in der Kirche bestritten, aus dem seinerzeit sicherlich begründeten Verdacht der Werkgerechtigkeit. Es wäre nun ernsthaft zu fragen, ob wir damit auf die Dauer nicht doch Wesentliches verloren haben. Und es wäre zu überlegen, wie solches radikales Lebenszeugnis heute wieder unter uns Raum gewinnen könnte.

Doch wenden wir uns noch kurz einem dritten Bild von Kirche zu! Ich finde es im letzten Buch der Bibel, der Johannesoffenbarung, die, wie ich meine, für unser Nachdenken über Weg und Auftrag der Kirche beson­ders wichtige, weil sehr kritische Impulse geben könnte. Und zwar des­halb, weil die Offenbarung unter allen neutestamentlichen Schriften am stärksten das Verhältnis der Kirche zur Gesellschaft reflektiert. Wobei diese Kirche die der dritten Generation ist. Das Evangelium hat für sie bereits seinen Neuheitscharakter verloren. Es ist in Gefahr, zu einem Stück selbstverständlicher Tradition zu werden. Zugleich aber ist diese Kirche auf der Schwelle dazu, sich in der Gesellschaft zu etablieren, vielleicht sogar zur gesellschaftlichen Macht zu werden.

Eigentlich haben wir hier ein Doppelbild vor uns, dessen beide Teile geradezu durch den Kontrast, in dem sie zueinander stehen, definiert werden. Die eine Bildhälfte begegnet uns im 13. Kapitel. Da ist die Rede von einem glänzenden und intensiven religiösen Leben, das die gesamte Gesellschaft durchdringt und das sie einigende weltanschauliche Band darstellt. Eine feierliche Liturgie wird zelebriert, in deren Lobgesänge alle Menschen begeistert einstimmen; keiner will da beiseitestehen, alle überfällt es wie ein Rausch, sich beteiligen zu dürfen an der Verehrung der höchsten, die ganze Welt vereinenden Gottheit. Zeichen und Wunder geschehen im Namen dieser Gottheit, und dadurch wird die ekstatische Begeisterung sehr gesteigert. Priester und Religionsfunktionäre stehen bereit, um den Kult noch eindrucksvoller zu gestalten und seine propa­gandistische Wirkung zu erhöhen. Und demgegenüber ein Kapitel zuvor, im 12. Kapitel, das Kontrastbild: Draußen in der menschenleeren feindli­chen Wüste steht eine einsame Frau, um die sich ihre verängstigten Kinder scharen. Sie ist in tödlicher Gefahr, bedrängt von einem Drachen, der sie vernichten will. Niemand kommt ihr zu Hilfe, ihre Situation ist aussichts­los.

Wo ist hier die Kirche Jesu Christi? Sie ist, daran ist kein Zweifel möglich, identisch mit dieser Frau in der Wüste, nicht mit den Inszenato­ren und Teilnehmern des glänzenden gesellschaftlichen religiösen Lebens. Der die Frau bedrängende Drache ist zugleich der Urheber und Inszenator des die Menschheit umfassenden und einenden religiösen Kults. Gewiß steht hinter dieser bildhaften Situationsschilderung zunächst ein brisanter zeitgeschichtlicher Bezug auf die Situation im Osten des römischen Reichs im Zeitalter des Kaisers Domitian (ca. 90 n. Chr.). Da wird Stellung genommen zum behördlich verordneten Kaiserkult, indem gezeigt wird: Auftrag und Zeugnis der Kirche Jesu Christi sind damit unvereinbar. Für diese Kirche gibt es keine Möglichkeit des Kompromisses mit dieser religiösen Ideologie, die einen Men­schen als Herrn der Welt feiert. Denn ihr Auftrag ist es, den wahren Weltherrscher Jesus Christus zu proklamie­ren. Und darum muß ihr Weg ein Weg des leidenden Widerstandes sein. Sie muß Anfeindung und Isolation auf sich nehmen.

Aber das Doppelbild der Apokalypse läßt sich nicht auf die Deutung dieser zeitgeschichtlichen Situation beschränken. Es wird darüber hinaus zur Wesensschau einer Grundkonstellation, in der sich die Gemeinde Jesu Christi immer wieder vorfindet; denn dieser Kaiserkult damals war letzt­lich nur ein zugespitztes Symptom, in dem das Selbstverständnis der damaligen Gesellschaft Ausdruck fand, einer Gesellschaft, die an die unumgrenzte Möglichkeit der Beherrschbarkeit der Welt durch den Men­schen glaubte, die sich auf einem unumkehrbaren Weg zu immer grö­ßerem Fortschritt wähnte und dabei menschlicher Erkenntnisfähigkeit und moralischer Kraft nahezu alles zutraute. Seine einende und bewegen­de Gewalt fand dieser Glaube in bestimmten religiösen Formen. Was war denn der als göttlicher Weltherrscher verehrte Kaiser schon anderes als letzten Endes Symbol des Allmachtbewußtseins dieser Gesellschaft? Ich fürchte, wir müssen heute nicht weit gehen, um ähnliche Formen gesell­schaftlichen Bewußtseins zu finden, und zwar nicht nur da, wo man den römischen Kaiserkult durch einen quasi-religiösen Kult von Diktatoren ersetzt hat, sondern überall da, wo das Bewußtsein menschlicher Allmacht und Fähigkeit zur unumschränkten Weltherrschaft, dieses Hochgefühl der Machbarkeit aller Dinge, zur bestimmenden Kraft menschli­chen Miteinanders geworden ist. Gerade eine solche Gesellschaft braucht ihre religiösen Komponenten. Sie ist darauf angewiesen, daß ihr Selbstbewußtsein sakral überhöht wird. Und wenn es kein anderer tut, schafft sie sich dazu notfalls ihre Liturgien selbst.

Es macht mich nachdenklich, daß das letzte Buch der Bibel den religiösen Kult der Gesellschaft bis in die Einzelheiten hinein darstellt als Ab­klatsch, als schlechte Kopie christlicher Lebensformen und vieler gottes­dienstlicher Ausdrucksformen. Die Religion, in der die Gesellschaft sich selbst feiert, mit der sie ihr Lebensgefühl erhöht, sieht dem Christentum zum Verwechseln ähnlich. Ja, wir müssen aufgrund kirchengeschichtli­cher Erfahrungen, die noch nicht weit zurückliegen, erkennen, daß die Kirche oft der Versuchung erlegen ist, sich als Hilfsorgan zur Ausgestal­tung und religiösen Überhöhung des jeweiligen gesellschaftlichen Lebens­gefühls zur Verfügung zu stellen. Wo aber das geschieht, wird sie trotz äußerer Intaktheit ihrer Formen, trotz imponierender Selbstdarstellung zur Pseudokirche, zum falschen Abklatsch der wahren Kirche Jesu Chri­sti.

Also ein deutliches Warnzeichen: Nicht darin liegt die Chance der Kirche, daß Mensch und Gesellschaft vielleicht auch heute „unheilbar religiös“ sind. Denn solche Religiosität könnte letztlich nichts weiter sein als das Bedürfnis der Gesellschaft, ihren Allmachtsanspruch zu Überhö­hen und ideologisch abzusichern. Die Zukunft der Kirche liegt nicht darin, daß es ihr gelingt, in der Gesellschaft Marktlücken für Religion zu entdecken und sie mit geschicktem Management zu besetzen, sondern allein darin, daß sie sich an den Ort stellt, den ihr Gott selbst zugewiesen hat. Dies ist kein bequemer Ort. Es ist eben – mit dem Bild der Apokalypse gesprochen – die Wüste, oder – um dies Bild aufzulösen – es ist die Position der kritischen Außenseiterin, die auf nach menschlichen Krite­rien ausweglosem Posten ausharrt, um ihren Auftrag an der Welt zu erfüllen. Dieser Auftrag besteht darin, gegenüber der die Herrschaft des Menschen und seine Macht feiernden Gesellschaft Jesus Christus zu bezeugen, und zwar als den Herrn der Welt und der Geschichte. Sie ist dazu da, das zu verkünden, was sonst verschwiegen wird, daß sich durch Gottes Handeln in Jesus Christus die Situation in der Welt verändert hat, weil nun sichtbar ist, worauf es mit dieser Welt nach Gottes Willen hinaus soll und daß Christus selbst die Geschichte dieser Welt auf dieses Ziel hinführt. Und sie wird es wagen, ihren prophetischen Auftrag wahrzu­nehmen, um zu zeigen, wie Menschen mit ihrem Verhalten diesem Ziel Gottes entsprechen können, und zugleich kritisch aufzudecken, wo menschliches Verhalten sich diesem Ziel Gottes feindselig in den Weg stellt. Die Kirche der Apokalypse steht nicht in desinteressierter Distanz zur Gesellschaft, so wenig wie die des Matthäus. Sie sieht ihre Funktion ganz auf die Gesellschaft bezogen, gerade weil sie weiß, daß das Ziel Gottes die Schaffung eines neuen heilvollen Miteinanders von Menschen ist, die endzeitliche Polis, die Stadt der Heilszeit (Offb 21). Und weil sie weiß, daß sie selbst schon in ihrer irdischen Existenz auf dieses Ziel hin lebt. In solchem eigentlichen Sinn des Wortes ist ihre Botschaft und Funktion eine politische, d.h. auf das Miteinander von Menschen ausge­richtet. Würde sie sich nur als Sachwalterin der religiösen Funktionen der Gesellschaft verstehen, würde sie sich mit dieser Gesellschaft identifizie­ren, so könnte ihr das zwar unangefochtenen Bestand sichern, aber wäre sie dann noch Kirche Jesu Christi?

Drei Bilder, drei Konzeptionen von Kirche habe ich versucht vorzufüh­ren: Kirche als vom gottesdienstlichen Geschehen her konstituierte neue Gemeinschaft, Kirche als Jüngergemeinschaft, die der Welt das Zeugnis der alternativen Lebensmöglichkeit von Gott her nicht schuldig bleibt, und Kirche als kritische, gesellschaftsbezogene Kraft, die den Anspruch Jesu Christi auf die Welt zur Sprache bringt. Ich hoffe, es ist deutlich geworden, daß diese drei Konzeptionen nicht im Widerspruch zueinander stehen, sondern eng aufeinander bezogen sind, indem sie jeweils eine Möglichkeit dessen, was Kirche sein darf, herausstellen. Worin sie über­einstimmen, ist dies, daß sie uns ermutigen, ganz das zu sein, was wir nach dem Willen Gottes – nicht sein sollen, sondern sind: Erstlingsfrucht des Werkes Jesu Christi und Zeichen der neuen Welt Gottes.

Bibelarbeit vor der Landessynode der Evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern am 30. 3. 1987. Der Vortragsstil ist unverändert beibehalten.

Quelle: Jürgen Roloff, Exegetische Verantwortung in der Kirche. Aufsätze, hrsg. v. Martin Karrer, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1990, S. 221-230.

Hier der Text als pdf.

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